Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie sollten während der Genfer Verhandlungen nicht nur den Kontakt mit der sowjetischen und der amerikanischen Regierung und unseren Freunden fortsetzen, sondern vor allem den Kontakt in Ihrer eigenen Partei pflegen. Das ist das, was jetzt not tut.
Sie haben heute in Ihrer Regierungserklärung — auch darauf muß wenigstens mit einer kurzen Bemerkung eingegangen werden — in der Ihnen eigenen zurückhaltenden Weise bei der Würdigung Ihrer Leistung
davon gesprochen, daß die Sprachlosigkeit zwischen den Weltmächten überwunden worden sei. Sie haben gesagt, Sie selbst hätten nicht gesagt, daß das Dolmetschen notwendig sei. Ich sage es jetzt mit meinen Worten. Aber Sie fanden es gut, daß es andere über Sie gesagt haben.
Ich finde, wir sollten uns hier dem Kollegen Genscher anschließen — damit will ich das abschließend behandeln —, der im Juli dieses Jahres gesagt hat, daß es wichtig sei, das „törichte Gerede über die angebliche Sprachlosigkeit der beiden Großmächte vom Tisch" zu bringen.
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 70. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1981 4065
Dr. Kohl
Meine Damen und Herren, das Dolmetschen kann in der Tat das direkte Gespräch zwischen den Weltmächten nicht ersetzen. Ich habe in meinen Gesprächsmöglichkeiten mit dem amerikanischen Präsidenten wie mit dem Generalsekretär Breschnew die Zeit dazu genutzt, auch in unserem Namen darauf zu dringen, daß es möglichst bald zu einem direkten Gespräch zwischen beiden kommt. Denn wir sind überzeugt, daß dies ein wichtiges Zeichen für den Friedenswillen und die Friedenschancen beider Regierungen wäre. ,
Meine Damen und Herren, wir werden die Ergebnisse der deutsch-sowjetischen Gespräche, wie sie im gemeinsamen Kommuniqué vom 25. November zum Ausdruck kommen, nicht an ihrem Wortlaut, sondern ausschließlich an den Taten der beiden messen.
Dies gilt für den Bereich der Abrüstung, der Rüstungskontrolle und vor allem für die zweiseitigen Beziehungen. Ich will — Herr Bundeskanzler, weil Sie nicht davon gesprochen haben — zwei Punkte dieses Kommuniqués herausgreifen.
Erstens. Die „Zusammenarbeit auf den Gebieten der Kultur, der Wissenschaft und Technik, der Bildung, des Sports und des Tourismus" soll vertieft werden. Ich erinnere heute wiederum daran, daß jetzt seit mehr als sieben Jahren vier deutschsowjetische Abkommen über Rechtshilfe, Kulturaustausch, technisch-wissenschaftliche Zusammenarbeit und Umweltschutz unterschriftsreif vorliegen, aber bisher nicht in Kraft treten konnten, weil sich Moskau weigert, West-Berlin mit einzubeziehen. Als Sie, Herr Bundeskanzler, 1974 — 1974! — von Ihrer ersten Moskaureise als neugewählter deutscher Regierungschef zurückkehrten, erklärten Sie öffentlich, es gehe jetzt nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie der Einbeziehung West-Berlins. Ich frage Sie: War dies eigentlich kein Thema bei dem Gespräch mit Herr Breschnew jetzt, sieben Jahre danach?
Zweitens. Ich zitiere aus dem Kommuniqué:
Beide Seiten führten einen Meinungsaustausch über humanitäre Fragen und erklärten ihre Absicht, diese Fragen in wohlwollendem Geist zu lösen.
Ich verweise in diesem Zusammenhang nur auf die Tatsache — die bedrückend ist —, daß im Monat November dieses Jahres, im Besuchsmonat des sowjetischen Generalsekretärs, nur knapp über 60 Ausreiseerlaubnisse von den sowjetischen Behörden erteilt wurden.
Es ist doch berechtigt, die Frage zu stellen: Wie kommt es, daß wir ausgerechnet in dem Monat, in dem Breschnew zu uns kommt, den absoluten Minusrekord im Blick auf die Ausreisegenehmigungen verzeichnen? — Nicht nur das, Herr Bundeskanzler, Sie wissen selbst, daß uns alle täglich Bittgesuche für Familienzusammenführungen erreichen. Es handelt sich dabei in vielen Fällen um bitteres
menschliches Leid. Und wir sollten uns einig sein, daß es unverzichtbar für den Frieden in Europa ist, daß auch und gerade dieses menschliche Leid überwunden wird.
Man kann nicht vom Frieden reden, und man kann schon gar nicht dem Frieden dienen, wenn nicht die einfachste und selbstverständlichste menschliche Friedensbereitschaft gelebt und demonstriert wird.
Dies gilt auch für die innerdeutschen Beziehungen. Generalsekretär Breschnew hat mir zugestimmt, daß die Verbesserung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten einen wichtigen Beitrag — Sie sagten ähnliches; wir unterstützen das — für den Frieden in Europa leisten kann. Wer aber dann grundsätzliche Fragen wie die nationale Frage, das Staatsbürgerrecht und anderes zur Voraussetzung macht, der will in Wahrheit keine wirkliche Verbesserung der Beziehungen. Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, jetzt im dritten Anlauf zu einem Gespräch mit dem Staatsratsvorsitzenden Honecker in die DDR gehen, so hoffen wir im Interesse aller betroffenen Deutschen, daß über die Erklärung, daß beide Seiten für den Frieden eintreten, hinaus über ganz konkrete menschliche Erleichterungen verhandelt wird.
Auch hier geht es nicht um die Überwindung von Sprachlosigkeit. Die Probleme sind bekannt. Es muß endlich gehandelt werden. Es müssen Zeichen gesetzt werden.
Erfolgreiche Abrüstung und Rüstungskontrolle setzen Vertrauen voraus, und solches Vertrauen schafft man nicht dadurch, daß man Grenzen undurchdringlicher macht, sondern dadurch, daß man sie offenhält oder öffnet für die Begegnung von Menschen im gleichen deutschen Vaterland.
Wer den Frieden in Europa sichern will, muß vor allem daran arbeiten, die Spannungen abzubauen, die sich aus der Spaltung Europas und damit aus der Spaltung Deutschlands ergeben. Deshalb mißt sich die Glaubwürdigkeit der Friedens- und der Entspannungspolitik der Sowjetunion und der DDR vor allem auch daran, was sie konkret tun, um die Folgen der Spaltung für die heute lebende Generation erträglicher zu machen, und was sie bereit sind, beizutragen, um diese Spaltung langsam zu überwinden. In diesem Sinne, meine Damen und Herren, bedarf deutsche Ostpolitik, Politik der Verständigung und Zusammenarbeit mit den Staaten des Warschauer Paktes, der Ideen, unserer Energien, um jeden noch so kleinen Schritt zu finden und zu unternehmen, der uns dem Ziel einer wirklichen gesamteuropäischen Friedensordnung näherbringt, die letztlich in die Überwindung der Spaltung unseres Vaterlandes einmünden muß.
Ich glaube, dies alles wird um so eher gelingen, je erfolgreicher wir in der Einigung des freien Europa
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Dr. Kohl
voranschreiten. Und, Herr Bundeskanzler, die Londoner Konferenz der Staats- und Regierungschefs gab dazu wahrlich wenig Ermutigung.
Das, was Sie hier gesagt haben, war schlicht und einfach eine Beschönigung der Tatsache, daß die wichtigsten Ziele dieser Konferenz nicht erreicht wurden.
Wenn sich die SPD/FDP-Koalition in diesen letzten elf Jahren mit der gleichen Entschiedenheit, ja, beinahe Leidenschaft, um die europäische Integration bemüht hätte, wie sie diese Investition an Kraft und Geist in die Ostpolitik eingebracht hat, wären wir in Europa ein entscheidendes Stück weitergekommen.
Ihre heutige Rede hat einmal mehr deutlich gemacht, daß diese Frage für Sie letztlich zweitrangig ist.
Welches Bild hat denn eigentlich der Europäische Rat unseren Bürgern, den Bürgern in Europa auf seinem sogenannten Londoner Gipfel vermittelt? Die Staats- und Regierungschefs haben ihre Beratungen in den entscheidenden Fragen ohne Einigung abgebrochen. Der Mißerfolg ist offenkundig, und jetzt sollen die Außenminister als die „großen Zaubermänner" vor Weihnachten die Dinge in Ordnung bringen. Die Anpassung des Agrarmarkts ist weiter hinausgeschoben worden; die Präsidenten und Regierungschefs haben über eine Reform der Milchmarktordnung verhandelt; sie konnten sich nicht einig werden. Und Sie, Herr Bundeskanzler, und vor allem auch der Bundesfinanzminister, werden j a nicht müde, immer wieder in Deutschland die notwendigen Zahlen zu nennen, daß sozusagen wir Deutsche es seien, die in Europa zahlen müßten, oder daß wir jetzt etwas zurückerstattet bekommen müßten, daß wir etwas „herauskriegen" müßten, um Sie wörtlich zu zitieren. Herr Bundeskanzler, es mag heute bei einer zunehmenden Provinzialisierung der deutschen Diskussion sogar populär sein, was Sie da machen, aber es ist nicht klug im Blick auf die Zukunft.
Es ist in der langen Frist deutscher Politik nicht klug, denn wenn es überhaupt ein Land in Europa gibt, das die politische Einigung Europas über die allgemeinen Gründe hinaus braucht, dann ist es das geteilte Deutschland, weil nur unter einem europäischen Dach — wann immer es sein wird — eine Chance bestehen kann, etwas für die Einheit der deutschen Nation zu tun.
Welches Vertrauen, j a, welche Zuneigung sollen die Bürger unseres Landes, vor allem die Jungen, zu dieser Idee Europas gewinnen, wenn bei der Darstellung der eigenen Regierung das Geld — so wichtig es ganz gewiß ist —, die Frage des Rückzahlens, des Einzahlens unentwegt, sozusagen kontraproduktiv, in die öffentliche Debatte eingebracht wird? Wer
sagt denn eigentlich, Herr Bundeskanzler, unseren Mitbürgern, was wir der europäischen Idee in diesem Vierteljahrhundert an Wohlstand, an politischer Stabilität, ja an Frieden und Freiheit jetzt schon seit Jahrzehnten verdanken? Herr Bundeskanzler, was tun Sie, um der jetzt heranwachsenden Generation die europäische Idee wieder als diese großartige Idee deutlich zu machen, die wir brauchen, wenn wir nicht in den Nationalstaat des 19. Jahrhunderts zurückfallen wollen?
Ich will drei Punkte bei der Bewertung des Gipfels hervorheben.
Erstens. Es war richtig und notwendig, daß die Staats- und Regierungschefs ihre Beratungen auf die wirtschaftlichen und sozialen Probleme konzentriert haben. Arbeitslosigkeit, Inflation, Wachstumsschwäche und zerrüttete öffentliche Finanzen in vielen Mitgliedstaaten lassen keine andere Wahl. Um so bedauerlicher ist es, daß sie in der schwierigen wirtschaftlichen Lage, in der sich die Gemeinschaft befindet, der schwierigsten seit ihrem Bestehen, ohne konkrete Entscheidungen auseinandergegangen sind. Die Staats- und Regierungschefs haben damit der europäischen Wirtschaft die notwendigen europäischen Rahmendaten verweigert, die sie für ihre Dispositionen auf europäischer Ebene dringend benötigt. Statt dessen hat dieser Londoner Gipfel Zweifel und Unsicherheit geschaffen, wo Gewißheit und Stetigkeit notwendig gewesen wären.
Das Vertrauen in den Integrationsprozeß hat einen weiteren Stoß erlitten. Gerade wer wie Sie zu Recht die soziale Dimension dieses Integrationswerkes betont, wäre doch aus Solidarität mit den über 10 Millionen Arbeitslosen in Europa verpflichtet gewesen, notfalls so lange zusammenzusitzen, bis eine Einigung möglich ist.
Die Staats- und Regierungschefs haben unter Verwässerung der Institutionen der Römischen Verträge faktisch immer mehr Befugnisse an sich gezogen, aber, Herr Bundeskanzler, die Staats- und Regierungschefs — das trifft für alle zu, nicht nur für Sie — weigern sich, diese Befugnisse verantwortlich zu nutzen. Das ist doch der Einwand, der hier gemacht werden muß.
Zweitens. Es ist in der Sache bedauerlich, daß nunmehr seit fast schon zwei Jahren ein wesentlicher Teil der Entscheidungskraft und der Beratungszeit der europäischen Gremien für die Lösung des Haushaltsproblems vertan wird. Wenn sich die beim Vertragsabschluß erwartete Anpassung der britischen Agrarstrukturen an die des Kontinents verlangsamt hat und wenn dadurch nicht vorhersehbare Belastungen für Großbritannien entstanden sein sollten, so widerspricht es nicht der Solidarität der Gemeinschaft, im Billigkeitswege einen zeitlich vernünftig begrenzten und degressiven Ausgleichsmechanismus zu vereinbaren.
Sie wissen aus unseren Gesprächen der Vergangenheit, Herr Bundeskanzler, daß wir bereit waren und sicher auch in Zukunft bereit sind, solche Lö-
Dr. Kohl
sungen mitzutragen. Wir meinen aber gleichzeitig, daß das vierte Mal, wo jetzt über dieses Thema verhandelt wird, auch das letzte Mal sein muß. Niemand kann und soll die Tragweite der agrarpolitischen Entscheidungen geringschätzen. Die Gemeinschaft ist verpflichtet, ein angemessenes Einkommen der europäischen Bauern zu sichern. Strukturelle Überschüsse können dauerhaft nur mit Hilfe struktureller Maßnahmen bekämpft werden. Eine Reform — oder besser gesagt: Anpassung — der europäischen Agrarpolitik braucht deshalb einen langen Atem. Die gemeinsame Agrarpolitik muß kostengünstiger werden, darf aber zugleich nicht nach außen abgeriegelt werden.
Wir begrüßen es, daß die Kommission längerfristige Perspektiven der Agrarentwicklung als Orientierungspunkte der fälligen Entscheidung vorgeschlagen hat. Sie sind geeignet, den Wandlungsprozeß in den Strukturen, den wir seit 30 Jahren erleben, mit Augenmaß fortzusetzen. Aber, Herr Bundeskanzler, es fehlt immer noch eine überzeugende Lösung für den Mittelmeerraum. Wir sehen mit Besorgnis, daß die großen Probleme, die sich aus der Integration der Landwirtschaft Spaniens und Portugals ergeben, und die Probleme, die sich aus der Berücksichtigung der legitimen Absatzwünsche der meisten mit Europa assoziierten Staaten am Südufer des Mittelmeeres ergeben, völlig ungelöst sind.
Die Erweiterung der EG darf nicht nur unter fiskalischen Gesichtspunkten gesehen werden. Es geht zu allererst um politische Entscheidungen und um den politischen Willen. Welches ist eigentlich die Konzeption der Bundesregierung? Wir dürfen höflich bitten, daß wir sie irgendwann einmal erfahren. Wir werden keine Lösung mittragen, die den lebensfähigen bäuerlichen Familienbetrieb zum Objekt einer Agrar-Sozialpolitik degradiert.
Wir werden uns allen Vorschlägen entschieden widersetzen, die das Leistungsprinzip in der Landwirtschaft abschaffen. Wir bedauern, daß es gerade in der gegenwärtigen Lage nicht möglich war, die in London vorliegenden wirtschaftspolitischen Entscheidungen endgültig zu verabschieden, um sie auf diese Art vom Agrar- und Haushaltsproblem zu trennen. Dies wäre, wie ich finde, um so nötiger gewesen, als in den schwierigen Zeiten, in denen wir uns jetzt befinden, eigentlich alles — auch aus deutscher Sicht — hätte getan werden müssen, um die Deiche gegen die Flut des Protektionismus zu verstärken und zu schützen.
Drittens. Herr Bundeskanzler, der Verlauf des Londoner Gipfels hat erneut bewiesen, wie sehr die Entscheidungsverfahren der Gemeinschaft im letzten Jahrzehnt verwässert worden sind. Das Konsensprinzip im Europäischen Rat bedeutet eine Verstärkung vertragswidriger Vetomöglichkeiten,
Vetomöglichkeiten in Punkten, in denen eine Mehrheitsabstimmung möglich und mehr denn je auch notwendig gewesen wäre. Ich behaupte — ich sage dies auch angesichts dessen, was gerade gesagt und
geschrieben wurde aus Anlaß des 80. Geburtstags unseres Freundes Walter Hallstein —, daß es in London kein Problem gegeben hat, das nicht bei einer vertragsgemäßen Anwendung der Entscheidungsverfahren hätte entschieden werden können.
Herr Bundesaußenminister, angesichts dieser Situation frage ich mich, woher Sie eigentlich den Mut nehmen, in einer von Ihnen und dem Außenminister Colombo vorgetragenen Initiative noch mehr Entscheidungsverantwortung auf diesen Rat zu verlagern, der doch soeben in London seine völlige Unfähigkeit zur Lösung dringender Probleme unter Beweis gestellt hat.
Natürlich unterstützen wir — damit da kein Zweifel aufkommt — jeden gangbaren Weg, um die europäische Integration im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Kulturpolitik voranzubringen. Nur — auch das muß im Deutschen Bundestag ausgesprochen werden, meine Damen und Herren — darf dies nicht zu Lasten der Institutionen gehen, also weder zu Lasten des direkt gewählten Parlaments noch zu Lasten der Kommission, deren politische Funktion als Motor uneingeschränkt wiederhergestellt werden muß. Ich teile deshalb die in weiten Kreisen des Europäischen Parlaments quer durch alle Fraktionen vorgetragene Skepsis in das unkoordinierte Nebeneinander von Entscheidungen über Außen- und Sicherheitspolitik auf der einen Seite und Wirtschaftspolitik auf der anderen Seite.
Die CDU/CSU-Fraktion weiß um die besondere Verantwortung, die der Bundesrepublik Deutschland angesichts ihrer geographischen Lage, der Leistungskraft ihrer Wirtschaft und ihrer Geschichte für den Erfolg der europäischen Einigung zukommt. Sie weiß, daß mit dieser Verantwortung, vor allem gegenwärtig, mehr Pflichten und mehr Lasten verbunden sind. Sie weiß auch, daß dies in weiten Teilen unserer Bevölkerung nicht eben populär ist. Dennoch sagen wir auch zu den notwendigen Opfern für Europa ja. Was wir jetzt in Europa wieder brauchen, ist eine Perspektive, die über die sicherlich schwierige Detailabstimmung hinausweist. John McCloy hat in diesen Tagen in einer Gedenkrede über Jean Monnet gesagt: „Es ist gewiß an der Zeit, mit dieser Art von gegenseitiger Kritik endlich aufzuhören und das zu tun, was Jean Monnet in solchen Situationen zu tun pflegte, auf einen hohen Berg zu steigen und nach neuen besseren Aussichten zu suchen." Genau das braucht heute Europa. Es geht um Strukturfragen, es geht um Existenzfragen der Gemeinschaft, also um Politik. Es geht auch um Geld, aber es geht besonders um die Vision des neuen Europa. Darum geht es vor allem, und deswegen ist es wichtig, das deutlich zu machen.
Die europäische Akte, Herr Bundesaußenminister, kann ein solcher Versuch zum Aufzeigen politischer Perspektiven sein, kann auch ein Instrument sein, um die materiellen Fragen leichter lösen zu können, um Kompromisse zu finden, um des großen Zieles willen. Es bleibt auch und gerade nach diesem Londoner Gipfel der geschichtliche Auftrag für die
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Dr. Kohl
heute lebende Generation des freien Europa, über das Jetzige hinaus alles zu tun, um einen Beitrag zur politischen Einigung Europas zu leisten.
Ich bleibe bei meiner These, daß wir in unserer Generation die Chance haben, zu den vereinigten Staaten von Europa, zur politischen Einigung Europas kommen. Wenn diese Chance in unserer Generation vertan wird, wird es lange Zeit, wird es viele Generationen brauchen, bevor diese Chance wiederkommt.
Das haben die großen Gestalten, die am Beginn dieser europäischen Entwicklung standen, auch so gedacht. Sie haben es gedacht aus dem Erlebnis ihres Lebens, aus der Erfahrung von zwei bitteren völkermordenden Kriegen in Europa, die die ganze Welt ins Elend gestürzt haben. Sie hatten begriffen — das gilt auch heute für uns —, daß die Stimme Europas in der sich wandelnden Welt nur dann Gewicht haben wird, wenn es eine einige Stimme ist und wenn das, was einmal die Idee des Abendlandes war, sich im Konzert der Welt und der Kontinente auch in Zukunft entsprechend äußern kann.
Mit diesen Gedanken sind wir in unserer Generation als Schüler und Studenten nach dem Krieg angetreten. Es war die Begeisterung der europäischen jungen Generation, es war eine Europabegeisterung, die damals — das kann man ganz buchstäblich sagen — keine Grenzen kannte. Es fehlt heute nicht an Stimmen, die den Mitbürgern einreden wollen, der breite Strom sei versiegt, die Chance dieses Europas sei bereits vertan; die vereinigten Staaten von Europa, die politische Einigung Europas seien keine Themen mehr für die junge Generation. Ich finde, das ist eine verräterisch durchsichtige Zweckbehauptung, und sie kann nur von Leuten kommen, die entweder den Rückfall in das sterile Denken des Nationalstaats des 19. Jahrhunderts wollen oder auf dem Weg zu einer ganz anderen Republik sind. Beides ist nicht unsere Politik. Es gibt kein Zurück zum Nationalstaat Otto von Bismarcks; dieser Nationalstaat kommt nie wieder. Darüber müssen wir uns gerade im geteilten Deutschland einig sein.
Die Jungen bei uns wie draußen in anderen europäischen Ländern wollen ein Europa, das mehr als eine Wirtschafts- oder Währungsunion ist. Sie fragen uns, die Verantwortlichen in den Parlamenten und Regierungen, nach den Perspektiven unserer Politik für diesen alten Kontinent. Natürlich wollen die Jungen auch Wohlstand, sichere Arbeitsplätze, soziale Sicherheit. Sie denken an ihre Aufstiegsmöglichkeiten, aber sie suchen dennoch mehr. Sie wollen sich für eine Idee, für eine Politik einsetzen, die mehr bietet als materiellen Wohlstand; sie wollen ein Stück Vision in der Politik. Das war und das ist für uns die Idee der freiheitlichen und sozialen Partnerschaft in Europa. Wir wollen ein Europa der freien Bürger, ein Europa des Ausgleichs, der sozialen Sicherheit, der wirtschaftlichen und finanziellen Stabilität. Wir wollen ein Europa, das sich auch in
Zukunft als Teil der freien Welt begreift und das in dieser Weise dem Frieden dient.
Meine Damen und Herren, es ist schwer, im Alltag und nach den Erfahrungen beim europäischen Gipfel daran zu glauben, daß dieses Europa Wirklichkeit werden könnte. Ich warne aber vor Resignation. Wenn Robert Schumann, Alcide de Gasperi und Konrad Adenauer in den frühen 50er Jahren oder Winston Churchill in seiner großen Rede 1946 in der Schweiz, wenn alle, die die Erfahrung ihrer Generation in zwei Kriegen hinter sich hatten, so kleinmütig und so resigniert gewesen wären, wie so viele von denen heute resigniert sind, die für sich in Anspruch nehmen oder behaupten, Politik für die Zukunft zu machen, wäre dieser Aufbruch nie möglich gewesen. Ich komme aus einer Landschaft in Deutschland, in der ich in meinen Schülertagen in der Grundschule noch etwas vom „Erbfeind Frankreich" las. In der Generation meiner Kinder ist dies heute völlig undenkbar. In über 25 Jahren haben wir eine selbstverständliche Freundschaft — nicht primär der Regierungen, sondern der Völker — zwischen Deutschen und Franzosen begründet. Das geht in Europa weiter, vor allem bei der jungen Generation.
Wer hier Resignation vorlebt oder predigt, verspielt ein Stück Zukunftschance auch des freien Deutschland. Wir — ich sage es noch einmal —, die Deutschen, brauchen die europäische Einigung. Bei allen Schwierigkeiten im Materiellen, die ich nicht leugne, brauchen wir die Vision des freien, politisch geeinten Europas. Wir, die Union, wollen wie vor 30 Jahren dazu unseren Beitrag leisten.
Wenn Sie diese Politik machen, Herr Bundeskanzler, haben Sie unsere Unterstützung.