Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag des Bundeskanzlers nach Art. 68 des Grundgesetzes, die Abstimmung des Parlaments über diesen Antrag und die Stimmenthaltung der Koalition, damit der Bundespräsident den Bundestag auflösen und Neuwahlen herbeiführen kann, sind verfassungsrechtlich legitim sowie verfassungspolitisch und staatspolitisch geboten.
Von einem Anschlag auf das Grundgesetz oder von einer Manipulation unserer Verfassung kann keine Rede sein.
Mit ihrem Stimmverhalten verbinden die Abgeordneten der Koalitionsparteien nicht Kritik an der Person von Bundeskanzler Kohl oder an seiner Politik.
Sie unterstreichen mit ihrer Stimmenthaltung vielmehr die politische Notwendigkeit einer neuen demokratischen Legitimation durch den Wähler, nachdem der Auftrag dieser Koalition erfüllt ist.
Als eine Verfahrensregelung des Staatsorganisationsrechts legt Art. 68 des Grundgesetzes die Voraussetzungen, unter denen der Bundespräsident den Bundestag auflösen kann,
präzise fest.
Von den am Verfahren beteiligten drei Verfassungsorganen, Bundestag, Bundespräsident und Bundeskanzler, kommt der Willensbekundung der Mitglieder des Bundestages entscheidende Bedeutung zu. Nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes sind die Abgeordneten „nur ihrem Gewissen unterworfen". Die Zustimmung zum Antrag des Bundeskanzlers kann seitens der Abgeordneten aus unterschiedlichen Motiven verweigert werden. Sie ist keiner Kontrolle oder Überprüfung zugänglich. Die konkrete Entscheidung liegt in der freien Verantwortung jedes einzelnen Abgeordneten.
Für jene, die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des von uns beschrittenen Weges haben, sei auf die Entstehungsgeschichte des Art. 68 des Grundgesetzes hingewiesen. Die Materialien hierzu lassen deutlich erkennen, daß der Regierung die Möglichkeit eröffnet werden sollte, Neuwahlen herbeizuführen. Es war der SPD-Abgeordnete Dr. Katz, damals Justizminister von Schleswig-Holstein und von 1951 bis 1961 Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, der im Jahre 1948 die Aufnahme des konstruktiven Mißtrauens in das Grundgesetz beantragte. In der 33. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates erklärte er am 8. Januar 1949:
Der Sinn des Artikels 90 a
— im Vorentwurf des Parlamentarischen Rates war das konstruktive Mißtrauen in Art. 90 a geregelt —
ist, der Regierung die Chance einer Neuwahl zu geben, wenn sie es für gegeben erachtet.
Soweit das Zitat.
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1982 8957
Dr. Waigel
In einer Stellungnahme des Allgemeinen Redaktionsausschusses des Parlamentarischen Rates zu Art. 68 des Grundgesetzes finden Sie folgende Anmerkung:
Hier wäre als unter Umständen die Auflösung des Bundestages politisch dann wünschenswert, wenn nach der gesamten politischen Situation damit gerechnet werden kann, daß die schwache Mehrheit des alten Bundestages von einer starken Mehrheit im neuen Bundestag abgelöst wird.
— Diese aus der Entstehungsgeschichte gewonnenen Erkenntnisse bestätigen unsere Auffassung.
— Sie sollten sich wenigstens die unbestrittenen Materialien der Entstehung des Grundgesetzes ruhig anhören.
Mit dem als verfassungsgemäß einzuordnenden Weg der Abstimmung über die Vertrauensfrage schaffen der Bundeskanzler und das Parlament die Voraussetzungen für den Bundespräsidenten, das wichtigste Mitwirkungsrecht der Bürger innerhalb der Verfassung, nämlich Neuwahlen in einer schwierigen Situation, zu ermöglichen.
Es bleibt mir eigentlich unerfindlich, Herr Abgeordneter Brandt, warum Sie meinten, hinsichtlich des Wahltermins den Vorsitzenden der CSU apostrophieren zu sollen; denn Sie waren doch in der SPD mehrheitlich eben nicht bereit, eine Verfassungsänderung so rechtzeitig durchzuführen, daß Sie für dieses Verfahren hätte angewendet werden können.
Wenn Sie glauben, dem Bundesinnenminister unterstellen zu müssen, er greife in die Ermessensfreiheit des Bundespräsidenten ein, wenn er sage, er gehe davon aus, daß der Bundespräsident dem Ersuchen nachkomme, dann muß ich sagen: Er drückt doch nichts anderes aus als seine eigene Überzeugung von der Richtigkeit des Verfahrens. Es wäre ja traurig, wenn wir von der Richtigkeit dieses Verfahrens nicht überzeugt wären.
Es bleibt unbestritten, daß die Souveränität und die Entscheidungsfreiheit des Bundespräsidenten unangetastet bleiben.
Ich weiß nicht, ob der Kollege Brandt noch im Saal ist, aber er hat geglaubt, vorher einen Mainzer Kollegen ansprechen zu sollen, der nichts anderes getan hat, als die Wahrheit zu sagen.
Es wäre besser gewesen, Herr Brandt, Sie hätten zu diesem Thema nichts gesagt;
denn wir werden es nicht zulassen, daß Sie Ihre eigenen persönlichen Peinlichkeiten in Böswilligkeit gegen andere ummünzen.
Der Rede des Abgeordneten Brandt war wirklich anzumerken, daß er an der dreitägigen Haushaltsdebatte nicht teilgenommen hat.
Das war nichts anderes als eine Wahlkampftirade,
um von der eigenen Verantwortlichkeit für die Jahre von 1969 bis 1974 und auch danach abzulenken. Wem selber die Finanzminister davongelaufen sind, weil sie an den ökonomischen Sachverstand ihres eigenen Bundeskanzlers nicht geglaubt haben, der sollte zu ökonomischen, wirtschaftspolitischen und finanzpolitischen Problemen wirklich nichts mehr sagen.
Wer 1974 so peinlich gescheitert ist wie er, sollte sich nicht so groß über andere Probleme auslassen.
Die Notwendigkeit von Neuwahlen wird verständlich, wenn man sich die Gründe vor Augen führt, die vor noch nicht drei Monaten zur Bildung der Koalition der Mitte geführt haben. Längst war der sozialliberale Konsens, der die alte Koalition über ein Jahrzehnt verband, zerbrochen. Zuletzt zeigte sich dies in der Außenpolitik. Ohne die Unterstützung durch die Opposition waren Bundeskanzler und Außenminister nicht mehr in der Lage, die von ihnen als richtig erkannte Politik durchzusetzen. Ich denke hier an den NATO-Doppelbeschluß — Außenminister Genscher hat hierzu das Notwendige gesagt—, den sich die SPD in ihrer Gesamtheit nie voll zu eigen gemacht hat.
Die Ablehnung der Nominierung prominenter Sozialdemokraten in den letzten Tagen und Wochen wirft ein bezeichnendes Licht auf diese Feststellung.
Warum eigentlich, meine Damen und Herren, geht der Abgeordnete Brandt, der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, nicht in die Delegiertenversammlungen, um für geschätzte Kollegen wie Frau Renger, wie Herrn Haack oder wie Herrn Männing Stellung zu beziehen, Partei zu ergreifen,
8958 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1982
Dr. Waigel
um damit zu sorgen, daß hier eine Kontinuität in wichtigen Fragen deutscher Außen- und Verteidigungspolitik fortgeführt werden kann?
Die eben von mir genannten Kollegen sind doch Opfer der neuen Strategie von Brandt und seinen neuen Koalitionen im rötlich-grünlichen Fahrwasser.
In der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik traten nach der Bildung der sozialliberalen Koalition im Jahre 1980 gravierende Meinungsverschiedenheiten auf. Die Haushaltsberatungen im Sommer 1981 und die Beschlüsse des SPD-Parteitags im Frühjahr dieses Jahres führten letztlich zum Bruch der alten Koalition. Auf ihrem Parteitag hatte die SPD klar ihren Willen bekundet, den Marsch in den Sozialismus anzutreten,
und dies ohne Rücksicht auf den Koalitionspartner und unter Billigung der der SPD angehörenden Regierungsmitglieder einschließlich des seinerzeitigen Bundeskanzlers Helmut Schmidt. Mehr Staat, höhere Abgaben, noch mehr Schulden, mehr staatlicher Dirigismus und mehr Bürokratie — das waren die Begleittöne dieses Parteitages.
Nach Wochen lähmender Untätigkeit und lärmenden Streits fand dann das alte Regierungsbündnis sein Ende.
Nach dem Auseinanderbrechen der alten Koalition war Helmut Schmidt nicht bereit, die politischen Konsequenzen zu ziehen und den Rücktritt einzureichen. Angesichts der Dringlichkeit der Probleme einigten sich deshalb CDU, CSU und FDP auf die Bildung einer neuen Koalition der Mitte. Von Anfang an verständigten sich die neuen Koalitionspartner darauf, ein zeitlich und sachlich begrenztes Dringlichkeitsprogramm zu verabschieden, um dann im März 1983 Neuwahlen herbeizuführen. Wie der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der Kollege Dr. Dregger, in der Haushaltsdebatte am 14. Dezember 1982 zutreffend dargelegt hat, war der Auftrag der Regierung Kohl von vornherein sowohl sachlich als auch zeitlich begrenzt.
Angesichts der dramatischen Situation war es unumgänglich, ein Sofortprogramm zu verabschieden. Die neue Koalition der Mitte einigte sich deshalb darauf, erste Maßnahmen zur Sanierung der Bundesfinanzen und zur Sicherung der Finanzlage der Sozialversicherung zu ergreifen, erste Anstöße für die Wiederbelebung der Wirtschaft und für die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit zu geben sowie die Mißverständnisse und Irritationen über die Stellung der Bundesrepublik in der westlichen Allianz aus dem Weg zu räumen.
Wenn wir heute Bilanz ziehen, können wir feststellen, daß mit der Verabschiedung des Haushalts 1983 und der Begleitgesetze die entscheidenden Weichenstellungen vorgenommen worden sind, um den vereinbarten Zielen näherzukommen. Zweifel an der Stellung der Bundesrepublik Deutschland im Bündnis konnten ausgeräumt werden.
Beim Abschluß der Koalitionsvereinbarung wurden Themen bewußt ausgespart. Es gibt unterschiedliche Standpunkte zwischen CDU/CSU und FDP in einigen Bereichen. Dies gilt vor allem für die innere Sicherheit, die Rechtspolitik und die Deutschlandpolitik. Eine Ausklammerung wichtiger politischer Bereiche ist jedoch auf Dauer nicht möglich. Sie erfolgte, weil die neuen Koalitionspartner vereinbart hatten, sich nach fünf Monaten dem Urteil der Wähler zu stellen.
Angesichts der Herausforderung im nationalen und internationalen Bereich bedarf es klarer, umfassender Festlegungen für eine ganze Legislaturperiode. Hierzu braucht eine neue Regierung den Auftrag durch die Wähler. Das ist der erklärte Wille aller Parteien und Fraktionen.
Wenn wir heute die Voraussetzungen für Neuwahlen schaffen, geschieht dies im Interesse unserer Bürger. Sie sollen die Möglichkeit erhalten, in einer entscheidenen Zeit über die weitere Zukunft unseres Landes entscheiden zu können.
Die CSU ist bereit, die neue Koalition der Mitte auch nach dem 6. März 1983 fortzusetzen. Wir haben den Mut, den Bürgern unseres Landes im bevorstehenden Wahlkampf die Wahrheit über die Probleme, die wir übernommen haben, und über die Opfer zu sagen, die zur Bewältigung der Krise von allen Gruppen unserer Bevölkerung erbracht werden müssen. In der schwersten Wirtschaftskrise unseres Landes ist die CSU bereit, ihren Beitrag zur Lösung der Probleme zu leisten, den Weg zu Neuwahlen zu ermöglichen, einen ehrlichen Wahlkampf zu führen, um das Vertrauen der Bürger zu bitten
und Regierungsverantwortung nach Neuwahlen zu übernehmen.