Danke, Herr Präsident.
Ich möchte das begründen. Ich spreche persönlich, aus eigenem Erleben, auch aus meinem eigenen Leben heraus und in großer Sorge. Vor über 20 Jahren habe ich gemeinsam mit einem Hamburger Freund in der Hamburger Innenstadt die erste Deutschschule für Gastarbeiter ins Leben gerufen. Seither verfolge ich mit Hoffen und Bangen die Entwicklung. Sie hatte gute und schlechte Phasen, sehr gute Phasen für unser Volk, in letzter Zeit aber auch schlechte. Seit einiger Zeit nämlich, meine Damen und Herren, kriecht überall im Lande die Angst vor dem Problem hoch. Niemand darf diese Angst mißbrauchen. Immer war es der entscheidende Prüfstein für die geistig-moralische Kraft der parlamentarischen Demokratie, wie sie mit Minderheiten, die an der Wahl nicht teilnehmen können, umgeht.
Es ist in den vorausgegangenen Kommunal- und Landtagswahlen möglich gewesen, gemeinsam solche Gruppen zu bekämpfen, die aus den hier arbeitenden Ausländern politisches Kapital für ihre Ziele schlagen wollen. Ich meine, das sollte auch so bleiben. Ich möchte eine vereinzelte Anzeige der Union aus dem Hamburger Bürgerschaftswahlkampf nicht überbewerten, in der es am 30. November 1982 geheißen hat:
Wenn es mit der Ausländerpolitik des Dohnanyi-Senats so weitergeht, werden wir bald 200 000 Ausländer in unserer Stadt haben.
Ich will das nicht überbewerten. Ich hoffe, daß dies ein Ausrutscher war. Ich bitte Sie, Herr Dr. Kohl, sehr eindringlich, als Vorsitzender der Union dafür zu sorgen, daß es zu solchen Entgleisungen im kommenden Bundestagswahlkampf nicht kommt,
wie ich auch alle Kollegen aus allen Fraktionen darum bitte, sich meinem Appell anzuschließen.
Ich vertrete einen Wahlkreis im Zentrum der Hamburger Arbeiterviertel, in dem es Quartiere gibt, in denen der Ausländeranteil bei 20 %, in Einzelfällen bei über 30 % liegt. Ich weiß, wovon ich rede.
Wir bürden, meine Damen und Herren — das ist meine persönliche Erfahrung —, relativ wenigen unserer deutschen Mitbürger in den entsprechenden Stadtteilen die konkreten Probleme des Zusammenlebens auf, Probleme am Arbeitsplatz, in den Schulen, in den Wohnstraßen, in den Häusern, bei der Veränderung der gewohnten Umgebung. Millionen, die persönlich nicht betroffen sind, verfolgen dieses politische Thema jedoch aus der Distanz, und die meisten von uns Abgeordneten gehen mit statistischen Zahlen um, ebenfalls ohne persönlich betroffen zu sein. Abstrakte, statistische Diskussionen lösen nicht die konkreten Probleme, sondern verschärfen sie.
Gefährlicher als die Probleme ist die abstrakte Angst vor ihnen, wo aktive Menschlichkeit gefordert ist. Und ich muß Sie, Herr Dr. Kohl, im Interesse dieser Menschlichkeit auch als Regierungschef bitten, die Formen des Wahlkampfes zu beachten. Wir hatten bei Äußerungen des Herrn Innenministers in der letzten Woche und auch bei Ihren eigenen Einlassungen am Anfang Ihrer Regierungszeit Anlaß zur Sorge, daß dieses nicht im Interesse der Menschlichkeit so geschieht, wie wir es alle wollen.
Ich möchte auf den eindringlichen Brief am 4. März 1982 von Frau Liselotte Funcke, der Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen, an den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt verweisen. Sie beschreibt die bedenkliche Stimmung bei all jenen Deutschen und Ausländern, die sich haupt- und ehrenamtlich um das Problem bemühen. Ich zitiere:
Wenn Kirchen und Synoden, Wohlfahrtsverbände, in- und ausländische Lehrerorganisationen, freiwillige Initiativgruppen aus ihrer jahrelangen Erfahrung heraus dringend vor weiteren Einschränkungen bei der Familienzusammenführung warnen, wissen gerade sie um die schwere Beeinträchtigung, die die bemühte Arbeit um die friedliche und menschliche Eingliederung dadurch erfahren würde.
Meine Damen und Herren, das Engagement all dieser Menschen und vieler mehr brauchen wir bei 4,7 Millionen Ausländern eben genauso wie bei 1 Million Ausländern oder einer halben Million Ausländern. Wir werden es in unserer Bundesrepublik Deutschland, die Teil eines aufgeschlossenen Europas sein will, immer brauchen, unabhängig von der Ausländerpolitik. Die Angst breitet sich aus bei vielen Ausländern und bei vielen deutschen Bürgern, aber eben auch bei Politikern, die zuweilen Angst haben, Wählerstimmen zu verlieren, wenn sie sich für dieses Problem, für die Ausländer, einsetzen. Bekämpfen wir, meine Damen und Herren, gemeinsam die aufkommende Angst! Verjagen wir das Gespenst der schrecklichen Vereinfacher! Denn kein Politiker nimmt der 70jährigen Rentnerin im Arbeiterstadtviertel Veddel in Hamburg ihre Ängste und Probleme mit den fünf türkischen Familien im
8960 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1982
Duve
Haus, wenn dieser Politiker verspricht, die Zahl der bei uns lebenden Ausländer um eine oder eine halbe Million zu verringern. Dadurch verringert er nicht die Probleme dieser Menschen vor Ort. Wir dürfen in der Bundesrepublik Deutschland nicht und vor allem nicht im Wahlkampf, einen Rausschmeißwettlauf dulden. Es darf kein Klima des Vor-die-Tür-Setzens entstehen, wenn wir mit den Bleibenden in Frieden leben wollen.
Helfen wir den deutschen Bürgern in Städten und Gemeinden und helfen wir den ausländischen Mitbürgern! Niemals dürfen die demokratischen Parteien diese Aufgabe zum Gegenstand des parteipolitischen Wettlaufs um die Gunst des Wählers machen.
Sie ist die seit 1945 größte moralische Herausforderung an unsere christliche — meine Damen und Herren, an unsere christliche — Solidarität und an unsere demokratische Kultur. — Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.