Rede von
Dr.
Horst
Ehmke
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor zwei Monaten hat der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung für die Rechtskoalition von CDU/CSU und FDP
einen politischen Neuanfang, eine wirtschaftliche Wende und eine geistig-politische Erneuerung versprochen. Wir Sozialdemokraten haben bereits damals darauf hingewiesen, daß das Zustandekommen dieser Regierung, ihre personelle Zusammensetzung und ihr Koalitionsprogramm nicht zu einem Gewinn, sondern zu einem Verlust an Stabilität und politischer Glaubwürdigkeit führen werden.
Die vergangenen Wochen haben uns in unseren Sorgen und Befürchtungen bestätigt.
Der Bundeskanzler hat zwar ein beachtliches Programm an Reisen, Lächeln und Händeschütteln absolviert. Auch die übrigen Regierungsmitglieder sind fleißig in die Medien gegangen, und der Propagandaapparat der CDU läuft auf Hochtouren. Die tatsächlichen Probleme unseres Landes aber, verehrte Kollegen, haben sich verschärft.
Daher ist es zu begrüßen, daß diese Übergangsregierung abtritt.
Die Art, in der Sie, Herr Bundeskanzler, die Frage der Neuwahlen in Unklarheit wochenlang vor sich hergeschoben haben, war allerdings eine zusätzliche Zumutung für den Bürger, vom Herrn Bundespräsidenten gar nicht zu sprechen.
Wir Sozialdemokraten wollen seit Wochen Neuwahlen.
Wir werden Ihre Vertrauensfrage aus politischer Überzeugung mit einem klaren Nein beantworten.
Die verfassungsrechtliche Verantwortung, Herr Bundeskanzler, für den Weg zu Neuwahlen, den Sie gewählt haben, liegt allerdings allein bei Ihnen.
Bei uns gibt es unter diesem Aspekt gegen den von Ihnen gewählten Weg Bedenken. Wir hätten einen Rücktritt für die saubere Lösung gehalten.
Daß die Kollegen von der FDP Neuwahlen mit gemischten Gefühlen entgegensehen, kann man verstehen. Die FDP befindet sich nach Ihrem Wortbruch in einem desolaten Zustand; das Hamburger Wahlergebnis wird das erneut bestätigen. Viele Mitglieder haben die Partei verlassen. Die Restpartei hat uns in den vergangenen Wochen ein jammervolles Schauspiel geboten.
Scheinkämpfe etwa um den BAföG-Abbau oder um den Rhein-Main-Donau-Kanal standen Seite an Seite mit einem kläglichen Umfallen selbst in so wichtigen politisch-moralischen Fragen wie denen
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der Kriegsdienstverweigerung oder der Menschenrechte in der Türkei.
Die Kritiker, glaube ich, haben recht: Eine zu einem Mitläufer der Unionsparteien werdende FDP hat keine politische Funktion mehr, sie ist überflüssig.
Die FDP befürchtet daher zu Recht, daß ihr die Wähler am Wahltag diese Tatsache bestätigen werden.
Die Unionsparteien dagegen hoffen, nach Neuwahlen ohne die FDP regieren zu können. Das voreilige Gerangel um Ministerposten ist dabei ein erneuter Ausdruck ihres schon beim Sturz von Bundeskanzler Schmidt deutlich gewordenen Mangels an Respekt vor dem Wähler. Jetzt muß aber erst einmal der Wähler das Wort haben, damit sich die neue Regierung — anders als die Übergangsregierung — in einer schwierigen Zeit für ihre Politik auf ein Vertrauensvotum des Wählers stützen kann.
Diese Übergangszeit hat auch durchaus ihr Gutes gehabt, vor allem in Sachen politischer Klarheit. Selbst die Unionsparteien beteuern nun eifrig, daß unsere wirtschaftlichen Schwierigkeiten Folgen einer Weltwirtschaftskrise sind.
Die Unwahrheit Ihrer Oppositionsaussage, an allem seien nur die Sozial-Liberalen schuld,
schleppen Sie zwar in Ihrer „Erblast"-Kampagne noch weiter mit sich herum. Angesichts der Entwicklung der Weltwirtschaftskrise schlägt diese Kampagne aber mehr und mehr gegen Sie selbst zurück.
Diejenigen Bürger, vor allem junge Bürger, unseres Landes, die dem Eindruck erlegen waren, es gebe zwischen den Unionsparteien und der SPD gar keine Unterschiede mehr, sind von Ihnen in einem Schnellkurs eines Besseren belehrt worden.
Selbst großen Teilen Ihrer eigenen Anhängerschaft haben Sie geradezu brutal klargemacht, daß Ihr verbales Bekenntnis zu sozialer Gerechtigkeit in Ihrer politischen Praxis nicht viel mehr Bedeutung hat als Ihre erhabenen Allgemeinheiten über die geistig-moralische Krise.
Ihre personalpolitische Glaubwürdigkeit ist sicher nicht dadurch größer geworden, daß Sie dem
Fall Zimmermann noch die Fälle Schwarz-Schilling und Geißler hinzugefügt haben.
Ihre Glaubwürdigkeit ist auch nicht dadurch gewachsen, daß Sie verfassungsrechtliche Bedenken etwa in den Fragen der Zwangsanleihe oder in den Fragen des Finanzausgleichs geflissentlich beiseite geschoben haben.
Schließlich sind Sie nicht dadurch glaubwürdiger geworden, daß Sie an Ihren verhängnisvollen Plänen zum Abbau des sozialen Mietrechts und der Ausbildungsförderung sowie zur weiteren Verschlechterung des Kriegsdienstverweigerungsverfahrens festgehalten haben, obwohl doch selbst viele Ihnen nahestehende Organisationen und Personen gegen Ihre Vorhaben massive Bedenken erhoben haben. Die Art, wie Sie diese Gesetze durch den Bundestag gepeitscht und die Anhörungen zur Farce gemacht haben, hat darüber hinaus der Glaubwürdigkeit unseres parlamentarischen Verfahrens geschadet.
Und all das, verehrte Damen und Herren von den Unionsparteien, für eine tief fragwürdige Politik.
Über diese Politik sagen die zwei Monate Ihrer Übergangsregierung mehr aus, als alle Wahlreden und Wahlversprechen noch aussagen werden. An Ihren Taten kann man Sie in der Tat erkennen.
Sie haben sich zwar angesichts der Neuwahlen noch zurückgehalten, aber das, was Sie getan haben, reicht durchaus aus, dem Bürger deutlich zu machen, wie Ihre Politik aussehen würde, wenn Sie nach Neuwahlen etwa keine Rücksicht mehr zu nehmen hätten.
Sie haben vor wenigen Wochen großsprecherich verkündet, das wirksamste Konjunkturprogramm sei ein Regierungswechsel.
Dieses politische Eigenlob ist schneller geplatzt als eine Seifenblase.
Die Wirtschaftskrise, verehrte Kollegen, hat sich in den letzten zwei Monaten erheblich verschärft. Die wirtschaftlichen Trendzahlen, nicht nur die Arbeitslosenzahlen, sind fast alle negativ.
Es gibt einzelne positive Einsprengsel, auch sie übrigens Erbe der sozialliberalen Koalition, etwa die
Nichterhöhung oder gar Senkung von Krankenkas-
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senbeiträgen oder die Fortsetzung der Zinssenkungspolitik der Bundesbank. Aber wir sind der Meinung: Man darf diese Zeichen nicht überschätzen.
Die sozialliberale Regierung hat sich, leider, von Graf Lambsdorff und anderem sogenanntem wirtschaftlichem Sachverstand 1980 einreden lassen,
wir hätten es nur mit einer „Flaute" zu tun, die wir im ersten Halbjahr 1981 „durchsegeln" würden, um dann wieder einen wirtschaftlichen Aufschwung zu erleben. Jetzt, verehrte Kollegen, sind wir am Jahresende 1982 und die sogenannte Flaute sieht eher wie ein Sturmtief aus.
Angeblich aus Gründen der Wirtschaftspsychologie abgegebene zu optimistische Lagebeurteilungen waren und bleiben fatal. Das gleiche gilt für zu optimistische Prognosen. 3 % Wachstum für 1983 hat Herr Lambsdorff noch vor wenigen Monaten geweissagt. Verehrte Kollegen von den Unionsparteien, wir haben bitteres Lehrgeld für diese Fehler im Jahre 1980 gezahlt. Machen Sie doch nicht noch einmal den gleichen Fehler.
Wir müssen uns der Tatsache der Weltwirtschaftskrise stellen. Der Kanzlerkandidat der SPD, unser Freund Jochen Vogel, hat in Übereinstimmung mit Helmut Schmidt zu Recht auf die Notwendigkeit gemeinsamer internationaler Anstrengungen hingewiesen. Und da sieht es nicht gut aus. In den GATT- wie in den EG-Verhandlungen ist es diesmal nicht gelungen, die Versuchungen des Protektionismus zurückzuweisen. Dieser Fehlschlag, Herr Kollege Dregger, wird auch nicht dadurch wettgemacht, daß Sie uns wiederholt versichern, das Konferenzklima sei besonders gut gewesen.
Der amerikanisch-europäische Streit um den freien Welthandel auch mit dem Osten ist nicht beigelegt. Der Herr Bundeskanzler hat zwar nach seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten von einer „substantiellen Einigung" gesprochen, in Wirklichkeit hat man sich aber lediglich auf die Einsetzung einiger Kommissionen einigen können.
In der Politik gegenüber der Dritten Welt schließlich hat der neue Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit deutlich werden lassen, daß sich die Vorstellungen der Unionsparteien mühelos mit den ideologischen Vorstellungen der amerikanischen Rechten in Übereinstimmung bringen lassen. Zwar ist Herrn Warnke inzwischen offenbar bis zur Neuwahl Zurückhaltung anempfohlen worden, aber das Zögern der Bundesregierung hinsichtlich der Zustimmung zur Seerechtskonvention spricht in bezug auf ihre Anpassung an amerikanische Positionen eine ebenso beredte wie alarmierende Sprache. Denn gerade die amerikanische Politik hat — und nicht nur in bezug auf die Dritte Welt — in den vergangenen Jahren wesentlich zu den Turbulenzen der Weltwirtschaft beigetragen.
Sie hat das übrigens aus dem gleichen neokonservativen Geist heraus getan, der auch diese Rechtskoalition beseelt.
Die Warnungen und Empfehlungen der BrandtKommission
hinsichtlich der Entwicklung des Nord-Süd-Verhältnisses werden in den Wind geschlagen, obwohl unsere eigene wirtschaftliche Zukunft und die Zukunft unserer Kinder von der Lösung dieser Fragen abhängt.
Die nationalen wirtschaftlichen Faktoren und Indikatoren haben sich ebenfalls verschlechtert, teils auf Grund der weltwirtschaftlichen Entwicklung, teils auf Grund der von der Übergangsregierung eingeschlagenen Politik. Ich verstehe zwar, meine Damen und Herren von der Rechtskoalition, daß Sie sich dagegen zu wehren suchen,
daß diese Verschlechterung Ihnen angekreidet wird. Aber Sie sind insoweit doch nur die Opfer Ihrer eigenen Propaganda aus der Oppositionszeit.
Wer so oft und so laut verkündet hat, an allen wirtschaftlichen Schwierigkeiten seien nur die Sozialdemokraten schuld, der darf sich nicht wundern, wenn die Bürger jetzt von ihm die schnelle Einlösung seiner leichtsinnigen Versprechen fordern.
Im übrigen haben wir schon in der Debatte über die Regierungserklärung und in der ersten Lesung des Haushalts 1983 dargelegt, warum die von Ihnen eingeschlagene Politik die Krise noch verschärft, Sie also für die negative Entwicklung mitverantwortlich sind.
Sie geben Steuergelder an Leute zurück, die diese Gelder nicht investieren, sondern weit eher wieder in hochverzinslichen Papieren anlegen werden. Auf der anderen Seite schränken Sie durch Ihre massiven Einschnitte in die Sozialleistungen und durch die Mehrwertsteuererhöhung die Nachfrage und damit den Binnenmarkt zusätzlich ein mit der Gefahr, daß sich daraus ein selbstnährender Schrumpfungsprozeß entwickelt. Unser Beschäftigungsprogramm lehnen Sie ab. Die ohnehin schon eng begrenzten Möglichkeiten der Gemeinden zu öffentlichen Investitionen schränken Sie weiter ein, und dies trotz des Protestes von Kommunalpolitikern aus Ihren eigenen Reihen.
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Industriepolitisch wird bei Ihnen, und zwar keineswegs nur im Bereich von Kohle und Stahl, die verhängnisvolle Tendenz deutlich, die Dinge treiben zu lassen.
Wir Sozialdemokraten wissen, daß auch wir mit unseren Vorschlägen die Arbeitslosigkeit nur dämpfen, nicht aber schnell beseitigen könnten. Aber wir haben die Bundesrepublik mit unserer Politik besser über die Krise gebracht als jedes andere vergleichbare Land,
und an diesem Maßstab werden Sie sich messen lassen müssen.
Sie versagen sich aber nicht nur einer aktiven Beschäftigungspolitik. In enger Bindung an den Arbeitgeberverband tabuisieren Sie auch das Thema der Arbeitszeitverkürzung. Einige Kollegen von Ihnen machen da zwar inzwischen im Gegensatz zum Bundeskanzler Lockerungsübungen. Aber Sie haben unser Arbeitszeitgesetz ebenso abgelehnt wie unseren im Beschäftigungsprogramm enthaltenen Vorschlag einer Vor-Ruhestands-Regelung, die auf Anregungen des Kollegen Döding zurückgeht. Dabei ist es in der ernsthaften Diskussion ganz unbestritten, daß die Arbeitszeitverkürzung in einer „Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht", um Hannah Arendt zu zitieren, genauso wichtig ist wie die Schaffung neuer Arbeitsplätze durch private und öffentliche Investitionen.
Gerade an diesem Thema wird auch deutlich, daß die heutige Krise der Weltwirtschaft — Herr Bürgermeister von Dohnanyi hat es hier neulich skizziert —
andere Ursachen hat und daher andere Fragen aufwirft als die Weltwirtschaftskrise der 20er und der 30er Jahre. Von der Aufbauphase nach dem Krieg ist die heutige Situation so grundverschieden, daß Ihre Hoffnung, die Probleme der 80er Jahre mit einer Rückkehr zur Politik der 50er Jahre lösen zu können, nur als eitel bezeichnet werden kann.
In der Literatur — ich habe mich leider nicht mehr rechtzeitig erinnert, bei welchem Autor — gibt es die Geschichte von einer stillgelegten Fabrik, an deren Tor zu lesen stand: „Wegen Reichtums geschlossen." Angesichts des in den letzten Jahrzehnten ständig gewachsenen Reichtums in der westlichen Welt könnten wir heute an die Fabriktore vieler stillgelegter Betriebe schreiben: „Wegen ungerecht verteilten Reichtums geschlossen."
Das gilt international wie national, und es gilt auch für die Verteilung der Arbeit.
— Meine Damen und Herren der Rechtskoalition, die Sie sich bei der Erörterung der die Menschen unseres Landes bedrückenden Probleme so amüsieren,
ich will Ihnen etwas sagen: Ich verstehe Ihr hämisches Zwischenrufen; denn in Denkanstößen der Alternativen findet sich mehr Nachdenkliches über diesen Umbruch unserer Arbeitsgesellschaft als in Ihrem ganzen ideologischen Neokonservatismus.