Rede von
Wolfgang
Roth
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eins muß man dem Grafen Lambsdorff lassen: er hat überhaupt nicht kaschiert, daß er hier eine Wahlrede hält. Ein paar andere von Ihnen haben das wenigstens versucht.
Aber was mich am meisten in der Rede bewegt hat, war der Vorwurf, Hans Matthöfer sei nicht ausreichend fair gewesen. Graf Lambsdorff, ich hatte gestern abend zum Glück ein paar Stunden frei und habe mir „Dallas" angeguckt. Wenn Sie von Fairneß reden, dann ist das so wie wenn J. R. Ewing ein ehrliches Geschäft anbietet.
Die Art und Weise, wie Sie Entscheidungen, die im Kabinett gefallen sind — ich nenne jetzt nur ein Beispiel, nämlich das von Herrn von Bülow, vom früheren Forschungs- und Technologieminister —, nun umdeuten bzw. frühere Kollegen verleumden, ist wirklich erstaunlich.
Damals war folgendes vorgekommen bei dem Schnellen Brüter. Herr von Bülow hatte erreicht, daß die Industrie eine Milliarde zur Finanzierung des Schnellen Brüters beiträgt. Ich rede jetzt nicht über den Sinn und die Notwendigkeit des Projekts, sondern über die Tatsache der Beiträge der Industrie. Dies war bei der hartnäckigen Weigerung der Industrie am Anfang nur erreichbar, indem man eine Milliarde für diesen Industriebeitrag als Verpflichtungsermächtigung in den Etat einsetzte. Das heißt, Herr von Bülow hat damit wenigstens Kasse erreicht. Er mußte aber durch die Verpflichtungsermächtigung riskieren, daß diejenigen, die dieses Geld bekommen würden, das auch beleihen würden. Jeder weiß, daß der Sinn von Verpflichtungsermächtigungen gerade der ist, daß der Auftragnehmer zu einem früheren Zeitpunkt, als es im Etat festgelegt ist, aktiv werden darf. Aktivität heißt natürlich auch, er kann mit der Verpflichtungsermächtigung zur Bank gehen. Das ist die Wahrheit.
8742 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 139. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 15. Dezember 1982
Roth
Wenn ein derartiger Vorgang nachträglich als Täuschung des Kabinetts bezeichnet wird, dann gibt es nur zwei Erklärungsmöglichkeiten. Erstens, Sie haben die Kabinettsvorlage nicht gelesen — was schlimmer gewesen wäre — oder zweitens, Sie wollen jetzt hier die Leute im Parlament betrügen.
Das ist kein leichter Vorwurf, den Sie da gemacht haben.
Mir fiel nun ein Satz in Ihrer Rede auf, Graf Lambsdorff, den ich auch erstaunlich fand. Sie sagten, Sie hätten Ihre Position seit 1980 nicht geändert, Sie könnten sogar Ihr Wahlkampfmaterial von 1980 verwenden. 1980 hatten wir in diesem Land 850 000 Arbeitslose. Jetzt sind es 2 Millionen. Ein Wirtschaftsminister, der bei einer derartig dramatischen Auswucherung von Arbeitslosigkeit sagt, er müsse sich nicht korrigieren, der tut mir nur noch leid.
Die ganze Rede war geprägt von einer bösartigen Polemik gegen die Sozialdemokratie, Verfälschung von Beschlüssen wie beispielsweise dem Münchner Parteitagsbeschluß. Es wäre möglich, nun auf diese Rede Punkt für Punkt einzugehen. Ich will das aus zwei Gründen nicht tun. Der erste Grund ist, daß es die letzte Rede war; und das war das Beste dieser Rede.
Der zweite Grund ist, daß ich ohnehin den Eindruck habe, daß unsere Mitbürger, vor allem die jungen Leute, die Arbeitsplätze und Beschäftigung suchen, derartige Gespensterschlachten im Parlament nicht mehr ertragen können.
Wir müssen nach meiner Überzeugung doch Alternativen zeigen.
Genau bei diesem Aufzeigen von Alternativen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, rächt sich, daß Sie eine Oppositionsstrategie betrieben haben, die eben nicht auf Rezepte und Antworten ausgerichtet war, sondern nur polemisch war. Die größere der beiden Regierungsfraktionen, die CDU/ CSU, und ihr Bundeskanzler müssen sich nämlich in dieser Debatte zum Haushalt 1983 an zwei Thesen und Tatsachen messen lassen. Erstens. Sie wußten lange, monatelang vor der tatsächlichen Regierungsübernahme, daß Sie an die Macht kommen würden; denn Sie hatten ja im Geheimen gekungelt.
Sie hätten also kurzfristig vorbereitet sein müssen.
Zweitens. 13 Jahre, wahrhaftig eine lange Zeit, waren Sie in der Opposition, um eigene Konzepte zu entwickeln. Aber wie sind Sie ins Amt gekommen? Mit leeren Händen. Sie haben unseren Etat übernehmen müssen und nur ein paar kräftige Ungerechtigkeiten der Marke Lambsdorff eingebaut. Das war es dann auch.
Das heißt, das war keine eigene Position. Es ist doch beschämend, wenn ein neuer Finanzminister faktisch den alten Etat übernehmen muß, allerdings mit drastischen Einschnitten im Sozialbereich.
Schon jetzt werden Sie erkennen, daß Sie vor allem an Ihrer Staatsschuldthese und Ihrer Kampagne in diesem Zusammenhang scheitern werden. Schon jetzt sind Sie ja auf dem Wege, eine Staatsschuld zu produzieren, die weit höher sein wird als alles das, was in der sozialliberalen Koalition je beschlossen wurde. Das ist unstreitig. Ich wage eine Prognose:
Auf Grund Ihrer Art von Politik werden Sie im Verlaufe des Jahres 1983 eine Staatsschuld von über 50 Milliarden DM produzieren. Das ist eine Prognose, die ein Stück Mut erfordert. Aber ich sehe das auf Grund der Wirtschaftsdaten voraus. Ich glaube, viele Experten neigen auch immer mehr zu dieser Auffassung.
Warum? Die ohnehin vorhandenen Abschwungkräfte des Exports — das werden wir Ihnen nicht vorwerfen, so wie Sie es früher versucht haben — werden durch die Schwächung der Massenkaufkraft nachdrücklich verstärkt.
Ihr Etat kürzt die wirksame Nachfrage der breiten Schichten der Bevölkerung um etwa 16 Milliarden DM. 125 000 Arbeitslose mehr ergeben sich genau aus diesem Etatentscheid. Das aber müssen wir Ihnen nun vorwerfen: Sie schaffen nicht nur mehr Arbeitslosigkeit, Sie schaffen damit wegen des geringeren Steuereinganges und der höheren Arbeitslosigkeit weit mehr Schulden als bei einer aktiveren, als bei einer expansiveren Politik.
Nichts ist für die Wirtschaft, für die Gesellschaft, für das Budget so teuer wie Arbeitslosigkeit. Ein Arbeitsloser kostet 25 000 DM, und er darf nichts zur Leistung der Volkswirtschaft beitragen. Er kostet also doppelt. Denn das haben Sie nach meiner Auffassung mit Ihrer These von der Anspruchsgesellschaft nicht wirklich verstanden: Der Reichtum einer Gesellschaft ist die Leistungs- und Arbeitsfähigkeit ihrer Bürger. Wer die Arbeitsfähigkeit vergeudet, schafft nicht Konsolidierung, sondern er schafft weit mehr Staatsverschuldung.
Das Bespiel USA ist ja drastisch. Damals wollte man mit ähnlichen Rezepten einen Haushaltsaus-
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gleich im Jahr 1984 erreichen. Damals wurde der damalige Präsident Carter von dem damaligen Kandidaten Reagan als Schuldenmacher kritisiert. Präsident Reagan produziert jetzt über mehr Arbeitslosigkeit 150 Milliarden Dollar Staatsschulden innerhalb von zwei Jahren.
Ich wage die These: Sie werden mit Ihrer Politik in der Bundesrepublik Deutschland dasselbe erreichen. Das zeigt sich schon jetzt. Schon am Wahltag wird klar sein, daß diese Explosion der Schulden auf Ihre falsche Konsolidierungspolitik ohne aktive Beschäftigungsmaßnahmen zurückzuführen ist. Sie muten in diesem Zusammenhang dem Markt nach meiner Überzeugung weit mehr Aufgaben zu, als man ihm zu Recht zumuten darf. Das ist kein Wort gegen Marktwirtschaft. Niemand in der Sozialdemokratischen Partei wird seit der Arbeit von Heinrich Deist oder Karl Schiller bezweifeln, wie vielfältig positiv die Leistungsfähigkeit einer Marktwirtschaft ist. Aber zu dieser Logik der Marktwirtschaft gehört auch, daß man ihr nicht Aufgaben überträgt, an denen sie scheitern muß. Wenn das geschieht, dann ist nicht nur die Marktwirtschaft schnell kaputt, wie wir in den 30er Jahren gesehen haben, sondern auch der Staat und die freiheitliche Demokratie.
Nach meiner Überzeugung ist dieser Zusammenhang derjenige, den alle Neokonservativen versperren.
Ich möchte allerdings an dieser Stelle ein Wort zu dem Begriff „neokonservativ" sagen. Ich finde den Begriff eigentlich nicht gut.
Erstens ist diese Art von Politik, die Reagan, Thatcher und diese Regierung betreiben, nicht konservativ, sondern schlicht frühkapitalistisch, und zweitens ist die Sache nicht neu.
Es ist genau die Politik, mit der man in den 30er Jahren in einem erheblichen Umfang zur Verschärfung der Wirtschaftskrise im privaten Sektor beigetragen hat.
Aber die Konzeptionslosigkeit Ihrer Regierung im wirtschaftspolitischen Raum wird gleichzeitig durch eine sehr taktiererische Prinzipienlosigkeit begleitet. Ich nenne nur ein paar Beispiele; es sind Beispiele, Graf Lambsdorff, bei denen Sie sich selber fragen müssen: Wo stehe ich eigentlich wirklich, der ich immer von mir behaupte, ich hätte Prinzipien?
Gestern noch lehnten Sie jede Steuererhöhung strikt ab; heute erhöht die CDU die Mehrwertsteuer ohne Ausgleich bei der Einkommensteuer. Das war gestern.
Ich erinnere mich genau an die Debatten.
Im Juni lehnten Sie jede weitere Abgabe im sozialen Bereich ab. Heute erhöhen Sie die Arbeitslosenbeiträge von 4 % auf 4,6 %.
Gestern wandten Sie sich scharf gegen jede Erhöhung der Nettokreditaufnahme; nun sind Sie bei 41 Milliarden DM und werden bald bei über 50 Milliarden DM sein.
Gestern haben Sie — gerade Herr Häfele — dramatische Erklärungen gegen die Ablieferung des Bundesbankgewinns an den Etat abgegeben; heute wird natürlich — heute früh hat sich der Finanzminister dazu bekannt — dieser Bundesbankgewinn auf der Einnahmeseite verbucht.
Gestern waren Sie gegen die Postabgabe; heute wird sie im neuen Etat unverändert beibehalten.
Gestern wurde verlangt, daß keine Kürzungen beim Kindergeld vorgenommen werden; heute kürzen Sie.
Gestern haben Sie unser Programm der Bausparzwischenfinanzierung und des sozialen Wohnungsbaus abgelehnt; heute übernehmen Sie es.
Gestern haben Sie die Verschiebung der Beamtenbesoldung um drei Monate als schlimmen Eingriff in die Tarifautonomie und die Besoldung kritisiert; heute wird eine sechsmonatige Verschiebung beschlossen.
Gestern sprach man von „Rentenbetrug"; heute werden die Renten real um 2,8 % gesenkt.
Dies ist nicht nur eine Übergangsregierung, meine Damen und Herren, dies ist eine Regierung ohne jede Wahrhaftigkeit!