Rede von
Dr.
Horst
Ehmke
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Kollege Cronenberg, für einen so intelligenten Wirtschaftspolitiker wie Sie
sollte es deutlich sein, daß eines der Probleme in der Weltwirtschaft das Problem ist, daß die einen nicht mehr kaufen können, was die anderen exportieren möchten, um ihren Lebensstandard zu halten. Wenn Sie sich nicht freimachen von dem Denken, daß wir das unter uns regeln könnten, wenn wir nicht einsehen, daß nicht mangelnder Reichtum, sondern falsch verteilter Reichtum einer der Gründe dieser Weltwirtschaftskrise ist, werden wir aus dieser Krise keinen Ausweg finden.
Wir fürchten aber nicht nur, daß Ihre Politik die Wirtschaftskrise verschärfen wird.
Wir fürchten auch, daß sie den sozialen Konsens gefährden wird und damit eine der Voraussetzungen, mit der Krise sozial und politisch fertig zu werden.
Wir Sozialdemokraten haben schon angesichts Ihrer Koalitionsvereinbarungen von einer Umverteilung von unten nach oben gesprochen. Wir können von diesem Vorwurf nichts zurücknehmen. Im Gegenteil!
8588 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 138. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 14. Dezember 1982
Dr. Ehmke
Die Einzeldurchrechnung Ihrer Gesetzesvorhaben zeigt, in welch rücksichtsloser, ja schamloser Weise
Sie die Kosten dieser Krise auf dem Rücken der einkommensschwachen Schichten abladen wollen.
Ich finde es sehr beachtenswert, verehrte Frau Kollegin Geiger, daß auch die zahlreichen Warnungen und Proteste aus Ihren eigenen Reihen, von Ihren Leuten im Städtetag, von Ihren Leuten im VdK, im Caritas-Verband und Familienbund, an Ihnen vorbeigegangen sind wie ein Regen, der an einer Ölhaut abläuft.
Ich wiederhole, was ich hier schon in der Debatte um die Regierungserklärung gesagt habe: Es ist unbestritten, daß es angesichts der Krise nicht so weitergeht wie bisher. Es ist unbestritten, Kollege Dregger, daß wir alle uns einschränken müssen. Aber was Sie offenbar nicht akzeptieren wollen, ist das, was wir sagen: daß allen voran die sich einschränken müssen, die den meisten Bauchspeck haben.
Sie aber nehmen gerade diese Gruppen von der Belastung aus.
Ich kann mir vorstellen, daß Sie sich so sehr als Vertreter derer, die da haben, fühlen, daß dieser Vergleich Sie nicht berührt. Aber vielleicht hören Sie ihn doch einmal mit größerem Ernst an, denn die Menschen draußen empfinden das als ein Problem.
Sie ersparen den Einkommensstarken unter dem Tarnmantel einer rückzahlbaren Zwangsanleihe
eine steuerliche Ergänzungsabgabe. Gleichzeitig machen Sie die von der sozialliberalen Koalition bereits vereinbarte Kürzung der Vorteile aus dem Ehegatten-Splitting rückgängig. Sie beschenken die Einkommensstarken mit einer Reihe neuer Steuervergünstigungen, und die von Ihnen so gefeierte Begrenzung des Kindergeldes gleichen Sie durch die Wiedereinführung steuerlicher Kinderfreibeträge wieder aus.
Zeigen Sie mir einen mit hohem Einkommen, der nach Ihrer Politik irgendeinen Beitrag zur Überwindung der Krise leistet! Das findet nicht statt.
Die einkommensschwachen Gruppen unserer Gesellschaft aber belasten Sie mit erhöhter Mehrwertsteuer, die nicht zurückgezahlt wird. Dabei sinken die Reallöhne, und die Anpassung der Renten wird von Ihnen weiter zurückgeschnitten. Sie ermöglichen massive Mieterhöhungen und kürzen das Wohngeld. Außerdem kürzen Sie das Kindergeld und heben die Bildungs- und Ausbildungsförderung für die Kinder einkommensschwacher Familien praktisch auf. Bei Familien, bei denen sich diese Ihre Kürzungen kumulieren, führt Ihre Politik zu einer sozialen Katastrophe.
Ebenso gehen Sie mit den sozial Schwächsten um. Sie schränken das Arbeitslosengeld ein, und für die Sozialhilfeempfänger drücken Sie die Leistungsanpassung für das Gesamtjahr 1983 auf 1 %. Bei einer Preissteigerungsrate von 4,5 % — ich wähle die untere Grenze, die genannt worden ist — bedeutet das eine Kürzung der Einkommen der sozial Schwächsten um real 3,5 %. Und obendrein wollen Sie noch die Berechnungsgrundlage, den Warenkorb, zum Nachteil der Sozialhilfeempfänger ändern.
Verehrte Kollegen, wem in diesem Lande wollen Sie eigentlich erklären, daß diese Politik, die Großen zu schonen und die Kleinen zu belasten, etwas mit den Worten „sozial" oder „christlich" zu tun hat?
Welch drastischer Umverteilungsprozeß von Ihnen eingeleitet wird, zeigt sich u. a. im Bereich des Wohnens. Während Sie das Haus- und Wohnungseigentum — allerdings auf eine in sich ungerechte Weise — verstärkt fördern, demontieren Sie gleichzeitig das im Grundgesetz verankerte, von der sozialliberalen Koalition, j a, auch von Ihnen — denn Sie haben ja 1974 unserem Mietrecht zugestimmt —, das also von uns allen ausgebaute soziale Mietrecht.
Sie eröffnen mit dieser Politik neben der Grundstücks-Spekulation auch der UmwandlungsSpekulation Tür und Tor. Es droht eine Verdrängung sozial schwacher Mieter, die man eines Tages vielleicht in Erinnerung an das Bauernlegen des Mittelalters als „Mieterlegen" bezeichnen wird.
Diesen Prozeß fördern Sie noch durch eine Kürzung des Wohngeldes, von der etwa die Hälfte der wohngeldberechtigten Familien betroffen wird.
Wie mein Fraktionskollege Ernst Waltemathe hier erst am vergangenen Freitag noch einmal dargelegt hat, nehmen Sie Kürzungen des Wohngeldes bis zu 50% vor, wodurch die soziale Lage insbesondere von Schwerbeschädigten und von Kinderreichen drastisch verschlechtert wird.
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 138. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 14. Dezember 1982 8589
Dr. Ehmke
Oberbürgermeister aus Ihren eigenen Reihen wie auch der Deutsche Städtetag haben Sie darauf hingewiesen, daß diese Wohn- und Mietenpolitik nicht nur zu einer weiteren massiven Belastung der Gemeinden im Bereich der Sozialhilfe führen muß, sondern die Gemeinden auch vor das Problem der Unterbringung einer wachsenden Zahl von Obdachlosen stellen wird. Aber auch diese Mahnungen aus Ihren eigenen Reihen scheinen Sie von Ihrer neokonservativen Gesellschaftspolitik nicht abbringen zu können.
Genauso schlimmm sind die Kürzungen der Bildungs- und Ausbildungsförderung, insbesondere des Schüler-BAföG. Lassen Sie mich dazu einmal drei konkrete Beispiele anführen.
Erstes Beispiel: Eine Familie mit zwei Kindern, 14 und 17 Jahre alt; die 17jährige Tochter besucht die 11. Klasse eines Gymnasiums; der Vater ist Facharbeiter, Alleinverdiener, Nettoeinkommen 1 750 DM. Die Familie erhält für die 17jährige Tochter heute 275 DM Schüler-BAföG. Ab Herbst 1983 — natürlich erst nach dem Wahltag; erst soll gewählt werden, dann soll rasiert werden —
entfällt die Förderung.
— Herr Kollege Schwarz, denken Sie, bevor Sie hier viel zwischenrufen, einmal über die Zahlen nach: Damit entfallen 13,5 % der der Familie zur Verfügung stehenden Mittel.
Zweites Beispiel: Eine alleinerziehende Verkäuferin mit zwei Kindern und einem Nettoeinkommen von 1 400 DM hat bisher 550 DM für ihre Kinder in Klasse 12 eines Gymnasiums und Klasse 11 einer Fachoberschule erhalten.
Ab Herbst 1983 entfällt der Gesamtbetrag und damit mehr als ein Viertel des bisherigen Familieneinkommens.
— Ich wundere mich, daß Sie da noch Zwischenrufe machen. Sie sollten einmal darüber nachdenken, verehrte Kollegen, was Sie in diesem Lande eigentlich anrichten!
Ein drittes Beispiel. Eine Witwe mit einer Rente von 900 DM erhielt bisher 490 DM BAföG für einen Sohn in einer Berufsaufbauschule. Ab Herbst 1983 fällt diese Ausbildungshilfe fort, was eine Kürzung des Familieneinkommens um 35 % bedeutet.
Meine Damen und Herren, dieser Kahlschlag wird dazu führen, daß Kinder aus einkommensschwachen Familien überhaupt nicht mehr auf weiterführende Schulen und Berufsschulen gehen können.
Wenn die FDP das wirklich ernst genommen hätte, Kollege Hoppe, dann hätte sie dagegen gestimmt.
Daß diese Kinder nicht mehr auf weiterführende Schulen gehen können, wird dazu führen, daß sich die Klassen dieser Schulen leeren werden und daß Sie eine dramatische Verschärfung auf dem Ausbildungsmarkt kriegen, weil schon jetzt nicht genügend Plätze da sind. Sie wissen das alles und machen diese Politik doch.
Ich wende mich noch einmal an die Kollegin Geiger, die so besonders empört reagiert.
Frau Kollegin Geiger, bei der öffentlichen Anhörung haben alle angehörten Verbände Ihr skrupelloses Vorgehen abgelehnt, vom Bundeselternbeirat bis zum Beamtenbund, von den Jusos bis zur Schülerunion, von den Gewerkschaften bis zu den Jungdemokraten, vom Bundesinstitut für Berufliche Bildung bis zur Arbeitsgemeinschaft Freier Schulen. Alle haben Sie vor diesem Weg gewarnt. Aber Sie sind fest entschlossen, Ihren Weg in den Sozialdarwinismus weiterzugehen.
Gerade Ihre Rückkehr zum Dreiklassenschulrecht zeigt, daß Ihre Gesellschaftspolitik reaktionär ist.
Sie läuft — ich wiederhole es — auf eine Entsolidarisierung unserer Gesellschaft hinaus. Dieser gesellschaftspolitischen „Rolle rückwärts" hat der Kanzlerkandidat der SPD, Hans-Jochen Vogel, den Vorschlag eines Solidarpakts entgegengestellt, durch den sich alle Gruppen unseres Volkes verpflichten sollen, je nach ihrer Finanzkraft zur Überwindung der Krise beizutragen.
Denn, meine Herren, wir brauchen in der Tat eine große gemeinsame Anstrengung.
Aber wir brauchen eben nicht eine Anstrengung der einen auf Kosten der anderen, wie Sie das praktizieren.
Der Wähler muß nun entscheiden, welchen Weg unser Volk gehen soll.
Angesichts des Anschauungsunterrichts, den uns
die Übergangsregierung der Rechtskoalition gebo-
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Dr. Ehmke
ten hat, soll sich keiner im nachhinein darüber beschweren, er habe nicht gewußt, was die Unionsparteien mit uns vorhaben.
Lassen Sie mich zum Schluß auf die Frage kommen, warum Sie gegen allen Sachverstand und gegen den Rat so vieler Leute aus Ihren eigenen Reihen diese Politik eigentlich machen. Manchem von Ihnen wird dann vielleicht auch erklärt, warum er hier so heftig zwischenruft. Meiner Meinung nach erklärt sich Ihre Politik daraus, daß Sie die Wirklichkeit durch die Brille eines neokonservativen Gesellschaftsmodells sehen.
— Ich werde das jetzt vortragen. Sie werden gleich zustimmen, Herr Kollege.
Nach diesem Modell stecken wir angeblich dank der Machenschaften dunkler Mächte — der Linken, der Intellektuellen, wer auch immer — in einer geistig-moralischen Krise. Sie sei, so sagen die Neokonservativen und die deutschen Christdemokraten, gekennzeichnet durch mangelnden Leistungswillen, Anspruchsdenken und fehlenden Mut zur Selbständigkeit und Eigenverantwortung. Das führe zu einer Überlastung des Systems der sozialen Sicherung; diese führe zu einer Finanz- und diese wiederum zu einer Wirtschaftskrise. Wolle man die Krise bekämpfen, müsse man also massive Einschnitte in die Sozialleistungen vornehmen. Das so eingesparte Geld aber müsse man den wirtschaftlich Starken geben, damit sie die Wirtschaft wieder ankurbeln können. — Ich wundere mich, Herr Kollege Schwarz, daß Sie nicht klatschen. Das ist doch die Philosophie, die Sie hier dauernd verkaufen. Im übrigen muß man das Ganze dann natürlich mit geistig-moralischen Erweckungspredigten über Leistungs-, Dienst- und Opferbereitschaft begleiten, damit die Einkommensschwachen bei dieser Operation auch stillhalten.
Herr Kollege Dregger, ich muß Ihnen ein Kompliment machen: Sie haben heute morgen die vollständigste Sammlung der einschlägigen Phrasen geboten, die ich bisher in diesem Hause gehört habe.
In Wirklichkeit verläuft der Ursachenzusammenhang aber doch gerade umgekehrt.
Wir befinden uns — aus Gründen, die hier schon oft analysiert worden sind — in einer erneuten Krise der Weltwirtschaft
mit Auswirkungen auf alle Länder in der Welt. Diese Wirtschaftskrise führt zu einer ebenfalls weltweiten Finanzkrise, und diese Finanzkrise führt zu einer Infragestellung unseres bisherigen Systems sozialer Sicherung und seiner Finanzierung. Damit wir uns da nicht auseinanderreden: Die
Notwendigkeit des Umbaus des Systems der sozialen Sicherung ist unbestritten.
Ich glaube, daß Bruno Kreisky einen guten Satz gesagt hat, als er die Richtung dieses Umbaus mit den Worten umschrieb: „Vom Wohlfahrtsstaat zur sozialen Demokratie".
Sehen Sie, unbestritten ist auch, da der Mensch nun einmal sündhaft ist — nach meinem christlichen Verständnis kann uns allerdings nur die Gnade darüber hinwegtrösten; wenn ich heute morgen recht gehört habe, Herr Kollege Dregger, tritt bei Ihnen der Schutz des Staates an die Stelle der Gnade —,
daß der Wohlfahrtsstaat nicht nur seine Schwächen und Fehler, sondern auch seine moralischen Versuchungen hat. Auch das ist unbestritten zwischen uns. Aber, meine Damen und Herren von den Unionsparteien, der Wohlfahrtsstaat ist nun sicher nicht die Ursache dessen, was Sie als geistig-moralische Krise bezeichnen.
Lassen Sie mich dazu zunächst zitieren, was Jochen Vogel zu diesem Thema in seiner Rede in Kiel gesagt hat:
Maßhalten
— so sagte Jochen Vogel —
beginnt nicht bei der Sozialhilfe, sondern bei den Vergütungen von Aufsichtsräten, die verschlafen, daß ihre Unternehmen aus dem Markt fallen.
— Meine Damen und Herren, ich verstehe, daß Sie das noch einmal von mir hören wollen. Ich sage es Ihnen noch einmal. Gerade als Mitglied einer DGB-Gewerkschaft bin ich über das, was bei der Neuen Heimat passiert ist, noch sehr viel empörter als Sie.
Auch dort wurden ja nicht die Aufsichtsratsvergütungen beschnitten.
— Ja, ich mache Ihnen gegenüber kein Hehl daraus. Ich finde, es ist traurig, wenn sich ein gewerkschaftliches Unternehmen so benimmt wie andere kapitalistische Unternehmen.
— Aber Sie wollen ja sicher noch Jochen Vogel weiter hören.
— Sie sind intolerant; Sie werden sich ja noch an ihn gewöhnen müssen.
Jochen Vogel sagte weiter:
Und die Bekämpfung von Mißbrauch beginnt nicht beim Arbeitslosengeld, sondern bei der Steuerhinterziehung und beim Subventionsschwindel.
Daß der sozial Schwächere von vornherein eher zum Mißbrauch neige als der Stärkere, ist eine durch nichts bewiesene Behauptung.
Mehr noch: Sie ist eine Beleidigung, hinter der kühl kalkuliertes Interesse steckt.
Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, das gilt a nicht nur für die Frage des Mißbrauchs: Die moralischen und kulturellen Unsicherheiten unserer Gesellschaft, die Sie als Verfallserscheinungen beklagen, wurzeln insgesamt viel tiefer. Sie entspringen der Zerstörung traditioneller Strukturen des Familien- und Arbeitslebens durch die arbeitsteilige Industriegesellschaft. Gerade unsere Art des Wirtschaftens ist eine Ursache für die Erscheinungen, die Sie in Form von Negativbildern aus dem Lesebuch der heilen Welt als moralische Krise beklagen.
Sie sind da wie alle Neokonservativen sehr inkonsequent. Sie wollen die materiellen Ergebnisse der arbeitsteiligen Konkurrenzgesellschaft, ja Sie bewundern sie geradezu. Ihre negativen kulturellen Folgen aber wollen Sie nicht dieser Konkurrenzgesellschaft selbst, sondern einem angeblichen Angriff auf sie zuschreiben. In Wirklichkeit war es doch gerade der Gewinnmechanismus der Konkurrenzgesellschaft, der den Egoismus, den Besitztrieb, die Hab- und Prunksucht, vor allem aber die Rücksichtslosigkeit gefördert hat, die den Gemeinsinn und die Solidarität der Menschen in der Industriegesellschaft zu untergraben drohen.
Jochen Vogel hat in diesem Zusammenhang sehr zu Recht Papst Johannes Paul II. zitiert.
— Es ehrt mich, daß Sie beim Papst offenbar die gleiche Begeisterung zu Zwischenrufen entwickeln wie bei mir. Ich darf ihn trotzdem zitieren.
Papst Johannes Paul II. hat gesagt:
Das notwendige wirtschaftliche Wachstum mit seinen ihm eigenen Gesetzmäßigkeiten muß in die Perspektive einer ganzheitlichen und solidarischen Entwicklung der einzelnen Menschen und Völker einbezogen werden.
Sonst wird der Teilbereich wirtschaftlichen Wachstums so übermächtig, daß er den gesamten Bereich des menschlichen Lebens seinen partiellen Erfordernissen unterordnet, dabei die Menschen erstickt, die Gesellschaft zersetzt und schließlich in den eigenen Spannungen und Exzessen steckenbleibt.
So weit Papst Johannes Paul II.
Sie aber, meine Damen und Herren von der Rechtskoalition,
drehen das Rad doch gerade zurück. Sie machen doch eine Politik gegen mehr soziale und wirtschaftliche Mitbestimmung. Sie machen doch eine Politik gegen mehr Solidarität in dieser Industriegesellschaft.
Vielleicht bringe ich Sie doch noch zu einem Hauch von Nachdenklichkeit, wenn ich Ihnen vorführe, wie Ihr schiefes Verhältnis zur Wirklichkeit sich in Widersprüchen zwischen dem niederschlägt, was Sie einerseits sagen, und dem, was Sie andererseits tun.
Sie sagen einerseits — und daran ist manches —, wir hätten zuviel Staat. Aber diese verbale Liberalität bezieht sich nur auf den wirtschaftlichen Bereich. Im Bereich etwa der Meinungs- und Versammlungsfreiheit treten Sie andererseits jeweils für mehr staatliche Regulierung ein.
Sie sagen einerseits, wir hätten zuviel Bürokratie. Andererseits haben Sie in den zwei Monaten Ihrer
8592 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 138. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 14. Dezember 1982
Dr. Ehmke
Übergangsregierung einen traurigen Rekord an unsinniger Bürokratisierung aufgestellt,
in der Änderung des Verfahrens für Kriegsdienstverweigerer ebenso wie in der Ausgestaltung der sogenannten Zwangsanleihe, in der Neuregelung des Kindergelds ebenso wie in der Selbstbeteiligung an den Krankenhauskosten.
Sie sagen einerseits: Wir brauchen mehr Leistung. Aber Sie fördern andererseits die leistungslosen Einkommen aus Grundstücks- und UmwandlungsSpekulation.
Fängt man an, das Leistungsthema genauer zu diskutieren, so zeigt sich bald: Ihre Leistungsideologie ist nicht viel mehr als ein Instrument im Kampf gegen demokratische Gleichheit.
Was mich in der Sozialpolitik erstaunt, ist folgende Schizophrenie: Sie sprechen einerseits vom Anspruch der Familie aus Art. 6 Grundgesetz auf den Schutz des Staates. Andererseits kritisieren Sie das Anspruchsdenken — und bauen dementsprechend den Schutz der Familie ab: im Mietrecht, in der Bildungs- und Ausbildungsförderung, im Kindergeld wie im Wohngeld —, was Sie wiederum nicht daran hindert, den Frauen weiterhin ein Erziehungsgeld zu versprechen, obwohl Sie wissen, daß das Milliarden kosten würde und daß diese Milliarden nicht da sind.
Und, meine Damen und Herren von den Unionsparteien, was sollen eigentlich die unserer Hilfe bedürftigen Kinder und Alten mit Ihrer Aufforderung zu mehr Leistung, mehr Selbständigkeit und mehr Eigenverantwortung anfangen?
Ist es denn nicht gerade auch nach dem Grundgesetz die Aufgabe der Gesellschaft, ihnen die Voraussetzungen für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit bzw. für soziale Sicherheit im Alter zu schaffen? Sind wir uns darüber etwa nicht mehr einig?
In Wahrheit ist es doch so — die Kollegen Dohnanyi und Mikat waren sich hier neulich darüber einig —: Die arbeitsteilige Konkurrenzgesellschaft mit ihrer Mobilität und Spezialisierung hat die Großfamilie unwiderruflich zerrissen. Mit ihrer Mobilität, mit ihrer Akkord- und Schichtarbeit, auch mit der Arbeit beider Elternteile gefährdet sie heute selbst die ,,Rest"-Familie. Und Sie fördern in Ihrem wirtschaftlich-politischen Handeln diesen Prozeß, um ihn dann in Ihren familienpolitischen Sonntagsreden lauthals zu beklagen.
Um nur ein Beispiel zu geben: Herr Bundeskanzler, Sie haben neulich in Ihrer Regierungserklärung von der Familie gesprochen, die wieder unter einem Dach wohnen können solle. Ihre gerade beschlossene Wohnungspolitik wird aber vielen Familien ihre Wohnung und damit ihr Zuhause nehmen.
Sie beklagen einerseits die Einsamkeit und die Beziehungslosigkeit vieler Menschen in unserer Gesellschaft, und Sie möchten sie andererseits mit Dutzenden von Kabelfernsehprogrammen überschütten. Meine Damen und Herren, praktisch gesehen ist es doch so: Ihnen ist die Aufhebung von sogenannten Investitions-Hemmnissen noch immer wichtiger als die Lebensqualität einzelner Menschen und Familien.
Ihre Politik steht nicht nur in diesem Punkt im direkten Gegensatz zu den Mahnungen und Anregungen der Kirchen. Ich muß dies leider sagen: Die Berufung auf die kirchliche Soziallehre dient den Unionsparteien heute leider im wesentlichen nur noch zur Bemäntelung einer strikt interessengebundenen Wirtschaftspolitik.
Wir Sozialdemokraten sind dagegen der Meinung, daß die Fortsetzung einer Wirtschaftspolitik, die die Krise nur verschärft, daß die Fortsetzung einer Sozialpolitik, die die Schutzbedürftigen gerade in der Stunde der Not schutzlos werden läßt, und die Fortsetzung einer Gesellschaftspolitik, die der Entwicklung zu mehr demokratischer Gleichheit den „Herrn-im-Hause"-Standpunkt entgegenstellt, für unser Volk ein politisches Unglück wäre.
Darum bitten wir die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes,
dieser Politik durch ihre Stimmabgabe am 6. März ein Ende zu setzen.
Wir sind der festen Überzeugung, daß es dem inneren Frieden dieses Landes dienen würde,
wenn diese Übergangsregierung eine bloße Episode bliebe.