Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 1. Oktober wurde Helmut Kohl zum Bundeskanzler gewählt. In den zehn Wochen danach wurde folgendes bewirkt:
Erstens. Die Bundesrepublik Deutschland hat wieder eine voll handlungsfähige Regierung, die sich auf eine Mehrheit stützen kann, die zur Zusammenarbeit, d. h. auch zum Kompromiß bereit und fähig ist.
Die Zeit der Lähmung und der Zerstrittenheit, die die letzten Jahre der Regierung Schmidt gekennzeichnet hatten, ist beendet. In Bonn wird wieder regiert und zielstrebig gearbeitet.
Innenpolitisch galt es zunächst, die Fahrt in den finanziellen Abgrund abzubremsen — nicht zu stoppen; das ist in acht Wochen nicht zu machen — und erste wirksame Anstöße für die Wirtschaftsbelebung und damit für die Eindämmung der Massenarbeitslosigkeit zu geben. Das geschieht zum Teil durch Maßnahmen der Ressorts, die den Haushalt nicht berühren, z. B. im Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie oder des Bundesministers für das Post- und Fernmeldewesen, im übrigen durch den Nachtragshaushalt 1982 und den Ergänzungshaushalt 1983, die wir mit den Begleitgesetzen am Donnerstag dieser Woche verabschieden werden.
Ich möchte diese Haushaltsgesetze politisch bewerten als das erste Gesetz und das zweite Gesetz zur Wiederherstellung der wirtschaftlichen und finanziellen Stabilität der Bundesrepublik Deutschland.
In dieser Bezeichnung kommt unsere Entschlossenheit zum Ausdruck, gleichsam im Taktverfahren
unser Land Schritt für Schritt aus der Krise herauszuführen.
Meine Damen und Herren, mit diesen Gesetzen, die unter dem Druck einer sich verschärfenden Wirtschafts- und Finanzkrise in kurzer Zeit entworfen, beraten und beschlossen werden mußten, haben beide, die neue Regierung und die neue Koalition, ihre erste große Bewährungsprobe bestanden — mit Bravour bestanden, möchte ich sagen.
Außenpolitisch kam es für die neue Regierung darauf an, Irritationen im westlichen Bündnis auszuräumen, die nicht nur durch die sogenannte Friedensbewegung, sondern auch durch widersprüchliche Positionen innerhalb der Regierungspartei SPD entstanden waren.
Auch diese außenpolitische Aufgabe wurde in einem Ausmaß und in einer Schnelligkeit erfüllt, wie es nur wenige erwartet hatten. Zu diesem ohne Zweifel weitgehend persönlichen Erfolg des Bundeskanzlers möchte ich ihm unseren Glückwunsch aussprechen.
Diese in nur zehn Wochen erreichten Erfolge der Regierung Kohl/Genscher erlauben es, ohne Schaden für unser Land den Weg zu Neuwahlen zu öffnen. Diese Neuwahlen werden von allen demokratischen Parteien und, wie die demoskopischen Umfragen bestätigen, auch von der großen Mehrheit der Wähler gewollt. Der Bundeskanzler hat sich entschlossen, zu diesem Zweck den Antrag nach Art. 68 des Grundgesetzes zu stellen. Die Abstimmung über diesen Antrag wird am Ende dieser Woche stattfinden. Da aber beides, die Verwirklichung unseres Gesetzgebungsprogramms und die Abstimmung über diesen Antrag, unmittelbar aufeinander folgen und beides auch in einem inneren Zusammenhang steht, möchte ich gleich zu Beginn der Debatte dazu einige Bemerkungen machen.
Die neue Regierung hat von der neuen Koalition einen inhaltlich und zeitlich begrenzten Auftrag erhalten. In der Bundestagsdebatte am 13. Oktober habe ich das Regierungsprogramm als ein Programm der Konzentration auf das jetzt Wichtigste und Dringlichste bezeichnet. Andere bedeutsame, aber weniger dringliche Aufgaben z. B. in der Innen- und Rechtspolitik blieben in den Koalitionsvereinbarungen und im Regierungsprogramm ausgespart.
Der inhaltlichen Begrenzung entspricht die zeitliche Begrenzung des Regierungsauftrags. Es war von Anbeginn Geschäftsgrundlage der neuen Koalition, daß sie sich am 6. März 1983 den Wählern stellt.
Auf der Grundlage dieses inhaltlich und zeitlich begrenzten Auftrages wurde Helmut Kohl zum Bundeskanzler gewählt.
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Dr. Dregger
Diesen politischen möchte ich einige wenige verfassungsrechtliche Bemerkungen hinzufügen.
Der Bundeskanzler ist jederzeit berechtigt, den Antrag nach Art. 68 des Grundgesetzes zu stellen. Dieser Antrag richtet sich an uns, den Deutschen Bundestag.
Für die Fraktion der CDU/CSU erkläre ich: Um die Wirtschafts- und Finanzkrise meistern und die schwerwiegenden außenpolitischen Entscheidungen, vor denen wir stehen, treffen zu können, braucht die Regierung eine volle Legislaturperiode. Deshalb wollen wir Neuwahlen.
Um für den Herrn Bundespräsidenten eine klare Entscheidungsgrundlage zu schaffen, füge ich hinzu: Ohne Neuwahlen sind wir nicht bereit, diese oder eine andere Regierung parlamentarisch zu unterstützen. Wir haben diesen Entschluß nicht aus Willkür, sondern aus wohlerwogenen Gründen gefaßt. Deshalb ist er unumstößlich.
Auch bei kritischer Prüfung wird man sagen müssen: Mit diesem Entschluß bleiben wir Abgeordneten im Rahmen der Rechte, die die Verfassung uns zuweist. Die politischen Erwägungen, die unserem Beschluß zugrunde liegen, sind unsere Sache. Daß wir, die freigewählten Abgeordneten des deutschen Volkes, unsere Entscheidungen allein nach unserem Gewissen zu treffen haben,
entspricht dem Wortlaut und dem Geist unserer Verfassung, dem Geist der repräsentativen Demokratie. Deshalb sind wir überzeugt: Unsere Entscheidung ist verfassungsgemäß.
Unsere Haltung in der Neuwahlfrage ist eindeutig, wahrhaftig und für jedermann verständlich. Sie ist auch mutig.
Wir treten nicht mit haltlosen Versprechungen und Geschenken vor die Wähler — und, meine Damen und Herren, nicht mit Unwahrheiten, wie andere Regierungen es zuvor getan haben.
Bei uns wird es weder einen Renten- noch einen Finanzbetrug geben. Auf unser Wort kann sich jeder verlassen.
Angesichts der schwierigen Wirtschafts- und Finanzlage setzen wir bei dieser Wahl unser ganzes Vertrauen in unser Volk.
Wir trauen ihm die Bereitschaft zu, mit uns gemeinsam auf dem von uns aufgezeigten Weg die Krise in Freiheit zu meistern.
Einige Beispiele mögen unsere Haltung erläutern. Erstens. Um die Renten zu sichern, hat die Regierung eine Rentenerhöhungspause für ein halbes Jahr anordnen müssen.
Der Bundesminister für Arbeit, unser Freund und Kollege Dr. Norbert Blüm,
hat das zum Anlaß genommen,
die Tarifpartner zu bitten, diesem Beispiel zu folgen.
Anders als z. B. die sozialistische Regierung in Frankreich, die einen gesetzlichen Lohn- und Preisstopp eingeführt hatte, lehnen wir jeden Dirigismus ab.
Unsere Gewerkschaften und Unternehmer sind und bleiben in ihren Entscheidungen frei. Aber sie müssen die Verantwortung tragen, die aus ihrer Freiheit erwächst. Auf diese ihre Verantwortung weisen wir sie mit Nachdruck hin.
Wir vertrauen darauf, daß sie dieser ihrer Verantwortung gerecht werden auf diesem oder einem anderen Weg.
Zweitens. In den Bereichen, in denen Regierung und Parlament selbst die Verantwortung tragen, nehmen wir sie wahr. Die Regierung hat nicht die Tarifverhandlungen für die Angestellten und Arbeiter des öffentlichen Dienstes abgewartet, um, wie bisher üblich, auf ihrer Grundlage die Entscheidung über die Beamtenbesoldung zu treffen. Die Regierung hat die Erhöhung der Beamtenbesoldung vorweg auf 2 % begrenzt.
Das bringt gewiß Probleme mit sich, auch für die Gewerkschaften. Aber in einer Lage wie der jetzigen muß die Regierung in ihrem eigenen Verantwortungsbereich Signale setzen.
Drittens. Die Haushaltspläne 1982 und 1983 sehen trotz unserer außerordentlichen Sparanstrengun-
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Dr. Dregger
gen immer noch eine Nettoneuverschuldung vor, deren Höhe wir beklagen, im Gegensatz zur SPD-Fraktion, die ja voll damit einverstanden ist.
— Das haben Sie in der letzten Debatte erklärt. Vielleicht haben Sie Ihren Kollegen nicht zugehört.
Die theoretisch denkbaren Alternativen haben wir sorgfältig geprüft und verworfen. Eine weitere Kürzung von Leistungen wäre jetzt ebenso falsch wie noch stärkere Steuer- und Abgabenerhöhungen oder der Verzicht auf vorgesehene Investitionsanreize für die Bauwirtschaft. In den Zwängen der Wirtschafts- und Finanzkrise, die wir nicht gemacht, sondern vorgefunden haben, haben wir weder resigniert noch falsche Zahlen vorgelegt. Wir haben uns für den möglichen Weg entschieden, der solide und wahrhaftig ist. Dieser Weg wird verkörpert durch den Bundesfinanzminister Gerhard Stoltenberg.
Das Vertrauen in seine Finanzpolitik hat wesentlich dazu beigetragen, daß sich die Bundesbank in der Lage sah, in relativ kurzem Abstand zweimal die Zinsen zu senken.
Diese Zinssenkung verbessert die Investitionsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und, wie ich hoffe, auch ihre Investitionsbereitschaft.
Viertes Beispiel: BAföG. Als es zunächst für Studenten und dann für Schüler eingeführt wurde, hatten wir nicht nur finanzielle Handlungsspielräume, die inzwischen verlorengegangen sind, viele Politiker waren damals auch von der falschen These des Professor Picht beeindruckt, der für die Bundesrepublik Deutschland einen Bildungsnotstand wegen zu geringer Abiturienten- und Akademikerzahlen voraussagte. Jetzt ist der Bildungsnotstand da, aber aus anderen Gründen. Nach vorliegenden Schätzungen werden z. B. in den kommenden Jahren ca. 150 000 zu Lehrern ausgebildete junge Menschen keinen Arbeitsplatz in ihrem erlernten Beruf finden — eine tragische Tatsache für die Betroffenen, auch für uns, wie ich finde.
Notwendig ist hier zweierlei. Die einseitige Bevorzugung des Abiturs und des akademischen Studiums in der Bildungsförderung muß beendet werden.
Die praktischen Bildungsgänge müssen demgegenüber in den Vordergrund treten.
Ein tüchtiger Facharbeiter oder Handwerksmeister
wird bei der gegenwärtigen Akademikerinflation
bessere Zukunftschancen haben als ein Akademiker,
der sich auf einen überfüllten Beruf vorbereitet und dort nur Durchschnittliches leistet.
Auf der anderen Seite, meine Damen und Herren, darf der berufliche Aufstieg nicht an den Einkommensverhältnissen scheitern. Das ist nicht nur ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit. Die Förderung von Begabten ist auch notwendig, um unseren Rang als Wissenschaftsnation und damit als Industrienation zu behaupten.
Das aus finanziellen Gründen eingeschränkte BAföG muß daher durch eine gezielte Begabtenförderung ergänzt werden. Eine Kommission des Präsidiums meiner Partei arbeitet zur Zeit an entsprechenden Vorschlägen. Meines Erachtens ist das ein Feld, dem die Länder als Träger der Kulturhoheit ihre besondere Aufmerksamkeit widmen sollten. Ein Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen weist ebenfalls in diese Richtung.
Meine Damen und Herren, diese vier Beispiele sollen deutlich machen, daß wir auf nahezu allen Feldern der Politik umdenken müssen, daß wir besonnen, selbstkritisch und entschlossen handeln müssen, wenn wir die Krise in Freiheit meistern wollen.
In den 70er Jahren hat die Politik die Menschen zu Ansprüchen ermuntert, die von vornherein über unsere Möglichkeiten hinausgingen.
Diese Ansprüche wurden zum Teil auf Pump befriedigt, d. h. auf Kosten der Zukunft. Viele Bürger haben gespürt, daß das nicht so weitergehen würde. Jetzt sind wir — wie voraussehbar — an unsere Grenzen gestoßen. Rückblickend wird man sagen müssen, daß es eine Kultur der Unbescheidenheit war,
die in den 70er Jahren propagiert wurde. Die Regierungen Brandt und Schmidt haben das zunächst gefördert, nachher hingenommen. Die Kraft, das Steuer herumzuwerfen, hat ihnen gefehlt. Die Balance von Anspruch und Pflicht ging dabei verloren. Das hat die Menschen nicht zufriedener gemacht, im Gegenteil.
Zum Fordern erzogen lernten viele junge Menschen das Glück der Leistung nicht kennen.
Was man der eigenen Leistung verdankt, das genießt man mit Stolz.
Was man zum Geschenk erhält, ohne es vorher oder
nachträglich verdienen zu müssen, das wird man
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Dr. Dregger
verachten, übrigens mitsamt dem Schenker, sei es der Staat oder der eigene Vater.
Solange wir über unsere Ansprüche besser Bescheid wissen als über unsere Pflichten, sind wir zur Unzufriedenheit verurteilt.
Noch eines: Junge Menschen haben ein Recht auf Vorbilder. Vorbilder sind wir Älteren nur dann, wenn wir klare Positionen beziehen und dabei auch die Gegnerschaft junger Menschen aushalten. Es ist nicht ungewöhnlich, daß junge Menschen mögliche Vorbilder prüfen, indem sie sie bekämpfen. Sie prüfen auch, ob unser Reden mit unserem Handeln übereinstimmt. Sie beachten, was uns wichtiger ist: die Menschen selbst oder irgendwelche Sachwerte. Zeiten der Einschränkung sind auch Zeiten der Besinnung.
In dieser Besinnung steckt die große Chance, näher zusammenzurücken, meine Damen und Herren von der SPD, und das Wesentliche von dem Unwesentlichen zu unterscheiden.
Sparsamer zu leben bedeutet zugleich, mehr Verständnis zu entwickeln
für das, was wir wirklich brauchen. Aber es geht für einen Politiker gewiß nicht darum, das einfache Leben zu predigen. Die Politik muß auch neue Wege aufzeigen.
Ein Beispiel. Wenn die Arbeitnehmer durch Lohnzurückhaltung Investitionen ermöglichen, um dadurch ihre Arbeitsplätze zu sichern, und wenn durch diese Lohnzurückhaltung das Produktivvermögen wächst,
dann ist es ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit, die Arbeitnehmer an diesem auch durch ihre Lohnzurückhaltung wachsenden Produktivvermögen zu beteiligen.
Das soll nicht zwangsweise durch Gesetz angeordnet werden. Die Entscheidungsfreiheit des einzelnen Arbeitnehmers und des Unternehmens
sollen gewahrt bleiben. Das Gesetz soll lediglich die Rahmenbedingungen schaffen; aushandeln müssen es die Gewerkschaften und die Arbeitgeber.
Ich habe darüber in den letzten Wochen mit allen Beteiligten gesprochen. Das positivste und konstruktivste Echo auf der Gewerkschaftsseite habe ich bei der DAG und dem CGB gefunden.
Auch bei Einzelgewerkschaften des DGB gibt es positive Ansätze. Ich bin überzeugt, daß der DGB in einigen Jahren allgemein dieser Entwicklung folgen wird, wenn wir Ihr nur Bahn brechen.
Eine Kommission des Präsidiums meiner Partei arbeitet an der Verbesserung und Vervollständigung eines Gesetzentwurfes, den das Land Niedersachsen im Bundesrat eingebracht hat. Nach dem 6. März werden wir ein solches Gesetz verabschieden.
Was wir jetzt brauchen, sind Partnerschaft und Solidarität. Solidarität, zu der sich Sozialdemokraten und Freie Demokraten ebenso bekennen wie wir, heißt, die Freiheitsspielräume nicht nur zu nutzen, sondern ihnen auch einen auf das Ganze bezogenen Sinn zu geben.
Nur wer die Grenzen der Freiheit achtet, wird die Freiheit behalten. Nur wer den Rechtsstaat als ein hohes Gut hütet, wird vor dem Unrechtsstaat bewahrt bleiben.
Ein letzter Gedanke in diesem Zusammenhang. In Zeiten der Krise müssen wir Gegensätze, die uns trennen, zurückstellen. Solidarität heißt hier auch, füreinander einzutreten statt gegeneinander anzutreten.
Was alle Demokraten verbindet, auch Sie und uns, meine Damen und Herren von der SPD, zählt in Zeiten der Krise doppelt. Das sollten wir nicht vergessen, auch nicht in dem Wahlkampf, der uns bevorsteht.
— Wenn Sie sich meinem Stil anpassen, dann haben wir einen guten parlamentarischen Stil.
Was für die Innenpolitik gilt, gilt auch für die Außenpolitik. Der Regierungswechsel ist nicht die Stunde Null. Die neue Regierung hat das Erbe so anzunehmen, wie es ist,
um es dann weiterzuentwickeln.
Die neue Bundesregierung steht in der Kontinuität ihrer Vorgängerregierungen, allerdings nicht nur in der Kontinuität der unmittelbar vorausgegangenen Regierungen Brandt und Schmidt, sondern auch in der Kontinuität der Regierungen Adenauer, Erhard und Kiesinger.
Diese unionsgeführten Regierungen haben die Grundlagen geschaffen, auf denen Existenz und Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland beruhen. An diesen Grundlagen zu rütteln, wie es manche in den letzten Jahren versucht haben,
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Dr. Dregger
heißt, an den Grundlagen unserer freien Existenz zu rütteln.
Zu erinnern ist an folgende drei große Vertragswerke.
Erstens an den Deutschlandvertrag des Jahres 1952. Er verpflichtete die drei Westmächte auf ein nationales und demokratisches Ziel der Deutschen: auf ein wiedervereinigtes Deutschland mit einer demokratischen Verfassung.
Zweitens nenne ich den Beitritt zur NATO im Jahre 1955. Er war Ausfluß der Erkenntnis, daß wir als Mittelmacht an der Grenze zwischen Ost und West nicht allein bestehen, daß wir Frieden und Freiheit nur im Bündnis mit denen bewahren können, die unsere Wert- und Verfassungsordnung teilen.
Drittens. Die dritte Grundlage unserer freiheitlichen Existenz ist die schrittweise Einigung der freien Völker Europas. Europarat, WEU, Montanunion, Wirtschaftsgemeinschaft und Europäische Gemeinschaft sind die Stationen, die zurückgelegt wurden. Auch dieses Werk ist unvollendet. Wir beglückwünschen den Außenminister und FDP-Vorsitzenden Genscher zu der Initiative, die er zusammen mit dem Außenminister Italiens zur Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft ergriffen hat.
Unsere Politik gegenüber der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern muß vor allem der Sicherung des Friedens dienen. Für uns Deutsche gibt es zum Frieden wirklich keine Alternative. Unser Land würde bei Ausbruch eines europäischen Krieges — ob atomar oder konventionell — Hauptkriegsschauplatz sein und damit nahezu vollständig zerstört werden. Frieden entsteht nicht aus Unterwerfung oder Unterwerfungsbereitschaft. Er ist das Ergebnis von Abwehrfähigkeit, verbunden mit der Bereitschaft, mit dem möglichen Gegner zusammenzuarbeiten. Daß Abwehrfähigkeit eine unentbehrliche Komponente der Friedenssicherung ist, war in den 60er Jahren noch nahezu unbestritten.
In den 70er Jahren folgte dann der Hochkunjunktur in der Wirtschaft die Hochkonjunktur in den guten Absichten, sehr unüberlegten guten Absichten allerdings, die die Natur des Menschen ebenso verkennen wie die geschichtlichen Erfahrungen und die politischen Kraftfelder, die von außen auf uns einwirken. Es ist ein geistig-moralischer Hochmut, der dem materiellen Hochmut gefolgt ist. Gepflegt wird er vor allem in Alternativkulturen, in der Propaganda der Angst und der sogenannten Friedensbewegung. Was wir erleben, ist eine Krise, die unser Menschenbild betrifft. Um ihr zu begegnen, muß gesagt werden, daß radikaler Idealismus die Gewalt fördert. Der Mensch ist nicht durchweg gut. Er bleibt der Unsicherheitsfaktor Nummer 1. Das ist keine Frage des politischen oder gesellschaftlichen Systems, sondern ein Wesenszug der gefallenen, wie wir Christen sagen, der sündhaften
Natur des Menschen. Der Mensch will und bewirkt nicht nur das Gute; er will und tut auch das Böse. Deshalb bedarf er wie der Staat, der ihm Schutz gewährt, der Sicherung nach innen und außen. Wer es mit guten Absichten rechtfertigt, auf uns gerichtete offensive Systeme zu verkennen, der wird über kurz oder lang dem Machtwillen dieser Systeme erliegen.
Wer aus Friedenswillen auf die Sicherung des Friedens durch Abwehrfähigkeit verzichtet, der verspielt den Frieden und dazu die Freiheit, ohne die es einen menschenwürdigen Frieden nicht geben kann.
Aus dieser Einschätzung der Natur des Menschen, aus der geschichtlichen Erfahrung und einer realistischen Beurteilung der Weltlage heraus stehen wir Christlichen Demokraten voll hinter der Nordatlantischen Allianz. Wir bekennen uns zu ihrer Wertordnung und zu ihrem rein defensiven Sicherheitskonzept.
Der NATO-Doppelbeschluß, der Helmut-SchmidtDoppelbeschluß, wie er auf Grund der besonderen Verdienste des früheren Kanzlers um diesen Beschluß mit Recht genannt wird, ist verbindlich. Die SPD sollte nicht den Eindruck entstehen lassen, sie würde derartige Beschlüsse als leere Hülsen betrachten, die man einfach wegwerfen könne, nur um innerparteilichen Schwierigkeiten zu entgehen.
Meine Damen und Herren, die sowjetischen Mittelstreckenraketen bedrohen nicht die Vereinigten Staaten von Amerika, die sie gar nicht erreichen können; sie bedrohen uns. Es waren die Europäer, die die USA gedrängt haben, dieser Bedrohung ein Gegengewicht in Europa entgegenzustellen. Helmut Schmidt vor allem war es, der das als erster gefordert hat. Die Amerikaner jetzt dafür zu beschimpfen, daß sie dieser Forderung nachgekommen sind, und ihnen unsinnige Atomkriegspläne zu unterstellen, ist nicht nur ein Erfolg der sowjetischen Desinformationskampagne, sondern auch ein Zeichen für das kurze Gedächtnis und das mangelnde politische Urteilsvermögen mancher Publizisten und Politiker in Europa.
Wir wünschen dem Verhandlungsteil des NATO-Doppelbeschlusses in Genf Erfolg, damit die Nachrüstung vermieden werden kann. Wir fordern alle Beteiligten, auch und insbesondere die Sowjetunion, auf, außer dem eigenen Sicherheitsbedürfnis auch das Sicherheitsbedürfnis der anderen zu würdigen. Nur eine gegenseitige Rücksichtnahme kann dem Rüstungswahnsinn, der sich in einer Überrüstung äußert, ein Ende setzen.
Im Verhältnis zu unseren osteuropäischen Nachbarn geht es aber nicht nur um Sicherheit und Handelsaustausch; es geht auch um die Wiederherstel-
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Dr. Dregger
lung eines alten Vertrauensverhältnisses, das durch die Erschütterungen der letzten Jahrzehnte, durch Krieg, Mord und Vertreibung unterbrochen worden ist. Ich habe kürzlich einen hochrangigen sowjetischen Gesprächspartner nicht nur als Vertreter der UdSSR, sondern auch als einen Vertreter des russischen Volkes begrüßt, denn hinter den Systemen, die ja nicht ewig sind, stehen die Menschen und in ihrer historischen Kontinuität die Völker. Ich habe diesen Vertreter der Sowjetunion und des russischen Volkes gebeten, in mir nicht nur den Inhaber eines bestimmten Amtes in der Bundesrepublik Deutschland zu sehen, sondern ebenfalls einen Vertreter des deutschen Volkes, und zwar des ganzen deutschen Volkes. Ich habe ihn an die langen und glücklichen Perioden der deutsch-russischen Geschichte erinnert, in denen unsere Länder auf der Basis der Gleichheit Partner waren. Ich habe gemeint, das sollte die Perspektive für unsere künftigen Beziehungen sein, die die Wiederherstellung der Rechte des deutschen Volkes einschließen müßte.
Das, was ich jetzt sage, richtet sich an die Adresse aller, nicht nur der Sowjetunion: Jeder im Westen und im Osten sollte davon ausgehen, daß die Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung — so formuliert es das Grundgesetz, und der Herr Bundeskanzler hat es in seiner Regierungserklärung unterstrichen — immer das Ziel deutscher Politik bleiben wird.
Ich weiß, daß die Sowjetunion das nicht gern hört, der eine oder andere westliche Politiker oder Publizist ebenfalls nicht. Aber was andere gern hören, kann ja nicht der einzige Maßstab unserer politischen Ziele und unseres politischen Handelns sein.
Die Teilung unseres Landes und die Teilung seiner Hauptstadt, Teilungen, die nur durch Mauer, Stacheldraht, Minen und Schießbefehl aufrechterhalten werden können, verstoßen gegen die rechtlichen und sittlichen Normen der Völkergemeinschaft.
Das sollte niemand verdrängen, weder die Sowjetunion noch unsere Verbündeten, noch wir selbst, meine Damen und Herren.
Der Grundvertrag und die Ostverträge sind bindendes Recht. Sie haben aber an der Gültigkeit des Deutschlandvertrags nichts geändert, wie es durch den Brief zur deutschen Einheit, die gemeinsame Entschließung des Deutschen Bundestags vom 7. Mai 1972, die salvatorischen Klauseln in den Verträgen selbst und durch die einschlägigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts eindeutig klargestellt worden ist.
Die Sieger des Zweiten Weltkrieges stehen heute in verschiedenen Lagern, aber die Verantwortung für Deutschland als Ganzes tragen sie gemeinsam. Die Besiegten sind für den Krieg verantwortlich, die Sieger für den Frieden. Zu dieser gemeinsamen
Verantwortung der Sieger gehört auch die Pflicht, das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes und die Menschenrechte in ganz Deutschland zu verwirklichen. Nur diese gemeinsame Pflicht kann heute, über 35 Jahre nach dem Ende des Krieges, die Mitwirkungsrechte der Siegermächte in Deutschland rechtfertigen.
Machtausübung zu anderen Zwecken, etwa zur dauernden Rechtsverweigerung den Deutschen gegenüber, wäre ebenso illegitim, wie jede Machtausübung illegitim ist, die nicht den rechtlichen und sittlichen Normen der Völkergemeinschaft entspricht.
Wir alle wissen, daß die Wiederherstellung der Rechte unseres Volkes nur im Einvernehmen mit allen Nachbarn verwirklicht werden kann. Auch deshalb wollen wir die Ostverträge mit Leben erfüllen. Das steht mit unserem Oppositionsverhalten bei der Erarbeitung und der Verhandlung dieser Verträge nicht im Widerspruch. Wir wollten vor allem bessere Verträge, wir wollten zur Wahrung der nationalen Interessen des deutschen Volkes für diese Verträge eine Interpretation durchsetzen, die wir dann in gemeinsamen Entschließungen und einschlägigen Verfassungsgerichtsentscheidungen auch erreicht haben.
Nachdem die Verträge gültig sind, sind sie zu Instrumenten der deutschen Außenpolitik geworden. Nur auf ihrer Grundlage können wir Politik machen, die Vertrauen erweckt. Nur so können wir im Interesse unseres Volkes die Möglichkeiten nutzen, die auch diese Verträge uns bieten. Dazu sind wir entschlossen, wie schon die ersten Wochen der Arbeit der neuen Regierung eindrucksvoll gezeigt haben.
Meine Damen und Herren, insbesondere der SPD, vielleicht ist das eine außenpolitische Perspektive, auf die sich die große Mehrheit des Hauses einigen kann. Ich sage das, weil wir Christlichen Demokraten gerade in der Außen- und Sicherheitspolitik den Konsens mit allen demokratischen Kräften, insbesondere selbstverständlich auch mit der großen Sozialdemokratischen Partei, wünschen. Wir jedenfalls stehen in der Kontinuität der Friedens- und Sicherheitspolitik aller Regierungen der Bundesrepublik Deutschland. Wir würden es begrüßen, wenn das auch von den Sozialdemokraten ausnahmslos gesagt werden könnte. Es wäre tragisch für Sie und es läge nicht in unserem nationalen Interesse,
wenn Sie gerade die Kontinuität mit den Teilen unserer Außen- und Sicherheitspolitik aufkündigen würden, die den besonderen Stempel des letzten Bundeskanzlers tragen, den Sie gestellt haben.
Zum Schluß dieser außenpolitischen Bemerkungen möchte ich dem Herrn Bundeskanzler danken für die kluge, jede Schroffheit nach außen vermei-
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Dr. Dregger
dende und zugleich souveräne Art, in der er die deutschen Interessen wahrnimmt.
Unser Dank gilt auch dem Herrn Bundespräsidenten, der es in hervorragender Weise versteht, unser Land auch nach außen mit Würde und Klugheit zu vertreten.
Es war das Ergebnis besonderer Umstände, daß vor wenigen Wochen zwei wichtige Begegnungen gleichzeitig stattfanden. Der Herr Bundespräsident traf als erstes westliches Staatsoberhaupt mit dem neuen sowjetischen Generalsekretär in Moskau zusammen; gleichzeitig verhandelte der Herr Bundeskanzler mit dem amerikanischen Präsidenten in Washington.
Beide Gespräche, in Moskau wie in Washington, verliefen in guter, von gegenseitigem Respekt getragener Atmosphäre, in Washington auf Grund der engen Bündnisbeziehungen natürlich in besonderer Herzlichkeit.
Was im zeitlichen Zusammentreffen ein Zufall war, hat doch symbolische Bedeutung. Die Bundesrepublik Deutschland ist heute wegen ihrer Stärke und wegen ihrer Besonnenheit ein geachteter Friedensfaktor der internationalen Politik. Daß die neue Regierung besonders geeignet ist, der sich daraus ergebenden Verantwortung gerecht zu werden, hat damit zu tun, daß sie sich auf Parteien stützen kann, an deren geschlossener Bündnistreue ebensowenig gezweifelt werden kann wie an ihrer Bereitschaft, den Frieden zu wahren und zu diesem Zweck auch eng mit der Sowjetunion und den sozialistischen Ländern zusammenzuarbeiten.
Es ist die innere Übereinstimmung zwischen Regierung und Koalition, die unserem Eintreten für den Frieden besonderes Gewicht verleiht. So soll es bleiben im Interesse des Friedens und im Interesse des deutschen Volkes.