Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde es nicht schlecht, daß gegen Ende dieses sehr schwierigen Jahres der Deutsche Bundestag bereits über Friedenspolitik diskutiert. Wir haben erfahren, wie sehr dieses Thema die Bürger, viele Bürger in unserer Bundesrepublik interessiert. So wir können, sollten sich diese Bürger, gerade auch die jüngeren, in unserer Debatte wiederfinden können.
Ich möchte versuchen, meinen Beitrag zu den drei Unterthemen der großen friedenspolitischen Thematik zu leisten: Ost-West, Nord-Süd, Europa. Zum Mittelstück wurde bisher nur eine Nebenbemerkung von Herrn Kollegen Kohl gemacht. Nicht jeder von uns kann alles zugleich einführen.
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Brandt
— Wenn Sie richtig zugehört hätten, Herr Kollege Mertes, wüßten Sie, daß ich gesagt habe: Bisher gab es nur diesen Merkposten.
Zunächst zum Thema Ost-West, zu Rüstungen und Rüstungsbegrenzung sowie Sicherheit. Die Lage ist heute ohne Zweifel anders als vor zwölf Monaten. Die beiden Weltmächte sitzen jetzt an einem Tisch, um zu verhandeln. Das ist eine Wendung zum Besseren. Das Interesse unseres Volkes gebietet, das anzuerkennen und dazu, ohne daran herumzukritteln, j a zu sagen.
Das ist das erste.
Ich sehe jedoch keinen Grund, an die in Genf vor wenigen Tagen begonnenen Verhandlungen überoptimistische Erwartungen zu knüpfen. Viele der Menschen, die wir vertreten, hegen solche überoptimistischen Erwartungen schon deshalb nicht, weil sie nicht von der Art überzeugt sind, sondern beunruhigt sind über die Art, in der sich die Weltmächte in den letzten Monaten dargestellt haben: in ihrer — darf ich das in aller Behutsamkeit, aber hoffentlich deutlich genug, wenn auch bekümmert sagen — zuweilen feststellbaren Unzulänglichkeit der personellen Repräsentanz, argumentativ im Wechselspiel von Hickhack und Sturheit mit dem Ergebnis, daß vielfach weder Orientierung gegeben noch Vertrauen vermittelt werden konnte. Ich kann also die Skepsis vieler unserer Mitbürger — ich sage noch einmal: gerade der jüngeren — gut verstehen.
Aus dem Zitat von Aristide Briand, das zu Beginn der Rede des Bundeskanzlers eine wichtige Rolle spielte, greife ich besonders den Begriff „Mißtrauen" heraus — er wird übrigens am Ende der Rede, soweit ich mir das gemerkt habe, durch die positive Wendung im Einstein-Zitat ergänzt —, weil Mißtrauen, sich festsetzendes Mißtrauen in der Tat Gift für das so schwierig gewordene friedenspolitische Bemühen ist. Mit dem Zweifel, von dem Briand auch spricht, sehe ich das ein bißchen anders. Ich meine, Zweifel kann gerade auf diesem unendlich schwierigen Gebiet, auf dem wir uns zu bemühen haben, produktiv sein. Aber lassen wir das.
Aus meiner Sicht gibt es jedenfalls keinen vernünftigen Sinn, von der Erfolglosigkeit der Genfer Verhandlungen auszugehen. Wir müssen vielmehr jeden möglichen Einfluß geltend machen — ich bin überzeugt, daß sich die Regierung darum weiter bemüht —, damit die verhandelnden Großmächte zu einem für uns und damit auch für sie guten Ergebnis kommen.
Der Präsident der Vereinigten Staaten hatte wenige Tage, bevor Breschnew hierherkam, ein, wenn man es verkürzt darstellt, bedeutendes Angebot gemacht. Er hat vermittelt, daß die Vereinigten Staaten bereit seien, mit der Sowjetunion über die verschiedenen Aspekte der Sicherheitspolitik zu sprechen — jetzt zunächst in Genf — und vor allem über die Mittelstreckenwaffen. Aber das Angebot enthielt auch die Bereitschaft — so wie ich und auch andere es verstanden haben —, an welchen unterschiedlichen Orten auch immer — einiges davon war ja im Gang, bevor sich die Herren Kwizinski und Nitze oder Nitze und Kwizinski jetzt in Genf zusammengesetzt haben — erneut zu reden über interkontinentale Waffen, über eurostrategische — auch sogenannte taktische — Waffen und — das wurde letzte Woche aus amerikanischer Sicht ergänzt — über konventionelle Waffen sowie über vertrauensbildende Maßnahmen. Herr Breschnew hat bei seinem Besuch in Bonn deutlich gemacht — so sage ich es einmal —, daß die UdSSR ihrerseits zu substantiellen Maßnahmen bereit sei.
Damit sind zunächst einmal jene widerlegt, die — wie ich finde, wieder einmal überflüssigerweise — vorzeitig über pure Illusionen räsonierten. Davon war, Herr Ministerpräsident, schon die Rede.
Aber auch jene sind widerlegt, für die Sie sich, Herr Kohl, vor drei Monaten in diesem Hause zum Sprecher machten, nämlich im September, und die im Zusammenhang mit der Null-Option von — ich zitiere
— einer schlichten Täuschung der deutschen Öffentlichkeit sprachen.
Sie haben es damals an die Adresse des Bundesaußenministers gerichtet.
— Ich komme darauf zu sprechen; haben Sie keine Sorge, lieber Herr Barzel. — Sie, die angesprochenen Kollegen, müssen jetzt einsehen: Es gibt zum Weg der Verhandlungen und der Zusammenarbeit weiterhin keine vernünftige Alternative.
Nun hat Herr Kohl hier soeben im ersten Teil seiner Rede etwas gemacht, was wir kennen und was für die Fachleute ohnehin nicht ungewohnt ist. Der Bundeskanzler hatte den Ball in die Platzhälfte der Union hineingegeben. Statt daß Herr Kohl versucht, den Ball zurückzugeben, spielt er dort immer noch mit ihm herum. Nach dem, was der Bundeskanzler hier vorgetragen hat, ist der Ball noch in Ihrer Platzhälfte, Herr Kohl.
Der Union muß allerdings bestätigt werden: Sie hat
— das liegt natürlich zum Teil auch an der unterschiedlichen Rolle von Regierungund Opposition —, so sage ich jetzt einmal, wenig Anteil daran, daß die Weltmächte nun wieder aufeinander zugegangen und an den gemeinsamen Tisch gekommen sind. Im Gegenteil: Andere, die dazu beigetragen haben, wurden von ihr verdächtigt, wobei zur Begründung Antiamerikanismus, Neutralismus oder Nationalismus
— oder wie die Schlagworte sonst noch heißen — angeführt wurde. Ich sage, Herr Kohl: Den Quatsch sollte sich die Union abschminken.
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Lassen Sie mich noch bei dem Ball, den der Bundeskanzler hinübergespielt hatte, bleiben. Wenn Herr Geißler schon am letzten Wochenende, und zwar vor den rheinischen CDU-Arbeitnehmern in Köln, diejenigen seiner Parteifreunde kritisierte, die sich für eine Stationierung der Neutronenwaffen — überflüssigerweise — in der Bundesrepublik ausgesprochen hatten
und die, wie er sagte, vor dem Breschnew-Besuch wie vor den Verhandlungen erklärt hatten — von wegen gar nicht gesagt, Herr Kollege —, die Sache sei von vornherein aussichtslos, dabei komme gar nichts heraus, wenn es also schon eine solche Diskussion, wogegen j a gar nichts einzuwenden ist, in Ihren Reihen gibt, verehrte Kollegen von der Union, warum glauben Sie dann, den Spieß einfach umdrehen zu können? Buchstäblich am selben Tag bezeichnet der Präsident der Vereinigten Staaten die Breschnew-Äußerungen in Bonn als Verhandlungsgrundlage, während einer von der ersten Bank hier in der Union an jenem gleichen Tag dasselbe als unakzeptabel betrachtet.
So sieht es doch aus! Ich kann die Union ja nicht daran hindern, amerikanischer sein zu wollen als die Amerikaner selbst. Aber das dient doch nicht einem aufgeschlossenen Austausch der Argumente, der uns übrigens allen gut bekommen könnte und auf den die deutsche Öffentlichkeit Anspruch hätte.
Ich habe im übrigen, Herr Kollege Kohl, nie etwas von der sterilen Formel — ich glaube, Herr Kollege Barzel wartet auf diesen Punkt auch; er hat ihn durch seine Zwischenbemerkung fast schon angemahnt — der Unteilbarkeit gehalten, handle es sich um den Abbau von Spannungen oder handle es sich um den Abbau von Rüstungen.
Wir Europäer, wir in Deutschland besonders hatten und haben ein vitales Interesse daran, daß nicht jede Art von Krise in anderen Teilen der Welt voll auf uns durchschlägt; dementsprechend verhalten sich Regierungen in dieser Bundesrepublik über die Jahre hinweg. Aber daran, daß Substanz und Perspektive der Rüstungen auf verschiedenen Ebenen, zumal dort, wo es um die Weltmächte und die Allianzen geht, in einer objektiven Wechselbeziehung zueinander stehen und daß diese Zusammenhänge auch präsent sind, wenn über Begrenzung oder gar Abbau verhandelt wird, wird wohl kein Zweifel sein können. Mir ist bewußt — sicher nicht mir allein —, daß dies die Dinge nicht einfacher macht.
Diese Überzeugungen, Herr Kollege Kohl und Herr Kollege Barzel, liegen zugrunde, wenn unsereins von Null-Lösung spricht, und zwar nicht erst seit Ende dieses Jahres
und häufig nicht nur durch guten Willen und hinreichende Aufmerksamkeit anderer dabei begleitet,
und wenn wir, Herr Kollege Barzel, an den NATO-Beschluß erinnern, demzufolge — und jeder kennt den letzten Satz des NATO-Beschlusses vom Dezember 1979 — im Lichte konkreter Verhandlungsergebnisse geprüft und disponiert werden soll.
Es ist ein Irrtum, wenn der Kollege Kohl meint, der Bundeskanzler — oder sonst irgend jemand von uns — wollte diese unendlich schwierige Thematik vom nächsten Parteitag der deutschen Sozialdemokraten wegdrücken. Wie könnten wir oder wie kämen wir dazu!
— Nein, wir konzentrieren uns auf das, was jetzt ansteht.
Ich möchte mal
so eng an die Sache herangehen. Tun Sie das auch! Formulieren Sie Ihre Erwartungen und Forderungen an die Adresse der Weltmächte. Darauf kommt es jetzt an.
Im April 1982 ist doch nicht neu über das zu befinden, was im Dezember 1979 in Brüssel beschlossen worden ist, sondern im April 1982 ist Stellung zu nehmen — vielleicht noch ein bißchen klarer, als das heute möglich ist — zu dem, womit sich die Weltmächte befassen und was uns in so starkem Maße angeht. Dann werden wir 1983 zu dem Stellung nehmen, was dann vorliegt, wenn es etwas ist, was neue Entscheidungen erforderlich macht.
Es trifft natürlich zu, daß es heute schon eine Mehrzahl sogenannter Null-Optionen gibt oder daß solche im Gespräch sind. Deshalb will ich an das erinnern, was ich früher gesagt habe und worin ich mich nicht korrigiert fühle. Wir möchten die Voraussetzungen dafür geschaffen wissen, daß es der Aufstellung neuer Mittelstreckenraketen nicht bedarf. Der sowjetischen Seite war klarzumachen, daß sie solche Voraussetzungen zu schaffen hat.
Was Nord-Süd angeht, verehrte Kollegen, — —
— Ich bin jetzt mit diesem Punkt durch; wir können ja darauf noch einmal zurückkommen, Herr Barzel.
— Aber natürlich.
— Natürlich habe ich sie beantwortet. Vielleicht haben Sie die Güte, sich noch einmal anzuschauen, was
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im letzten Satz des Brüsseler Beschlusses vom Dezember 1979 steht.
Aber ich komme jetzt zum zweiten Teil meiner Bemerkungen und sage, daß es in unserem Land leider weiterhin ein großes Defizit gibt. Über Cancún ist in diesem Parlament bisher nicht diskutiert worden. Das englische Unterhaus hatte darüber eine ganztätige Debatte, kaum daß Frau Thatcher und Lord Carrington wieder nach Hause gekommen waren. Man könnte sagen — wenn das Wortspiel nicht mißverstanden wird —, entwicklungspolitisches Denken in der Bundesrepublik Deutschland ist unterentwikkelt. Man hat hierzulande immer noch nicht verstanden, welche friedenspolitische Dimension für uns alle in diesem Thema steckt.
Dabei haben wir doch in diesem Jahr wieder miterleben müssen, wie sich allerorten in der Dritten Welt explosive Konflikte zusammenbrauen und austoben oder sich auszutoben drohen, ob wir nun an den Nahen Osten, an Afrika, Südostasien oder an Mittelamerika denken. Natürlich, Herr Kohl, ist es richtig, daß wir, ob wir nun zur Opposition in diesem Haus oder zu der die Regierung tragenden Mehrheit gehören, Afghanistan nicht aus dem Blick verlieren.
Der eine und andere von uns hat nicht nur in Bonn, sondern — so der englische Außenminister — dort, wo die sowjetische Regierung sitzt, über die Bedingungen gesprochen, auf die es ankommt: die Bedingungen einer künftigen Blockfreiheit jenes Landes, die Fragen der Sicherheit an den Grenzen, die Frage, unter welchen Bedingungen die Flüchtlinge ungefährdet in ihre Heimat zurückkehren können. In dieser Hinsicht bleibt, glaube ich, eine Menge auch aus deutscher Sicht zu tun.
Aber dem, worum es hier geht, ist — wenn ich das aus meiner Sicht so sagen darf — natürlich nicht beizukommen, wenn man es sich so leicht macht wie der bayerische Ministerpräsident in seiner Verdammung der SWAPO,
also der Organisation derer, die sich in erster Linie für die Unabhängigkeit ihres Landes Namibia einsetzen.
Herr Strauß sagt in seiner Äußerung dazu, bei der SWAPO handele es sich um eine streng marxistische moskauhörige Terrororganisation.
— Ja, nun gibt es auch einige, die klatschen. Ich sage,
verehrte Kollegen: Mit dieser Sprache und auf diese
Weise ist schon manche mögliche Partnerschaft nach der Dritten Welt hin kaputtgemacht worden.
Ich verstehe, daß man mit den einschlägigen simplifizierenden, manchmal auch spießerhaften Kraftausdrücken mancherorts Beifall finden kann. Aber was das mit deutschen und westlichen Interessen zu tun haben soll, begreife ich nicht. Das begreife ich wirklich nicht.
Aber ich wollte ein paar Worte zur Bewertung des Gipfeltreffens von Cancún sagen, des ersten Gipfeltreffens jedenfalls eines großen Teils derer, die an der Spitze von Staaten der industrialisierten Welt und von Entwicklungsländern stehen. Das Ergebnis von Cancún ist ein typisches Beispiel dafür, ob man ein halbvolles Glas halb voll oder halb leer nennen will. Nach allem, was mir solche gesagt haben, zum Teil Mitglieder meiner Kommission, die ja ein solches Treffen angeregt hatte, war der Dialog offensichtlich gerade für die Damen und Herren aus den Entwicklungsländern von allergrößter Bedeutung. Sie haben sich noch nie in einem bilateralen Gespräch mit wichtigen Vertretern der westlichen Welt so artikulieren und über den Tisch hinweg einander ansprechen und dadurch Klarheit gewinnen können, und zwar so, daß — was j a keine Kleinigkeit ist — zu einem wichtigen Punkt der amerikanische Präsident plötzlich zum Präsidenten von Tansania sagen konnte: Ich verstehe, daß wir in der Frage der Investitionen gar nicht so weit auseinander sind, wie ich es meinen Papieren entnommen hatte. — Aber das ist nicht der Punkt.
Der Punkt ist, daß die, die dort teilnahmen, sich im Prinzip alle dafür ausgesprochen haben, daß 1982 in New York oder wo auch immer endlich die globalen Verhandlungen im Rahmen der UN in Gang kommen.
Das muß geschehen, ohne etwas von der Verantwortung zu nehmen, die bei jenen Organen liegt, die sich um sie zu kümmern haben — der IWF etc. —, die aber ihrerseits auf manchen Gebieten der Reform bedürfen.
Zweitens ist klarer als bei mancher früheren Gelegenheit geworden, daß im Kampf gegen den Hunger in der Welt die erste Priorität bei der Förderung der Landwirtschaft liegen muß — in all den Ländern, in denen es dafür Voraussetzungen gibt —. Es bleibt ja leider für lange Zeit auch notwendig, bei Katastrophen zu helfen. Aber die eigentliche Antwort — deshalb kommt dem die erste Priorität zu — muß die Förderung der Landwirtschaft sein. Hier muß auch die EG aufpassen, daß sie nicht einen falschen Kurs verfolgt.
Drittens. Über einen vom mexikanischen Präsidenten angeregten Energie-Dialog hinaus haben sich dort fast alle auf die Schaffung von etwas verständigt, was man eine Energiebank nennen dürfte, nämlich eine Finanzierungsinstitution — wie eng auch immer mit der Weltbank verbunden —, die über Mittel verfügen würde, die ganz arme Länder,
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die dazu nicht die Möglichkeit haben, in die Lage versetzen würden, bei ihnen vorhandene Entwicklungsvorhaben ausfindig zu machen und dann zu entwickeln. Das ist eine gewaltige Sache für diese Länder, für den internationalen Energiemarkt, wenn es uns gelingt.
Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik sollte jetzt daran anknüpfen und ihrerseits, ohne sich zu übernehmen, im Rahmen der Vereinten Nationen initiativ werden. Das würde, wenn es zu den Vereinten Nationen kommt, zwangsläufig dazu führen, daß auch die osteuropäischen Staaten und die Sowjetunion dabei sind, so wie China schon in Cancún dabei war. Jedenfalls wird es keinen oder kaum Streit darüber geben, daß das Ausmaß der Probleme wächst, mit denen die Länder heutzutage unabhängig von ihrer politischen oder gesellschaftlichen Ordnung, auch unabhängig von ihrer Blockzugehörigkeit fertig werden müssen.
Von der Energie bis zur Ökologie, vom Eindämmen der Bevölkerungsexplosion bis zur Überwindung des Welthungers, von der wirksamen Rüstungsbegrenzung bis zur Umsetzung von Arbeitsplätzen, von der Mikroelektronik bis hin zu neuen wissenschaftlichen Optionen, die sich erst in Umrissen andeuten, gibt es mittlerweile Themen, die sich den Staaten unabhängig von ihrer politischen und gesellschaftlichen Struktur stellen.
Oder auch aktueller und begrenzter: Treffen uns in Europa nicht gemeinsam die Folgen der gegenwärtigen weltwirtschaftlichen Rezession — wenn es nicht schon mehr ist, als in dem Ausdruck Rezession zum Ausdruck kommt —, wiederum unabhängig vom Status unserer Länder, treffen sie uns nicht schon wesentlich mehr, als es irgendeinem von uns lieb sein kann? Aus der Globalisierung wichtiger Probleme — ich habe das eben nur angerissen — folgt die steigende Interdependenz, die steigende gegenseitige Abhängigkeit der betroffenen Länder und Völker. Diese Probleme sind ihrem Kern nach gleich oder verwandt und betreffen jedenfalls alle Weltregionen.
Ein Gefahrenpotential, das sich in einer Region aufbaut, sei es ein militärisches, sei es ein wirtschaftliches durch Inflation und Unterbeschäftigung, durch Umweltverseuchung oder Ressourcenvergeudung, sei es ein soziales durch Hunger oder exorbitante Bevölkerungszunahme, läßt auf die Dauer andere Regionen nicht unberührt. Jedenfalls erreichen die objektive Bedrohung und Verarmung — das sage ich jetzt bewußt — durch das internationale Wettrüsten heute ausnahmslos sämtliche Weltgegenden direkt und indirekt. Ich füge hinzu: Ich müßte mich doch sehr wundern, wenn diejenigen unrecht hätten, die vermuten, daß eine Rüstungslast des heutigen Ausmaßes mit über 550 Milliarden Dollar in diesem Jahr, 1981, auch etwas mit Arbeitslosigkeit in der Welt zu tun habe.
Die ökologischen Wechselwirkungen — wem sage ich es hier! — werden zunehmend global, und der Hunger in den Armutsgürteln Afrikas und Asiens wird die satten Teile des Planeten nicht dauerhaft
unbeeinträchtigt lassen. Wo millionenfacher Hunger herrscht, kann der Frieden auch schon aus diesem Grunde nicht als gesichert gelten.
Es ist j a eher unwahrscheinlich, verehrte Kollegen, daß Millionen Menschen auf die Dauer stehend sterben werden.
Interdependenz erzeugende Probleme erfordern gemeinsame Lösungen. Ich halte es für wichtig, wie man von mir weiß, die Nord-Süd-Politik auch unter dem Gesichtspunkt dessen zu betrachten, was unsere wirtschaftlichen Interessen gebieten. Ich sage hier nicht zum ersten Mal, daß es auch in unserem Interesse liegt, wenn wir neue Märkte entwickeln helfen, natürlich nicht nach den Methoden eines veralteten ökonomischen Kolonialismus, sondern so, daß Gleichberechtigung, gegenseitiger Nutzen und Partnerschaft ernst genommen werden. Die drei Begriffe, die ich eben erwähnte, stehen übrigens auch mit in dem Kommuniqué vom Mittwoch vergangener Woche; also wird auch dieses Thema eine Rolle gespielt haben.
Lassen Sie mich gerade auch nach mancher nur zum Teil verständlichen Kritik des Führers der Opposition sagen: Unsere Politik, die Politik, die wir getragen haben und weiter tragen, hilft — ganz nüchtern gesehen — auch Arbeitsplätze und unsere Energieversorgung sichern. Das Erdgas-RöhrenGeschäft hilft unserer Industrie und sichert Arbeitsplätze auf Jahre hinaus.
Unsere Energieversorgung wird — ebenso wie die in Nachbarländern — unabhängiger von Entwicklungen in unruhigeren Teilen der Welt. Der weltwirtschaftliche Austausch zwischen Ost und West wie zwischen Nord und Süd ist gleichzeitig in sich selbst ein wichtiger, ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur Sicherung des Friedens.
Ich komme zu Europa, meine Damen und Herren, und stelle zunächst einmal einen tiefen Widerspruch fest. Einerseits wächst die Bedeutung Europas wieder, wie wir beim Einfluß auf die Weltmächte — bis es zu Genf kam — gesehen haben und wie man auch an Sinai und ich weiß nicht wo sonst vielleicht ablesen kann, wenn man will und wenn es schon soweit ist. Es wächst auch das Bedürfnis der Bürger nach einer schärfer konturierten, selbstbewußter vertretenen europäischen Identität. In der Tat, im Feilschen um Quoten und Prozente verschwimmt nur zu leicht die historische Dimension des Prozesses der europäischen Einigung. Da bin ich im Ansatz gar nicht weit von Helmut Kohl entfernt. Ob wir in jeder daraus zu ziehenden Folgerung übereinstimmen, ist dann die nächste Frage.
Nur zu oft wird mit bequemen Schuldzuweisungen von Unzulänglichkeiten abgelenkt, die die Regierungen und Verwaltungen in ihrem Verhältnis zur Gemeinschaft zu verantworten haben. Nichts wäre jetzt mehr geboten, als die Möglichkeiten der Gemeinschaft zu nutzen, um der weltwirtschaftlichen Krise entgegenzuwirken. Hier ist nicht viel aufzuweisen. Mancher ist schon so bescheiden geworden,
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daß er es für einen Erfolg hält, wenn die Gemeinschaft die Erschütterungen der gegenwärtigen Zeit überhaupt überlebt.
Nun kann meiner Meinung nach kein vernünftiger Europäer etwas dagegen haben, daß die politische Zusammenarbeit unserer Regierungen verbessert wird und daß die communautairen, die gemeinschaftlichen, also die sich aus Gemeinschaftsrecht ableitenden Aufgaben mit den intergouvernementalen, mit den zwischenstaatlichen Aktivitäten noch besser verzahnt werden.
Der Bundesaußenminister und sein italienischer Amtskollege haben kürzlich vor dem Parlament in Straßburg erläutert, wie die politische Zusammenarbeit der Regierungen der Europäischen Gemeinschaft verbessert werden könnte. Ich habe meinerseits in Straßburg im Namen der sozialistischen Fraktion erklärt, was ich hier unterstreichen will: Wir sind für das, was man „Europäische Politische Union" nennt, aber ich weise darauf hin, daß sich Schwächen in der Substanz natürlich nicht durch politische Verzierungen kompensieren lassen.
Ein neues Etikett bringt nichts, wenn es nicht durch einen neuen Inhalt legitimiert ist.
Der erklärte Wille zur Fortentwicklung der Gemeinschaft, wie er auch in Anregungen der französischen Regierung zum Ausdruck kommt, muß zum einen in der Bereitschaft der Gemeinschaftsstaaten, d. h. ihrer Regierungen, seinen Niederschlag finden, die Zuständigkeiten und Mitwirkungsrechte des direkt gewählten Europäischen Parlaments auszuweiten.
Ich sage nach ein bißchen Erfahrung: Entweder man muß den Verein wieder abschaffen — was man aber nicht tut —, oder man muß rechtfertigen, daß man dort mit dem großen Aufwand einer direkten Wahl die Vertreter aus allen Gemeinschaftsstaaten zusammenführt.
Zum anderen und vor allem muß der erklärte Wille zur Fortentwicklung, wie ich sage, in den konkreten Verhandlungen sichtbar werden. Wichtiger Prüfstein werden die Beratungsergebnisse sein, welche die Kommission der Gemeinschaft in Ausfüllung des hier erwähnten Mandats vom 30. Mai 1980 unterbreitet hat.
Tatsächlich — geben wir es zu — befindet sich die Europäische Gemeinschaft in einer Dauerkrise, die es den Menschen bei uns und anderswo schwermacht, sich ihr europäisches Engagement zu bewahren. In einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit und großer Strukturkrisen können wir uns zum Beispiel mit gefährlichen Auswüchsen im Agrarbereich nicht mehr lange abfinden, wenn nicht jede Glaubwürdigkeit verlorengehen soll.
Es ist mein nachdrücklicher Wunsch und sicher der meiner Fraktion, daß die Außenminister den Auftrag vom Londoner Gipfel so rasch wie möglich erfüllen; denn die Europäische Gemeinschaft muß so bald wie möglich auf gesündere materielle Grundlagen gestellt werden.
Ich sage hier jetzt einmal etwas ungeschützt — an einem Punkt habe ich es schon anklingen lassen —: Man muß bereit sein, über die Institutionen neu nachzudenken,
sosehr ich weiß, was alles ins Rutschen kommt, wenn man über den Vertrag spricht. Aber so, wie es heute aussieht, habe ich Grund genug, zu sagen: Wenn es nicht anders geht, soll man wenigstens zugeben, daß man mit dem bisherigen Ansatz in der Sackgasse gelandet ist, um zu sehen, wie man aus ihr wieder herauskommt.
Das hätte nämlich Jean Monnet, der zitiert wurde, sicher zu diesem Thema einzuführen gehabt.
Verehrte Kollegen, da von europäischer Identität, auf den Kontinent insgesamt bezogen, die Rede ist, will ich sagen: Die Polen als eines der großen europäischen Kulturvölker müssen die Chance haben und behalten, ihre eigenen Dinge in eigener Verantwortung zu regeln.
Wir wissen, daß die tragenden Kräfte der Volksrepublik Polen, die um ein neues gesellschaftliches Gleichgewicht ringen,
nicht daran denken, sich aus dem Bündnissystem zu lösen, in das sie einbezogen sind. Wir denken j a im übrigen auch nicht daran.
Eine bessere europäische Zukunft ergibt sich nicht aus Brüchigkeiten innerhalb der bestehenden Allianzen, sondern durch friedenssichernde Regelungen zwischen diesen und eines Tages vielleicht über sie hinaus.
Verbundenheit mit den Polen, meine verehrten Kollegen, ist nur eine solche, verdient diese Bezeichnung nur, wenn sie erkennt und respektiert, daß die Polen ihre Zukunft selber finden wollen und müssen — wollen und müssen! — und, wie ich hoffe, werden.
Eine Bemerkung, die auch noch zu dieser Debatte gehört: In diesen Tagen hat mit Baden-Württemberg das dritte unionsregierte Bundesland seinen Aus-
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tritt aus der Deutschen Gesellschaft für Friedens-und Konfliktforschung erklärt.
Ich finde es beklemmend, daß die Union ausgerechnet in der gegenwärtigen Situation, in der die Friedensdiskussion in unserem Land besonders intensiv weitergeführt werden wird, die Förderung der Friedensforschung aufkündigt,
und zwar zu einem Zeitpunkt, wo Beiträge der Friedensforschung zu Alternativen der Friedenssicherung besonders wichtig sind.
— Ich möchte erst meine Argumentation zu diesem Punkt abschließen. Ich sage —
ich hoffe, daß ich für die Kollegen der Freien Demokraten mitsprechen kann —: Die sozialliberale Koalition stellt sich diesem Druck der CDU/CSU entgegen.
Wir wollen keine Chance
— ich bin immer noch nicht mit dem Punkt zu Ende — ungenutzt lassen, um den Erkenntnisstand im Bereich von Frieden und Sicherheit zu verbessern und zum Gegenstand weiterer öffentlicher Debatten zu machen. Die Deutsche Gesellschaft für Friedens-und Konfliktforschung muß ihre bewährte Arbeit fortsetzen können. Das sind wir auch dem Mann schuldig, der hier im Jahre 1969 als gewählter Bundespräsident gestanden und die Bildung dieser Gesellschaft angeregt hat; ich meine Gustav Heinemann.