Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Trotz des soeben von Ihnen, Herr Präsident, gegebenen Hinweises, daß es sich heute nicht nur um den vorliegenden Antrag des Bundeskanzlers handelt, sondern daß es im Grunde eine gesamtpolitische Debatte ist, habe ich erhebliche Zweifel, ob vieles, was in den letzten zwei Stunden hier gesagt wurde, mit dem Ernst der Stunde, mit dem Ernst der Entscheidung, die der Deutsche Bundestag als, wie Sie mit Recht, Herr Dregger, gesagt haben, zweites prüfendes Verfassungsorgan, mit der freien Stimmabgabe seiner Mitglieder zu treffen hat, überhaupt in Zusammenhang stehen kann.
Ich habe leider sehr wenig das Wort Verfassung und Grundgesetz, aber sehr viel das Wort Wahlkampf gehört.
Ich habe ein bißchen den Eindruck, dies ist schon
sozusagen eine vorbereitende Wahlkampfveranstaltung gewesen, obwohl jeder gleichzeitig gesagt hat,
es müsse überhaupt erst einmal entschieden werden, ob dies der richtige Weg zu den gewünschten Neuwahlen sei, und der Bundespräsident sei völlig frei in seiner Entscheidung.
Trotzdem hat man hier Vergangenheitsbewältigung, Schuldzuweisungen, Programmpunkte nach dem 6. März, und was weiß ich alles, ausgetauscht, als ob alles schon eine beschlossene Sache wäre und als ob dieses Parlament eigentlich nur — ich sage das sehr ernst — die Aufgabe hätte, bestimmten Vorstellungen der Parteispitzen zu folgen,
als ob dieses Parlament, wir alle, meine Damen und Herren, nicht auch eine eigenständige Kontrolle über die Wege hätte, als ob wir nicht auch die Aufgabe hätten, festzustellen, ob das, was vorgeschlagen ist, wirklich so verfassungsunbedenklich ist, wie es hier von vielen dargestellt wird.
Ich bin Ihnen, Herr Bundeskanzler, sehr dankbar, daß Sie in Ihrer Begründung wirklich nur kurz und knapp Ihre Vorstellungen zu dieser Antragstellung vorgetragen haben. Damit sollten wir uns auseinandersetzen, und dies ist auch der Grund, weshalb ich mich hier nicht namens meiner Fraktion, sondern persönlich zu Wort gemeldet habe. Persönlich habe ich das aus einer tiefen Sorge als ein Mitglied dieses Hauses getan, das heute und hier nach über 21 Jahren wahrscheinlich seine letzte Debattenrede hält, persönlich aus der Erfahrung eines der nicht mehr allzu vielen Mitglieder dieses Hauses, die noch das Ende der Weimarer Republik, die damalige politische Instabilität, die mit zu vielem geführt hat, auch im familiären Bereich hautnah miterlebt haben, als ein Mitglied dieses Hauses, das die zwölf Jahre Hitler-Diktatur hautnah miterlebt hat und das dieses Grundgesetz, wie es damals geschaffen wurde, als eine Basis ansah, gebaut auf der Erfahrung derer, die damals das alles auch so miterlebt hatten, um für die Zukunft Stabilität für diesen Staat in bestimmten Legislaturperioden zu erreichen, um zu verhindern, daß sich möglicherweise wieder einmal durch instabile politische Verhältnisse, durch häufigeres Wählen und dergleichen mehr in Krisenzeiten schlimme Folgen ergeben.
Aus dieser Sicht möchte ich einige Bemerkungen machen, ehe ich mich zu meinem Abstimmungsverhalten äußere, wobei ich gleich — ich glaube, ich darf das sagen — feststellen möchte, daß diese Sorge, die ich habe, viel mehr Mitglieder dieses Hauses beschäftigt, als es in der Öffentlichkeit zum Ausdruck kommt,
daß viel mehr Mitglieder dieses Hauses sich Sorgen über die Folgen einer solchen Entscheidung machen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben als erstes gesagt: Ich will den Weg zu Neuwahlen öffnen. Das wurde hier auch von allen Seiten gesagt, und ich schließe mich dem an.
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1982 8961
Schmidt
Nach den Versprechungen, die seinerzeit abgegeben und mehrmals wiederholt worden sind, ist die Einlösung oder Nichteinlösung dieses Versprechens zweifellos eine Frage, die den Wähler draußen sehr, sehr stark beschäftigt.
Aber man muß natürlich darüber diskutieren können und auch verfassungsrechtlich ein wenig prüfen dürfen, ob der Weg dorthin nicht zumindest verfassungsschädlich ist,
Ob der Weg dorthin nicht zumindest am Rand der Verfassung entlang und möglicherweise in Zukunft zu anderen Entwicklungen führt.
Der Wähler hat Anspruch darauf, daß ein ihm so deutlich gegebenes Versprechen eingelöst wird. Er hat aber auch Anspruch darauf, daß diejenigen, die es einlösen, nicht möglicherweise dabei die Verfassung beschädigen und sich hinterher Konsequenzen daraus ergeben.
Hier wurde ja vorhin praktisch die Haushaltsdebatte dieser Woche in ihren wichtigsten politischen Aussagen wiederholt. Hier wurde ja noch einmal dargestellt, was in dieser Woche hier gesagt wurde. Was muß sich eigentlich der Wähler draußen, was muß sich eigentlich derjenige, der nicht hier im Hause, aber am Fernsehschirm die letzten drei Tage erlebt hat, sagen, wenn er heute wieder am Fernsehschirm sitzt und erfährt, daß, nachdem hier die Handlungsfähigkeit einer stabilen Regierung eine Woche bescheinigt wurde, nachdem gestern durch ein hohes Abstimmungsergebnis eine komfortable Mehrheit für den Haushalt 1983 hier vorgelegt und somit die Handlungsfähigkeit für 1983 eigentlich in den Grundzügen festgelegt wurde, plötzlich diese Mehrheit nicht mehr vorhanden ist, daß der Bundeskanzler, der gestern noch das große Vertrauen für den Haushalt, den er und seine Regierung vorgelegt haben, bekommen hat, heute plötzlich das Vertrauen der ihn tragenden Mehrheit nicht mehr bekommt. Er muß sich doch die Frage stellen — das ist doch einer der Punkte —: Ist es denn überhaupt noch richtig, daß hier die Vertrauensfrage in dieser Form gestellt werden kann? Ist es denn überhaupt richtig, ist es nicht verfassungsrechtlich zumindest sehr bedenklich, wenn hier der Bundeskanzler — Herr Bundeskanzler, dies ist kein Angriff gegen Sie; denn es ist ja ein vereinbartes Verfahren — sozusagen einen Antrag vorlegt, nachdem vorher die Fraktionen und Parteien mit Mehrheit beschlossen haben, diesem Antrag nicht zuzustimmen? Ich spreche in diesem Fall einmal für die Mehrheit; denn die fingierte Vertrauensfrage ist ja im Zusammenhang mit einer Vereinbarung zwischen dem Bundeskanzler und den ihn tragenden Fraktionen und Parteien zu sehen. Was muß sich eigentlich der Wähler draußen fragen, der nun plötzlich ab morgen — oder ab 6. Januar oder vielleicht auch gar nicht — weiß, daß am 6. März gewählt wird, wenn er feststellt, daß eine Mehrheit, die gestern noch 266 Stimmen für den Haushalt abgab, heute dem Bundeskanzler das Vertrauen nicht mehr ausspricht? Ist das vielleicht Glaubwürdigkeit für dieses Parlament, meine Damen und Herren?
Hier stehen doch zwei Dinge im Raum: auf der einen Seite das Erfüllen eines Versprechens, um glaubwürdig zu bleiben, und auf der anderen Seite die Glaubwürdigkeit der Verfassung, wenn die Gefahr droht, daß die Fakten auf den Kopf gestellt werden. Es steht doch fest, daß die jetzige Bundesregierung legal zustande gekommen ist. Es steht fest, daß diese Bundesregierung — in der letzten Woche ist das noch einmal deutlich geworden — eine volle Handlungsfähigkeit hat, daß es nicht so ist — Herr Bundeskanzler, ich sage das, weil Sie 1972 angesprochen haben — wie 1972, wo es eben keine Mehrheit mehr für den amtierenden Bundeskanzler gab und sich eben das Problem der Neuwahl stellte.
Ich habe bisher noch nirgends in der Verfassung feststellen können, daß es befristete Regierungen geben kann,
daß es befristete Legislaturperioden auf Grund von Parteibeschlüssen geben kann. Oder soll das, meine Damen und Herren — dies ist eine Frage, die das Parlament mit entscheiden soll —, vielleicht Zukunftspraxis werden? Wenn ich heute schon lese und höre, man könne ja einmal eine befristete Große Koalition schließen — so Herr Fehrenbach vor kurzer Zeit —, dann ist doch dieser Begriff draußen schon ein Begriff für die Zukunft. In Zukunft brauchen wir dann gar keine nach dem Grundgesetz befristeten Legislaturperioden mehr, sondern können uns selbst Fristen setzen.
— Natürlich. Ich hoffe, dazu etwas beitragen zu können. Denn ich habe den Eindruck — auch die Debatte hat das gezeigt —, daß die verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch problematischen Fragen in diesem Bereich in allen Fraktionen zu wenig diskutiert worden sind. Ich kann nicht ganz so, Herr Kollege Ehmke, über die Interna der SPD-Fraktion berichten.
Ich war z. B. sehr beeindruckt, daß die Vereinigung für Parlamentsfragen hierzu zum richtigen Zeitpunkt eine Diskussion durchgeführt hat. Ich habe es allerdings bedauert, daß man die Mitglieder des Bundestages in dieser Abendveranstaltung an einer oder höchstens zwei Händen abzählen konnte. Man hätte dort manches über die verfassungsrechtliche Problematik — von „verfassungswidrig" auf der einen Seite bis hin zu „verfassungsunbedenklich" auf der anderen Seite — hören können und vieles über Verfassungsschädlichkeit vielleicht noch dazulernen können.
Meine Damen und Herren, man kann über die heutige Entscheidung, die wahrscheinlich vorpro-
8962 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1982
Schmidt
grammiert ist, sagen: Dies ist eine Einmaligkeit, das wird nie wieder vorkommen. Aber ich warne aus der Sorge heraus, die ich vorhin eindeutig klargelegt habe, davor, daß mit der derartigen Bewegung des Art. 68 für zukünftige Regierungen — es muß gar nicht die nächste sein, es kann auch die übernächste oder auch die überübernächste sein — eine Prämie für die legale Mehrheit in der Auslegung des Art. 68 verankert wird. Eindeutig hat dann eine Mehrheit, mag sie aussehen, wie sie will, die Möglichkeit, über diesen Weg, der heute hier beschlossen werden soll, auch in Zukunft Neuwahlen zu einem anderen Zeitpunkt herbeizuführen, als er eigentlich vom Grundgesetz vorgesehen ist. Warum haben denn die Väter des Grundgesetzes hier gewisse Schranken gesetzt? Nicht nur, weil sie die Erfahrungen der Weimarer Republik hatten, doch auch, weil sie die Erfahrungen in den westlichen Demokratien in Europa hatten und haben: 42 Regierungen in Frankreich, Instabilität in Italien durch laufende parteipolitische Schwierigkeiten mit den Regierungen. Es war doch überhaupt ein Stück Fundament für den Aufbau nach 1949, daß es eben nie kurze Legislaturperioden gab, daß eben immer vier Jahre lang durchregiert werden konnte. Dadurch war Stabilität beim Wiederaufbau möglich.
Wenn wir die Vertrauensfrage gemäß Art. 68 sozusagen auch zu einer halben Mißtrauensfrage machen — es ist eine Vertrauensfrage, die heute gestellt wird, und das Mißtrauen wird ausgesprochen —, dann wird eines Tages Art. 68 in seiner Verfassungswirkung vor Art. 67 rangieren. Ich frage mich, ob dies gut ist für die Zukunft dieses Parlaments, für die Zukunft der parlamentarischen Demokratie. Ich frage mich — ich glaube, meine Damen und Herren, jeder von Ihnen muß sich das fragen —, ob der einmal beschrittene Weg von der repräsentativen Demokratie, vom repräsentativen System zum plebiszitären System nicht eines Tages nach dem Motto „Die ich rief, die Geister, werd' ich nun nicht los" zu einem Dauerweg wird. Ich fürchte, daß solche Gefahren auftauchen; sie können sehr schnell auftauchen.
In den Debattenbeiträgen vorhin ist sehr viel darüber gesagt worden, daß sich die Parteienlandschaft hier nach dem 6. März möglicherweise ändert. Dann kann es schon sehr leicht möglich sein, daß es schwierig werden wird, eine stabile Regierung zu bilden. Nicht umsonst reden die einen von Großer Koalition, die anderen von Unterstützung der stärkeren Minderheit, einfach um dann regieren zu können, wenn es so kommt. Das kann man doch aber dann nicht vier Jahre lang machen. Dann hat man über das jetzt im Rahmen von Art. 68 gewählte Verfahren natürlich wiederum die Möglichkeit, die Dinge befristet zu gestalten.
Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich Sie alle noch einmal sehr herzlich bitten, genau darüber nachzudenken, welche Entscheidung Sie nachher treffen. Es gibt nicht viele Möglichkeiten. Es gibt die Möglichkeit — ich sage das sehr offen —, daß, Herr Bundeskanzler, was ich begrüßen würde, obwohl ich es seinerzeit nicht getan habe, Ihnen das Vertrauen ausgesprochen wird und so der Weg über eine verfassungsbedenkliche Regelung nicht gegangen wird. Dann gibt es für Sie die Möglichkeit, einen anderen Weg zur Erfüllung des Versprechens zu wählen. Für mich, meine sehr verehrten Damen und Herren — das ist meine persönliche Entscheidung —, gibt es nur einen Weg, und in diesem stimme ich aus unterschiedlichen Motiven mit Ihnen überein, Herr Bundeskanzler: Ich werde mich wegen des von mir nicht gebilligten Verfahrens an dieser Abstimmung nicht beteiligen. Ich möchte nicht schuld sein, wenn die Folgen, die ich hier vorgetragen habe, eines Tages über diese Republik kommen. — Vielen Dank.