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ID0914100800

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    Plenarprotokoll 9/141 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 141. Sitzung Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1982 Inhalt: Nachruf auf den Abg. Lampersbach . . . 8937 A Regelung für Vorlagen nach § 77 Abs. 1 GO nach Auflösung des Bundestages . . . . 8937 C Nachträgliche Abstimmung über zwei Entschließungen zum Kriegsdienstverweigerungs-Neuordnungsgesetz 8937 D Beratung des Antrags des Bundeskanzlers gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes — Drucksache 9/2304 —Dr. Kohl, Bundeskanzler 8938 A Brandt SPD 8939 D Dr. Dregger CDU/CSU 8948 B Genscher FDP 8951 C Dr. Waigel CDU/CSU 8956 B Duve SPD 8958 D Schmidt (Kempten) FDP 8960 B Frau Schuchardt fraktionslos 8962 C Hofmann (Kronach) fraktionslos . . . 8965A Coppik fraktionslos 8966 B Dr. Ehmke SPD 8968 B Dr. Graf Lambsdorff FDP 8968 C Gansel SPD (Erklärung nach § 32 GO) . 8970 C Frau Dr. Hamm-Brücher FDP (Erklärung nach § 32 GO) 8970 C Präsident Stücklen 8968 A Namentliche Abstimmung 8971 A, C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 8975* A Anlage 2 Erklärung des Abg. Eymer (Lübeck) (CDU/ CSU) gemäß § 31 Abs. 1 GO zur Abstimmung über den Antrag des Bundeskanzlers gemäß Art. 68 des Grundgesetzes (Drucksache 9/2304) 8975* A Anlage 3 Nebentätigkeiten, insbesondere Lehrverpflichtungen, des Chefs des Bundeskanzleramtes und eines Abteilungsleiters MdlAnfr 1, 2 03.12.82 Drs 09/2226 Schäfer (Offenburg) SPD ErgSchrAntw StMin Dr. Jenninger BK auf ZusFr Schäfer (Offenburg) SPD . . . 8975* B Anlage 4 Stellungnahme des Bundeswirtschaftsministers im Ermittlungsverfahren gegen Friedrich MdlAnfr 84 03.12.82 Drs 09/2226 Gansel SPD ErgSchrAntw StMin Dr. Jenninger BK auf ZusFr Jungmann SPD 8975* C Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1982 8937 141. Sitzung Bonn, den 17. Dezember 1982 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Frau Benedix-Engler 17. 12. Junghans 17. 12. Lagershausen 17. 12. Löffler 17. 12. Mischnick 17. 12. Müller (Bayreuth) 17. 12. Neuhaus 17. 12. Rayer 17. 12. Frau Schmedt (Lengerich) 17. 12. Schmöle 17. 12. Wehner 17. 12. Weiskirch (Olpe) 17. 12. Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Eymer (Lübeck) (CDU/CSU) gemäß § 31 Abs. 1 GO zur Abstimmung über den Antrag des Bundeskanzlers gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes (Drucksache 9/2304): Die von Herrn Bundeskanzler Helmut Kohl dargelegten Gründe für die Neuwahl des Deutschen Bundestages teile ich. Ich halte den Weg zur Auflösung des Deutschen Bundestages nach Artikel 68 Grundgesetz nicht für verfassungskonform. Ich werde mich deshalb an der Abstimmung über die Vertrauensfrage nicht beteiligen. Anlage 3 Ergänzende Antwort des Staatsministers Dr. Jenninger auf die Fragen des Abgeordneten Schäfer (Offenburg) (SPD) (Drucksache 9/2226 Fragen 1 und 2, 136. Sitzung, Seite 8409 D f.): In der Fragestunde des Deutschen Bundestages am 9. Dezember 1982 haben Sie im Zusammenhang Anlagen zum Stenographischen Bericht mit Ihren Fragen Nr. 1 und 2 folgende Zusatzfrage gestellt: Trifft es zu, daß der Abteilungsleiter für innere Angelegenheiten und Planung Beamte und Mitarbeiter seines Amts mit der Erledigung von Aufgaben betraut hat, die aus der Lehrverpflichtung herrühren, also amtsfremd sind? Ich habe Ihnen zugesagt, diese Fragen zu prüfen und Ihnen eine schriftliche Antwort zukommen zu lassen. Die Antwort lautet wie folgt: Es trifft nicht zu, daß der betreffende Abteilungsleiter Beamte und Mitarbeiter des Bundeskanzleramtes mit der Erledigung von Aufgaben betraut hat, die aus der Lehrverpflichtung herrühren. Anlage 4 Antwort des Staatsministers Dr. Jenninger auf die Zusatzfrage des Abgeordneten Jungmann (SPD) zur Frage des Abgeordneten Gansel (SPD) (Drucksache 9/2226 Frage 84, 136. Sitzung, Seite 8416 D): In der Fragestunde am 9. Dezember 1982 hatten Sie im Zusammenhang mit der Frage 84 des Kollegen Gansel folgende Zusatzfrage gestellt: Herr Minister, können Sie uns mitteilen, ab wann der Rechtsanwalt des Bundesministers Graf Lambsdorff Einsicht bekommen hat und wie lange die Einsichtnahme in die Akten - durch diese Länge oder Kürze der Einsichtnahme kann ja der Gesamtprozeß auch verzögert worden sein - gedauert hat? Ich hatte Ihnen zugesagt, die Antwort zur Dauer der Akteneinsicht schriftlich nachzureichen: Der Anwalt von Bundesminister Dr. Graf Lambsdorff hat Anfang Juli sechs Hauptbände, ein Sonderheft und 14 Leitz-Ordner zum Zwecke der Akteneinsicht erhalten. Noch Mitte Oktober sind ihm weitere zwei Hauptbände und 7 Leitz-Ordner überlassen worden. Die Bundesregierung wiederholt daher ihre Auffassung: Bundesminister Dr. Graf Lambsdorff hat mit der anwaltlichen Stellungnahme vom 1. Dezember, die dazu führen soll, den Verdacht auszuräumen, alles in seiner Macht Stehende getan, um zu einer raschen Aufklärung des Sachverhalts beizutragen. Die Staatsanwaltschaft sieht sich, wie sie selbst erklärt hat, durch die gestellten Beweisanträge auch veranlaßt, weitere Ermittlungen anzustellen.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Hans-Dietrich Genscher


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Regierungsparteien der Koalition der Mitte, FDP, CDU und CSU, haben der Bundesregierung bei ihrer Bildung einen sachlich und deshalb auch zeitlich begrenzten Auftrag gegeben. Der Auftrag lautete, den Haushalt 1983 zu verabschieden, die Begleitgesetze zu beschließen und die Ziele der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik zu bekräftigen. Diesen Auftrag hat die Regierungskoalition erfüllt.
    Sie löst heute das am 1. Oktober 1982 gegebene Versprechen ein, vorzeitige Neuwahlen möglich zu machen. Sofortige Neuwahlen hätten wichtige Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit um Monate verschoben. Die Staatsverschuldung wäre bei späterer Verabschiedung des Bundeshaushalts in seiner jetzigen Form in unvertretbarer Weise weiter gestiegen. Dafür konnten und wollten wir angesichts einer steigenden Zahl von Arbeitslosen die Verantwortung nicht übernehmen.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Mit der Abstimmung über die von Ihnen gestellte Vertrauensfrage, Herr Bundeskanzler, machen wir nun den Weg frei für die Neuwahlen. Die sachliche und damit auch zeitliche Begrenzung des Auftrags war der feste Wille von Anfang an.
    Der Auftrag soll erneuert werden, aber erst, nachdem der Wähler das Wort gehabt hat. Das entspricht auch dem Willen der großen Mehrheit unserer Bürger. Die Tatsache, daß alle Parteien des Deutschen Bundestages für diese Neuwahlen eintreten und daß die Wahl eines anderen Bundeskanzlers von keiner dieser Parteien in diesem Bundestag angestrebt wird, gibt unserem Begehren nach Neuwahlen zusätzliches Gewicht.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Diese Tatsache beseitigt auch die vom Verfassungsgesetzgeber befürchtete Gefahr, daß Art. 68 des Grundgesetzes von der jeweiligen Mehrheit zur Herbeiführung von Wahlen in einem ihr geeignet erscheinenden Zeitpunkt mißbraucht wird.
    Der Deutsche Bundestag gibt nach unserem Willen sein Mandat an die Bürger unseres Landes zurück. Die Koalition der Mitte wendet sich an die Bürger mit der Bitte, ihr einen neuen Auftrag zu erteilen.
    8952 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1982
    Genscher
    Die Bilanz der Arbeit dieser Koalition seit dem 1. Oktober 1982 ist eindrucksvoll:
    Zusätzlich zu Haushalts- und Begleitgesetzen wurde das Recht der Kriegsdienstverweigerung geregelt.

    (Dr. Ehmke [SPD]: Schlechter!)

    Auf einem wichtigen Rechtsgebiet, das für junge Menschen von besonderer Bedeutung ist, wurde der Zustand der Rechtsunsicherheit beseitigt.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Die Koalition der Mitte bewies damit ihre Einigungs- und Entscheidungsfähigkeit.
    Die Verabschiedung der TA Luft ist ein bedeutsamer Beitrag für den Umweltschutz in unserem Lande.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Unsere entschlossenen Schritte zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, der Mut zu Sparmaßnahmen, die Eröffnung einer sicheren Perspektive der sozialen Marktwirtschaft erweisen sich schon jetzt als ein Beitrag zur Vertrauensbildung.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    In dieser Atmosphäre neu wachsenden Vertrauens in die Solidität staatlicher Finanzwirtschaft konnte die Deutsche Bundesbank die Leitzinsen senken. Das ist ein Gütesiegel für die Politik der Koalition, ein Gütesiegel, erteilt von der unabhängigen Bundesbank in diesem Lande.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Auch deshalb wollen wir die Unabhängigkeit dieser Bundesbank nicht angetastet sehen. Herr Kollege Brandt, man weiß bei der Bundesbank, daß trotz aller unbestreitbaren außenwirtschaftlichen Einwirkungen auch auf das Wirtschaftsgeschehen bei uns der alte Grundsatz weiter beachtet werden muß: Fehler, die hausgemacht sind, können auch nur zu Hause beseitigt werden.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Brandt [SPD]: Das ist doch billig!)

    Die steuerlichen Rahmenbedingungen für Investitionen wurden verbessert. Zusätzliche Mittel für öffentliche Investitionen wurden eingesetzt. Die Liberalisierung des Wohnungsmarkts

    (Zurufe von der SPD)

    und eine verstärkte Förderung des Eigenheimbaus ermutigen wieder mehr zum Wohnungsbau.
    Der Weg für die Anwendung neuer Kommunikationstechnologien wird freigemacht.
    Das alles ist Teil einer konsequent marktwirtschaftlichen Politik, die nach Fortsetzung Tiber den 6. März hinaus verlangt.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Die Koalition der Mitte hat Stetigkeit, Verläßlichkeit und Berechenbarkeit

    (Lachen bei der SPD)

    in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik und in der Deutschlandpolitik bestätigt.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Die Bürger unseres Landes und die Welt wissen von uns: Die Bundesrepublik Deutschland ist ein selbstbewußter und verläßlicher Partner der Europäischen Gemeinschaft und des westlichen Bündnisses.

    (Zuruf von der SPD: Sie nicht!)

    Sie steht mit ihren Freunden fest zusammen. Sie will gleichberechtigte Partnerschaft mit den Staaten der Dritten Welt. Sie will mit ihrer Politik der ausgestreckten Hand die Verträge mit ihren östlichen Nachbarn nutzen. Sie will Zusammenarbeit, Entspannung, Abrüstung und Rüstungskontrolle. Die Zusammenarbeit mit der DDR ist Politik für die Menschen der getrennten Nation. Sie ist europäische Friedenspolitik.
    Meine Damen und Herren, die Bundestagswahl 1983 stellt die Wähler — darauf hat der Kollege Brandt mit Recht hingewiesen — vor eine grundsätzliche Entscheidung. Die Wähler haben zu entscheiden zwischen der Koalition der Mitte und der Unregierbarkeit unseres Landes.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Die Wähler haben zu entscheiden zwischen der Koalition der Mitte und einer Zusammenarbeit, in der die Sozialdemokratische Partei von der Verweigerungspolitik der Grünen und Alternativen abhängig wäre.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zuruf des Abg. Lambinus [SPD] — Lachen des Abg. Bindig [SPD])

    — Ich verstehe nicht, Herr Kollege, warum Sie sich darüber empören.

    (Bindig [SPD]: Wir lachen!)

    Sie haben doch auf Ihrem Kleinen Parteitag in Kiel schon die Weichen für eine solche Zusammenarbeit gestellt.

    (Huonker [SPD]: Blanke Unwahrheit ist das!)

    Sie haben in Ihrer Kieler Erklärung eine eindeutige Position der SPD zur Kernenergie vermieden. Wer Ihre Erklärungen zur Sicherheitspolitik hört, bemerkt, wie Sie Schritt für Schritt einen Eckpfeiler unserer Sicherheitspolitik aushöhlen, nämlich das Festhalten an beiden Teilen des NATO-Doppelbeschlusses.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Damit werden schon im Vorfeld der Wahl die beiden Grundbedingungen erfüllt, die Grüne und Alternative für eine Zusammenarbeit mit der SPD gestellt haben.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr. Ehmke [SPD]: Und Sie erfüllen die Grundbedingungen von Strauß!)

    Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1982 8953
    Genscher
    Meine Kollegen, ist es nicht auch bedeutsam, wenn wir feststellen müssen, daß in den Wahlkreisen mehr und mehr solchen Sozialdemokraten die Unterstützung verweigert wird, die zur bisherigen Politik ihrer Partei stehen?

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, die Wähler haben zu entscheiden über die Fortsetzung einer konsequenten Sozialen Marktwirtschaft, über die Liberalität unseres Landes und über die konsequente Fortsetzung unserer Außen- und Sicherheitspolitik.

    (Zuruf von der SPD: 3 %!)

    Diese Soziale Marktwirtschaft ist für uns mehr als Wirtschaftspolitik — sie ist Freiheitsordnung für Wirtschaft und Gesellschaft. Wo sie ungehindert wirken kann, da ermöglicht sie Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung der Bürger. Verantwortung und Leistung macht erst sie in vollem Umfang möglich.

    (Zuruf von der SPD: Und Arbeitslosigkeit!)

    Weil sie Selbstverantwortung stärkt, schafft sie auch Mitverantwortung für den anderen — für den Kranken und den Schwachen, für die Kinder und für die älteren Menschen. Solidarität und Subsidiarität tragen zur Humanität in unserer Gesellschaft bei. Dessen müssen wir uns ganz bewußt sein. Unsere Humanität und Solidarität muß sich auch gegenüber unseren ausländischen Mitbürgern bewähren.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Hier steht unsere freiheitliche Gesinnung auf dem Prüfstand.
    Nur wenn wir in diesem Geist durch Soziale Marktwirtschaft soziale Gerechtigkeit verwirklichen, werden wir den sozialen Frieden bewahren. Dazu werden alle Gruppen gebraucht, Gewerkschaften und Arbeitgeber in gleicher Weise. Wir brauchen einen Pakt der Vernunft und der Verantwortung. Niemand sollte sich dazu hergeben, daß in diesem Lande in schwerer Zeit ein neuer Klassenkampf entfacht, eine Gruppe gegen die andere aufgestachelt wird.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Es geht eben nicht um Umverteilung von unten nach oben, sondern es geht um Umverteilung hin zu Investitionen, weil nur sie Arbeitsplätze schaffen können.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Wer die Soziale Marktwirtschaft einschränkt, schränkt Freiheits- und Verantwortungsräume ein, für den Arbeitnehmer wie für den Unternehmer, für den Freiberufler wie auch für den im öffentlichen Dienst. Einschränkung von Freiheit und Verantwortung schafft mehr Abhängigkeit, und das nicht nur für den einzelnen, nicht nur für den Unternehmer, genauso für Betriebsräte und Gewerkschaften. Nur in der Sozialen Marktwirtschaft kommt deshalb die Tarifautonomie zur Entfaltung.
    Die entscheidende Aufgabe, die wir zu erfüllen haben, lautet, wieder Wirtschaftswachstum zu erreichen und damit Arbeitsplätze zu schaffen. Diese
    Aufgabe läßt sich nicht lösen mit kurzatmigen Beschäftigungsprogrammen, finanziert durch eine immer höhere Staatsverschuldung. Solche Programme würden nur eins bewirken: uns immer tiefer hineinzutreiben in die Spirale von Rezession, Inflation und Arbeitslosigkeit.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Immer höhere Staatsverschuldung stranguliert private Investitionen und vernichtet Arbeitsplätze. Immer höhere staatliche Verschuldung bedeutet zugleich, daß die heutige Generation auf Kosten der nächsten lebt, daß die Eltern ihren Kindern und Enkeln eine erdrückende Hypothek hinterlassen.
    Meine Damen und Herren, wenn es um die Grundsatzfragen geht, die in der Wahl zu entscheiden sind, sage ich noch einmal: Es ist die Entscheidung über die konsequente, unbeeinträchtigte Fortführung der Politik der Sozialen Marktwirtschaft. Wer Wirtschaftsräte, wer Strukturräte, wer Sozialräte und welche Räte man sich sonst noch ausdenken kann, fordert, der hemmt die Antriebskraft der Wirtschaft, und er beschränkt die Freiheits- und Verantwortungsräume in unserem Lande.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zuruf des Abg. Gansel [SPD])

    Kein staatlicher Dirigismus, keine Branchenpolitik, keine Strukturpläne können die Dynamik ersetzen, die sich aus den millionenfachen Einzelentscheidungen von Verbrauchern und Investoren ergibt. Eingriffe in den Wirtschaftsablauf, Planung und Dirigismus drängen nach großen Unternehmenseinheiten. Sie verdrängen die Vielfalt und die Kreativität, mit denen Mittel- und Kleinbetriebe, Handwerk, Handel und freie Berufe der wirtschaftlichen Entwicklung wirklich die motorische Kraft geben und Garanten des Wettbewerbs sind.
    Die jetzige Krise ist eine Krise der Interventionen. Die Aufgabe, wieder wirtschaftliches Wachstums zu erreichen, wieder neue Arbeitsplätze zu schaffen, läßt sich allein durch eine funktionsfähige Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft erreichen. Diese Ordnung hat in den 50er Jahren ein beispielloses Wachstum gebracht, das in der ganzen Welt als das deutsche Wirtschaftswunder bekannt wurde. Es hat diese Ordnung damals möglich gemacht, daß der Fleiß unserer Arbeitnehmer, der Erfindungsreichtum und das Engagement der Techniker und der Unternehmer Millionen und Abermillionen von Arbeitsplätzen geschaffen haben, und das wird auch heute geschehen, wenn man sie nur läßt, wenn es wieder Mut gibt zum Markt, zur Selbstverantwortung und zur Leistung.

    (Beifall bei der FDP und der CDU — Zuruf von der SPD)

    In der Außen-, Sicherheits- und Deutschlandpolitik hat die Aussprache über den Haushalt den Fortbestand des Konsenses in vielen wichtigen Fragen ergeben. Je mehr wir davon bewahren, um so größer ist der Gewinn für unser Land, für unser Volk und für ganz Europa.
    Wir müssen aber auch verzeichnen — damit gehe ich auf das ein, was in Zwischenrufen gesagt wur-
    8954 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1982
    Genscher
    de —, daß die SPD mit immer größeren Schritten die bisher gemeinsame Haltung zum NATO-Doppelbeschluß verläßt.

    (Zustimmung bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Immer deutlicher werden auch Stimmen, die eine selbstbewußte Wahrnehmung deutscher und europäischer Interessen unter Freunden und Verbündeten mit einer wertgleichen Betrachtung der Beziehungen zu den USA und zur Sowjetunion verwechseln.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Huonker [SPD]: So ein Quatsch!)

    Die deutsch-amerikanische Freundschaft und die Zusammenarbeit zwischen Europäern und Nordamerikanern sind von lebenswichtiger Bedeutung für unsere freiheitlichen Demokratien diesseits und jenseits des Ozeans. Sie garantiert den Frieden und die Freiheit. Diese Freundschaft darf nicht nur das Verhältnis der Regierenden zueinander bestimmen; sie muß in unserem Volk fest verankert sein und bleiben. Das immer wieder bewußt zu machen ist Aufgabe politischer Führung.
    In diesem Bewußtsein sind sich alle Parteien des Deutschen Bundestages einig in der Verurteilung der Terroranschläge gegen amerikanische Soldaten, die hier in unserem Lande mit uns unseren Frieden und unsere Freiheit sichern.

    (Beifall bei der FDP, bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)

    Auf der Grundlage unserer festen Einbindung in das westliche Bündnis und in die Europäische Gemeinschaft und in dem Bewußtsein, daß der Friedensdienst unserer Soldaten in der Bundeswehr ein gemeinsamer und wichtiger Beitrag zur Sicherheit ist, stellt sich die Koalition der Mitte der großen Herausforderung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, nämlich Abrüstung und Rüstungskontrolle zum Erfolg zu führen. Wir alle wissen: Das ist die Überlebensaufgabe für unser Volk in West und Ost, für die Europäer in West und Ost, für die Menschheit. Wer die Grundlagen der für unser Volk lebenswichtigen Verhandlungen über die Mittelstreckenraketen in Frage stellt, bevor die entscheidende Verhandlungsphase überhaupt begonnen hat, wird nur erreichen, daß es zu dieser entscheidenden Verhandlungsphase überhaupt nicht kommen wird. Diese Bemühungen und Verhandlungen brauchen Festigkeit und Stetigkeit. Wankelmütigkeit und Unberechenbarkeit sind Gift für den Erfolg dieser Verhandlungen.
    Niemand in unserem Volk drängt sich nach Mittelstreckenraketen. Wir wünschen diese Mittelstreckenraketen nicht auf der westlichen Seite, aber wir wollen sie auch nicht auf der östlichen Seite, wo sie gegen uns gerichtet sind.

    (Beifall bei der FDP, bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD — Zuruf von der SPD: Da sind wir uns einig, Herr Genseher!)

    Nicht amerikanische Raketen, die es noch nicht
    gibt, bedrohen unsere Sicherheit, sondern sowjetische SS-20-Raketen, die schon heute auf uns gerichtet sind, sind für uns eine tödliche Gefahr, und sie wollen wir mit unserem ernsthaften Willen zu Verhandlungen beseitigen.
    Herr Kollege Brandt, wir werden — das haben wir auch schon früher gesagt — jeden ernstgemeinten Vorschlag ebenso ernsthaft prüfen. Wir wissen: Die Beachtung der Sicherheitsinteressen beider Seiten, nicht nur der eigenen, ist Voraussetzung für erfolgreiche Verhandlungen. Wer einen Verhandlungserfolg will, muß, wenn das Verhandlungsziel — und das wäre nach unserer Meinung der beiderseitige Verzicht — nicht voll erreicht werden kann, zum Kompromiß bereit und fähig sein. Kompromiß, das heißt Nachgeben auf beiden Seiten, das heißt aber nicht gänzlicher Verzicht der einen Seite und teilweises Nachgeben der anderen.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Wer sagt, man könne bei einem gänzlichen Verzicht auf die westliche Nachrüstung der Sowjetunion jetzt 150 auf Westeuropa gerichtete sowjetische Mittelstreckenraketen zugestehen, der gesteht unter dieser Voraussetzung der Sowjetunion ein Monopol in diesem Waffenbereich zu,

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    und er würde außerdem zugestehen, daß auf sowjetischer Seite die Vernichtungskraft von mehr als 3 000 Hiroschima-Bomben auf uns gerichtet bliebe.

    (Hört! Hört! bei der CDU/CSU)

    Das können und das dürfen wir nicht hinnehmen.
    Meine Damen und Herren, deshalb haben wir doch von Anfang an, damals die Bundesregierung aus FDP und SPD, zusammen mit unseren Verbündeten den gänzlichen Verzicht auf amerikanische und sowjetische Mittelstreckenraketen gefordert. Wir waren damals stark bei der Vertretung dieser Forderung, weil wir von der damaligen Opposition, der CDU/CSU, ohne Einschränkung unterstützt wurden. Die Regierung aus FDP und CDU/CSU vertritt heute dieselbe Position wie damals ihre Vorgängerin. Aber nach allem, was wir hören, können wir in dieser Konsequenz nicht mehr auf die uneingeschränkte Unterstützung der jetzigen Opposition rechnen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

    Wir werden die Wähler um Unterstützung bitten für unser großes Ziel: Frieden schaffen ohne Mittelstreckenwaffen, ohne sowjetische und ohne amerikanische Mittelstreckenwaffen.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Wir wollen nicht einen Raketen-Wahlkampf, aber wir wollen einen Wahlkampf über unsere Friedenspolitik. Wir werden alles daran setzen, den Bürgern verständlich zu machen, daß die Politik der Bundesregierung den richtigen Weg zeigt, auf dem wir Frieden für unser Land, für Europa und für die Welt sichern können. Engagement für den Frieden nehmen wir bei allen ernst, bei denen, die uns unterstützen, und bei denen, die wir noch nicht für unsere Politik von Frieden und Freiheit überzeugt haben.
    Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1982 8955
    Genscher
    Wer eine Politik der ausgestreckten Hand gegenüber dem Osten will, braucht einen festen Platz im Westen. Wer den Platz unseres Landes zwischen dem Westen und dem Osten suchen will, wird Sicherheit und Freiheit verspielen.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr. Hauff [SPD]: Er baut schon wieder einen Popanz auf!)

    Und auch darum muß der Wahlkampf geführt werden, um die Erkenntnis: Unser Gewicht in der Europäischen Gemeinschaft und im westlichen Bündnis, die Qualität unseres Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten bestimmen unser Gewicht auch im Gespräch mit der Sowjetunion. Wer nicht Spielball werden will zwischen West und Ost, der muß Gespräch, Verhandlung, Zusammenarbeit und Entspannung mit dem Osten suchen als Teil des Westens, als verläßlicher Freund und Verbündeter. Wanderer zwischen den Welten

    (Lachen und demonstrativer Beifall bei der SPD — Liedtke [SPD]: Heißt Genscher! — Weitere Zurufe von der SPD)

    führen unser Land auf einen gefährlichen Irrweg.

    (Lebhafter Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Und solche Wanderer gibt es nicht nur bei Grünen und Alternativen.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Huonker [SPD]: Genscher, der Wanderer!)

    Die Bewahrung unserer Sicherheit und Freiheit nach außen verlangt den Ausbau der Liberalität unseres Staates und unserer Gesellschaft.

    (Anhaltende Unruhe bei der SPD — Glocke des Präsidenten)

    — Meine Damen und Herren, ich habe doch meine Haltung zum Doppelbeschluß nicht geändert. Sie laufen doch Ihrer früheren Haltung davon.

    (Lebhafter Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

    Die Aufgabe der Liberalen bleibt unverändert. Für uns steht unter den Grundwerten Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit die Freiheit des einzelnen an erster Stelle.

    (Liedtke [SPD]: Aber rot werden Sie nicht!)

    — Die Art, wie Sie hier reagieren, zeigt, wie falsch die These ist, Sie könnten der Liberalität eine Heimstatt in Ihrer Partei bieten.

    (Lebhafter Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Die Liberalen stellen den Menschen vor Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. So haben wir es mit unseren Freiburger Thesen von 1971 bekräftigt. Nicht auf die bloß formalen Garantien von Freiheiten und Rechten des Bürgers gegenüber dem Staat, sondern auch auf die sozialen Chancen, diese Freiheiten und Rechte in der Gesellschaft auch wahrzunehmen, kommt es den Liberalen an. Für Liberale stehen Reformen, die mehr Freiheitsrechte für mehr Bürger bringen, also Reformen zur Demokratisierung der Gesellschaft, im Vordergrund. Die Gleichheit der Chancen ist das Ziel, nicht Gleichheit um den Preis der individuellen Freiheit.
    Im Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Staat und Bürger, zwischen Organisation und Individuum heißt für Liberale die Entscheidung immer: im Zweifel für die Freiheit, für die Freiheit des einzelnen.

    (Beifall bei der FDP)

    Sie zu bewahren ist liberale Grundaufgabe. Die Freie Demokratische Partei ist und bleibt Garant unseres freiheitlichen Rechtsstaats.
    Meine Damen und Herren, wir, die Freien Demokraten, werden den Wahlkampf sachlich und fair und ohne persönliche Verunglimpfungen führen. Liberale Toleranz verhindert auch, daß tiefe Gräben unser Volk trennen. Die von außen aufgezwungene Teilung unseres Volkes ist schlimm genug. Wir dürfen nicht noch eine innere Spaltung hinzufügen.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Diffamierung und Verunglimpfung werden sich gegen diejenigen wenden, die sie betreiben. Je mehr Intoleranz praktiziert wird, um so deutlicher wird die Abgrenzung zwischen Liberalen und den Trägern einer solchen Kampagne.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Wer einen Vernichtungskampf gegen eine demokratische Partei führt, gefährdet das politische Klima und die innere Stabilität unseres Landes.

    (Zuruf von der SPD: Den Kampf führen Sie selbst!)

    Herr Kollege Leber hat am Dienstag in eindrucksvoller Weise auf die Gefahren für die Stabilität unserer Demokratie hingewiesen. Gerade in dem bevorstehenden Wahlkampf sollten wir alle seine Mahnung ernst nehmen.
    Die Freien Demokraten wissen: Der Bundestagswahlkampf 1983 wird für uns schwer sein. Wir müssen gemeinsam und entschlossen kämpfen, damit auch im nächsten Deutschen Bundestag liberale Politik verwirklicht werden kann. Diese liberale Politik durchzusetzen ist die Aufgabe der Freien Demokratischen Partei in unserem Pateiensystem. Es ist unsere Aufgabe, absolute Mehrheiten zu verhindern.

    (Beifall bei der FDP)

    Es ist unsere Aufgabe, den Wechsel möglich zu machen, wenn nur so eine handlungsfähige Regierung gebildet werden kann.

    (Beifall bei der FDP)

    Wir haben Kontinuität zu garantieren und unser Land vor politischen Wechselbädern zu bewahren.

    (Liedtke [SPD]: Ungedeckt durch die Wähler!)

    Die Freie Demokratische Partei hat in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zusammen mit der CDU/CSU die Marktwirtschaft erkämpft. Sie hat den Eintritt unseres Landes in das westliche Bündnis, in die Gemeinschaft der westli-
    8956 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1982
    Genscher
    chen Demokratien möglich gemacht. Sie hat mit den Sozialdemokraten die Vertragspolitik nach Osten gestaltet und wichtige innere Reformen durchgesetzt.
    Wir stellen uns dem Wähler mit unserem ganzen politischen Weg. Wir stellen uns mit unserer Arbeit in der Koalition mit der SPD. Wir stellen uns mit unserer Verantwortung für die Wende in unserem Land, für die Bildung der Koalition der Mitte mit der CDU/CSU und für die Leistungen, die wir schon jetzt zusammen in der neuen Koalition erbracht haben.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Wer diese Koalition der Mitte als „Rechtskoalition" bezeichnet,

    (Huonker [SPD]: Der hat recht!)

    hat sich im Buhlen um Grüne und Alternative selber schon so weit nach links bewegt, daß ihm sogar die Mitte als rechts erscheinen muß.

    (Stürmischer Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Ihr Koordinatensystem stimmt nicht!)

    Wir werden den Wahlkampf für die Liberalität in unserem Lande, für die Soziale Marktwirtschaft und für die Außen- und Sicherheitspolitik der verläßlichen Partnerschaft und der guten Nachbarschaft führen.

    (Zuruf des Abg. Gansel [SPD])

    Wir stellen uns dem Wähler mit unserem liberalen Programm. Wir stellen uns mit dem Willen, die Koalition der Mitte aus Freien Demokraten und CDU/ CSU fortzusetzen.

    (Beifall bei der FDP)

    Die Wirtschaftskrise verlangt von uns allen große und ernsthafte Anstrengungen. Dennoch gibt es für unser Land keinen Anlaß zu Pessimismus und Verzweiflung. Unser Land hat Grund zu Mut und Zuversicht auch morgen — mit der Koalition der Mitte. Unter der politischen Führung der Koalition aus FDP und CDU/CSU wurde unsere Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg als ein freiheitlicher und sozialer Staat mit einer erfolgreichen Volkswirtschaft aufgebaut. Unter der gleichen Führung werden wir auch die wirtschaftliche und geistige Krise unserer Zeit meistern.

    (Lebhafter Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Rede von Richard Stücklen
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Das Wort hat Herr Abgeordneter Waigel.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Theodor Waigel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag des Bundeskanzlers nach Art. 68 des Grundgesetzes, die Abstimmung des Parlaments über diesen Antrag und die Stimmenthaltung der Koalition, damit der Bundespräsident den Bundestag auflösen und Neuwahlen herbeiführen kann, sind verfassungsrechtlich legitim sowie verfassungspolitisch und staatspolitisch geboten.

    (Wolfram [Recklinghausen] [SPD]: Ist das die Botschaft von Franz Josef Strauß?)

    Von einem Anschlag auf das Grundgesetz oder von einer Manipulation unserer Verfassung kann keine Rede sein.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Mit ihrem Stimmverhalten verbinden die Abgeordneten der Koalitionsparteien nicht Kritik an der Person von Bundeskanzler Kohl oder an seiner Politik.

    (Zurufe von der SPD)

    Sie unterstreichen mit ihrer Stimmenthaltung vielmehr die politische Notwendigkeit einer neuen demokratischen Legitimation durch den Wähler, nachdem der Auftrag dieser Koalition erfüllt ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Als eine Verfahrensregelung des Staatsorganisationsrechts legt Art. 68 des Grundgesetzes die Voraussetzungen, unter denen der Bundespräsident den Bundestag auflösen kann,

    (Dr. Ehmke [SPD]: Gut, daß er Gutachter hat!)

    präzise fest.
    Von den am Verfahren beteiligten drei Verfassungsorganen, Bundestag, Bundespräsident und Bundeskanzler, kommt der Willensbekundung der Mitglieder des Bundestages entscheidende Bedeutung zu. Nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes sind die Abgeordneten „nur ihrem Gewissen unterworfen". Die Zustimmung zum Antrag des Bundeskanzlers kann seitens der Abgeordneten aus unterschiedlichen Motiven verweigert werden. Sie ist keiner Kontrolle oder Überprüfung zugänglich. Die konkrete Entscheidung liegt in der freien Verantwortung jedes einzelnen Abgeordneten.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Für jene, die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des von uns beschrittenen Weges haben, sei auf die Entstehungsgeschichte des Art. 68 des Grundgesetzes hingewiesen. Die Materialien hierzu lassen deutlich erkennen, daß der Regierung die Möglichkeit eröffnet werden sollte, Neuwahlen herbeizuführen. Es war der SPD-Abgeordnete Dr. Katz, damals Justizminister von Schleswig-Holstein und von 1951 bis 1961 Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, der im Jahre 1948 die Aufnahme des konstruktiven Mißtrauens in das Grundgesetz beantragte. In der 33. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates erklärte er am 8. Januar 1949:
    Der Sinn des Artikels 90 a
    — im Vorentwurf des Parlamentarischen Rates war das konstruktive Mißtrauen in Art. 90 a geregelt —
    ist, der Regierung die Chance einer Neuwahl zu geben, wenn sie es für gegeben erachtet.
    Soweit das Zitat.
    Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1982 8957
    Dr. Waigel
    In einer Stellungnahme des Allgemeinen Redaktionsausschusses des Parlamentarischen Rates zu Art. 68 des Grundgesetzes finden Sie folgende Anmerkung:
    Hier wäre als unter Umständen die Auflösung des Bundestages politisch dann wünschenswert, wenn nach der gesamten politischen Situation damit gerechnet werden kann, daß die schwache Mehrheit des alten Bundestages von einer starken Mehrheit im neuen Bundestag abgelöst wird.

    (Zuruf von der SPD: Damit können Sie nicht rechnen!)

    — Diese aus der Entstehungsgeschichte gewonnenen Erkenntnisse bestätigen unsere Auffassung.

    (Gansel [SPD]: Jede Mehrheit mit der FDP ist eine schwache Mehrheit!)

    — Sie sollten sich wenigstens die unbestrittenen Materialien der Entstehung des Grundgesetzes ruhig anhören.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Gansel [SPD]: Was Ihr Redenschreiber herausgesucht hat!)

    Mit dem als verfassungsgemäß einzuordnenden Weg der Abstimmung über die Vertrauensfrage schaffen der Bundeskanzler und das Parlament die Voraussetzungen für den Bundespräsidenten, das wichtigste Mitwirkungsrecht der Bürger innerhalb der Verfassung, nämlich Neuwahlen in einer schwierigen Situation, zu ermöglichen.
    Es bleibt mir eigentlich unerfindlich, Herr Abgeordneter Brandt, warum Sie meinten, hinsichtlich des Wahltermins den Vorsitzenden der CSU apostrophieren zu sollen; denn Sie waren doch in der SPD mehrheitlich eben nicht bereit, eine Verfassungsänderung so rechtzeitig durchzuführen, daß Sie für dieses Verfahren hätte angewendet werden können.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

    Wenn Sie glauben, dem Bundesinnenminister unterstellen zu müssen, er greife in die Ermessensfreiheit des Bundespräsidenten ein, wenn er sage, er gehe davon aus, daß der Bundespräsident dem Ersuchen nachkomme, dann muß ich sagen: Er drückt doch nichts anderes aus als seine eigene Überzeugung von der Richtigkeit des Verfahrens. Es wäre ja traurig, wenn wir von der Richtigkeit dieses Verfahrens nicht überzeugt wären.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Huonker [SPD]: Das Wort hieß „vollziehen"!)

    Es bleibt unbestritten, daß die Souveränität und die Entscheidungsfreiheit des Bundespräsidenten unangetastet bleiben.
    Ich weiß nicht, ob der Kollege Brandt noch im Saal ist, aber er hat geglaubt, vorher einen Mainzer Kollegen ansprechen zu sollen, der nichts anderes getan hat, als die Wahrheit zu sagen.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Marx [CDU/CSU]: Die Wahrheit aufgedeckt hat!)

    Es wäre besser gewesen, Herr Brandt, Sie hätten zu diesem Thema nichts gesagt;

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU)

    denn wir werden es nicht zulassen, daß Sie Ihre eigenen persönlichen Peinlichkeiten in Böswilligkeit gegen andere ummünzen.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Gansel [SPD]: Heuchler!)

    Der Rede des Abgeordneten Brandt war wirklich anzumerken, daß er an der dreitägigen Haushaltsdebatte nicht teilgenommen hat.

    (Dr. Marx [CDU/CSU]: Wo ist er denn jetzt?)

    Das war nichts anderes als eine Wahlkampftirade,

    (Zuruf von der SPD: Was hat Herr Genscher denn getan?)

    um von der eigenen Verantwortlichkeit für die Jahre von 1969 bis 1974 und auch danach abzulenken. Wem selber die Finanzminister davongelaufen sind, weil sie an den ökonomischen Sachverstand ihres eigenen Bundeskanzlers nicht geglaubt haben, der sollte zu ökonomischen, wirtschaftspolitischen und finanzpolitischen Problemen wirklich nichts mehr sagen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wer 1974 so peinlich gescheitert ist wie er, sollte sich nicht so groß über andere Probleme auslassen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Die Notwendigkeit von Neuwahlen wird verständlich, wenn man sich die Gründe vor Augen führt, die vor noch nicht drei Monaten zur Bildung der Koalition der Mitte geführt haben. Längst war der sozialliberale Konsens, der die alte Koalition über ein Jahrzehnt verband, zerbrochen. Zuletzt zeigte sich dies in der Außenpolitik. Ohne die Unterstützung durch die Opposition waren Bundeskanzler und Außenminister nicht mehr in der Lage, die von ihnen als richtig erkannte Politik durchzusetzen. Ich denke hier an den NATO-Doppelbeschluß — Außenminister Genscher hat hierzu das Notwendige gesagt—, den sich die SPD in ihrer Gesamtheit nie voll zu eigen gemacht hat.
    Die Ablehnung der Nominierung prominenter Sozialdemokraten in den letzten Tagen und Wochen wirft ein bezeichnendes Licht auf diese Feststellung.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU)

    Warum eigentlich, meine Damen und Herren, geht der Abgeordnete Brandt, der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, nicht in die Delegiertenversammlungen, um für geschätzte Kollegen wie Frau Renger, wie Herrn Haack oder wie Herrn Männing Stellung zu beziehen, Partei zu ergreifen,

    (Glos [CDU/CSU]: Weil er Staatsgeschenke verkaufen muß!)

    8958 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1982
    Dr. Waigel
    um damit zu sorgen, daß hier eine Kontinuität in wichtigen Fragen deutscher Außen- und Verteidigungspolitik fortgeführt werden kann?

    (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Überläufer sind ihm wichtiger! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    Die eben von mir genannten Kollegen sind doch Opfer der neuen Strategie von Brandt und seinen neuen Koalitionen im rötlich-grünlichen Fahrwasser.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

    In der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik traten nach der Bildung der sozialliberalen Koalition im Jahre 1980 gravierende Meinungsverschiedenheiten auf. Die Haushaltsberatungen im Sommer 1981 und die Beschlüsse des SPD-Parteitags im Frühjahr dieses Jahres führten letztlich zum Bruch der alten Koalition. Auf ihrem Parteitag hatte die SPD klar ihren Willen bekundet, den Marsch in den Sozialismus anzutreten,

    (Widerspruch bei der SPD)

    und dies ohne Rücksicht auf den Koalitionspartner und unter Billigung der der SPD angehörenden Regierungsmitglieder einschließlich des seinerzeitigen Bundeskanzlers Helmut Schmidt. Mehr Staat, höhere Abgaben, noch mehr Schulden, mehr staatlicher Dirigismus und mehr Bürokratie — das waren die Begleittöne dieses Parteitages.
    Nach Wochen lähmender Untätigkeit und lärmenden Streits fand dann das alte Regierungsbündnis sein Ende.
    Nach dem Auseinanderbrechen der alten Koalition war Helmut Schmidt nicht bereit, die politischen Konsequenzen zu ziehen und den Rücktritt einzureichen. Angesichts der Dringlichkeit der Probleme einigten sich deshalb CDU, CSU und FDP auf die Bildung einer neuen Koalition der Mitte. Von Anfang an verständigten sich die neuen Koalitionspartner darauf, ein zeitlich und sachlich begrenztes Dringlichkeitsprogramm zu verabschieden, um dann im März 1983 Neuwahlen herbeizuführen. Wie der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der Kollege Dr. Dregger, in der Haushaltsdebatte am 14. Dezember 1982 zutreffend dargelegt hat, war der Auftrag der Regierung Kohl von vornherein sowohl sachlich als auch zeitlich begrenzt.
    Angesichts der dramatischen Situation war es unumgänglich, ein Sofortprogramm zu verabschieden. Die neue Koalition der Mitte einigte sich deshalb darauf, erste Maßnahmen zur Sanierung der Bundesfinanzen und zur Sicherung der Finanzlage der Sozialversicherung zu ergreifen, erste Anstöße für die Wiederbelebung der Wirtschaft und für die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit zu geben sowie die Mißverständnisse und Irritationen über die Stellung der Bundesrepublik in der westlichen Allianz aus dem Weg zu räumen.
    Wenn wir heute Bilanz ziehen, können wir feststellen, daß mit der Verabschiedung des Haushalts 1983 und der Begleitgesetze die entscheidenden Weichenstellungen vorgenommen worden sind, um den vereinbarten Zielen näherzukommen. Zweifel an der Stellung der Bundesrepublik Deutschland im Bündnis konnten ausgeräumt werden.
    Beim Abschluß der Koalitionsvereinbarung wurden Themen bewußt ausgespart. Es gibt unterschiedliche Standpunkte zwischen CDU/CSU und FDP in einigen Bereichen. Dies gilt vor allem für die innere Sicherheit, die Rechtspolitik und die Deutschlandpolitik. Eine Ausklammerung wichtiger politischer Bereiche ist jedoch auf Dauer nicht möglich. Sie erfolgte, weil die neuen Koalitionspartner vereinbart hatten, sich nach fünf Monaten dem Urteil der Wähler zu stellen.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Angesichts der Herausforderung im nationalen und internationalen Bereich bedarf es klarer, umfassender Festlegungen für eine ganze Legislaturperiode. Hierzu braucht eine neue Regierung den Auftrag durch die Wähler. Das ist der erklärte Wille aller Parteien und Fraktionen.
    Wenn wir heute die Voraussetzungen für Neuwahlen schaffen, geschieht dies im Interesse unserer Bürger. Sie sollen die Möglichkeit erhalten, in einer entscheidenen Zeit über die weitere Zukunft unseres Landes entscheiden zu können.

    (Beifall bei der Abgeordneten der CDU/ CSU)

    Die CSU ist bereit, die neue Koalition der Mitte auch nach dem 6. März 1983 fortzusetzen. Wir haben den Mut, den Bürgern unseres Landes im bevorstehenden Wahlkampf die Wahrheit über die Probleme, die wir übernommen haben, und über die Opfer zu sagen, die zur Bewältigung der Krise von allen Gruppen unserer Bevölkerung erbracht werden müssen. In der schwersten Wirtschaftskrise unseres Landes ist die CSU bereit, ihren Beitrag zur Lösung der Probleme zu leisten, den Weg zu Neuwahlen zu ermöglichen, einen ehrlichen Wahlkampf zu führen, um das Vertrauen der Bürger zu bitten

    (Gobrecht [SPD]: Das sollen wir glauben?)

    und Regierungsverantwortung nach Neuwahlen zu übernehmen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei der FDP — Gobrecht [SPD]: Dafür haben Sie keine Chancen mehr!)