Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Kroll-Schlüter, ich hätte hier gern mit Ihnen diskutiert. Aber ich muß sagen, daß Sie das, was Sie in der Vergangenheit geboten haben, auch heute nicht besser haben darstellen können. Es waren überwiegend Sprechblasen, und dort, wo ich versucht habe, Klarheit in Ihre Gedankengänge hineinzubringen, erschienen sie mir höchst widersprüchlich. Oder wie soll man verstehen, daß Sie der Bundesregierung auf der einen Seite vorwerfen, sie kümmere sich zuviel um die kranken Ränder in der Gesellschaft und nicht um das Gros der Jugendlichen, und auf der anderen Seite dem von der Bundesregierung vorgelegten Jugendhilfegesetzentwurf nachsagen, mit ihm
15358 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1979
Kuhlwein
solle auch in die heilen Familien eingegriffen werden?
Mir scheinen Ihre Sprechblasen eher die Probleme zu vernebeln, als Klarheit und klare Orientierungslinien für einen neuen Ansatz in der Jugendpolitik zu bringen.
Ich wollte zu dem, was vorher gesagt wurde, Herr Kollege Schwarz, nur zwei Bemerkungen machen. Der bevölkerungspolitische Ansatz Ihrer Familienpolitik, insbesondere des Familiengeldes, ist in den Ausführungen von Frau Verhülsdonk trotz aller Dementis deutlich geworden. Das nehmen wir zur Kenntnis, wenngleich wir es mit einem alten griechischen Philosophen halten, der einmal gesagt hat: Geld kann keine Jungen hecken.
— Ich glaube, es war Aristoteles. — Das gilt sicherlich nicht nur für die Zinstheorie, sondern natürlich auch für die Familienpolitik, wenn Sie damit Bevölkerungspolitik machen wollen.
In diesem Zusammenhang müßte vielleicht noch etwas Zweites angemerkt werden. Sie versuchen, über Familiengeld Bevölkerungspolitik zu machen. Das ist eigentlich nichts anderes — Herr Kollege Franke hat das hier vor einem Dreivierteljahr auch einmal so genannt — als eine Art indirekte Investitionslenkung — Sie haben damals von Investitionen gesprochen als eine Art Globalsteuerung, wo Sie versuchen wollen, mit Geld
— das geht über Ihren Verstand, Herr Kollege Hasinger; das habe ich schon lange geahnt — die Bevölkerungsentwicklung zu steuern.
Meine Damen und Herren, ich wollte versuchen, etwas über die Situation unserer Jugend zu sagen. Herr Kollege Kroll-Schlüter hat sicherlich recht, wenn er sagt: Wir dürfen nicht immer so tun, als sei der größere Teil der Jugendlichen eine Gruppe von Gammlern, Fixern, Sektenjüngern, Alkoholikern oder möglicherweise Politgangstern. Aber über eines sind wir uns wohl einig: daß die Jugend in unserer Gesellschaft Probleme hat, allerdings nicht nur Probleme, die von der Regierung verursacht sind, sondern auch solche, die von einer gesellschaftlichen Entwicklung mit beeinflußt sind, bedingt durch rapiden technologischen Fortschritt, und wo Gesellschaft aus sehr vielen Gruppen, Orientierungen und Verbänden besteht und wo der Staat aus vielen verschiedenen Ebenen besteht. — Frau Kollegin Wex, Sie wissen es hoffentlich, auch wenn Sie so tun, als würde hier die Bartwickelmaschine bei Ihnen arbeiten.
Die Einflüsse, die auf die Jugend einwirken, kommen von sehr vielen verschiedenen Seiten. Unter den Jugendlichen gibt es einen großen Bereich, der davon im Kern nicht getroffen ist und der es lernt, in diese Gesellschaft ohne besonders große Konflikte hineinzuwachsen.
Dann gibt es eine Gruppe, die ein alternatives Leben in einer neuen jugendlichen Subkultur sucht; das sind manchmal nicht die Schlechtesten. Sie halten uns einen Spiegel vor. Dazu möchte ich ein Zitat aus der Zeitschrift „Jugendwohl" des Caritasverbandes bringen. Der Diplom-Theologe Fritz Boll sagt dort:
Betrachtet man aus dem breit gefächerten Spektrum der alternativen Lebensformen die sogenannte jugendliche Subkultur, dann fällt auf, daß hier Normen und Werte vertreten werden, die den von Ohnmachtsgefühlen und von Sinnverlust geplagten heutigen Menschen nachdenklich stimmen können. Diese Subkultur zeichnet sich dadurch aus, daß sie Alltag ohne zusätzliche Unterdrückung erleben will. Sie plädiert für eine Selbstorganisation der Bedürfnisse. Sie versucht, Solidarität und gegenseitige Hilfe zu realisieren. Sie ist für Dezentralisierung und Vorwegnahme von Herrschaftslosigkeit. Sie schreibt inhaltliche Demokratisierung, Spontaneität, Überschaubarkeit, Befriedigung der verdrängten Bedürfnisse, Autonomie und Kooperation, Kreativität und Phantasie auf ihr Programm.
Meine Damen und Herren, wenn das so ist und Herr Boll recht hat — ich glaube, er hat in vielem recht, was er hier schreibt —, dann sollten wir das, was von dort kommt, als Signal auch für unsere Politik verstehen. Das gilt dann nicht nur für die Jugendpolitik, sondern auch für die Kommunalpolitik, wo Jugendliche mehr Partizipation erwarten dürfen; und das gilt für die Wirtschaftspolitik, wo Jugendliche mehr Dezentralisierung erwarten dürfen; und das gilt für die Technologiepolitik, wo Jugendliche erwarten dürfen, daß wir ihre Forderungen nach Entwicklung und Anwendung sanfter Technologien ernster nehmen als bisher; und das gilt auch für die Bildungspolitik, wo Jugendliche erwarten können, daß die Förderung von Sozialverhalten mindestens so stark honoriert wird wie das Absolvieren klassischer Leistungen.
Ich möchte nun auf das kommen, was der Ministerpräsident von Bayern uns vor zwei Tagen hier vorgetragen hat, als er dem Hohen Hause anvertraute, daß sich die bayerischen Schulkinder in seinem gegliederten Schulsystem so besonders glücklich fühlten. Am selben Tage erschien in der Süddeutschen Zeitung, die ich allen für solche Gelegenheiten zur Lektüre empfehle, ein Alarmbrief von 400 Schülern aus der Pullacher Oberstufe, die wörtlich an den bayerischen Kultusminister geschrieben haben:
Gepriesen wird er, der Abiturdurchschnitt der bayerischen Abiturienten, der sich über die Abiturienten anderer Bundesländer erhebt. Wen wundert's, daß die für Lehrer, Schüler und El-
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tern oft gleichermaßen leidensvolle Schulzeit im Rausch der Spitzennoten vergessen wird!
— Das ist ein Brief, Herr namenloser Kollege, in dem sich die 17- bis 19jährigen Schüler bitter beklagen, daß — —(Anhaltende starke Unruhe bei der CDU/
CSU — Zurufe von der CDU/CSU)
— Entschuldigen Sie, ich kenne Sie nicht.
— Herr Präsident, dürfte ich Sie bitten, dafür zu sorgen, daß ich hier reden kann!
Das ist also ein Brief, in dem sich die 17- bis 19jährigen bitter beklagen, daß im heutigen, vom Leistungsdruck geprägten Schulsystem die Entwicklung zum verantwortungsbewußten, ideenreichen und argumentationsfreudigen Menschen auf der Strecke bleibt. Und das sind bayerische Schüler, die unter Franz Josef Strauß aufwachsen und die segensreiche Tätigkeit des bayerischen Kultusministers erfahren müssen.
Wenn das richtig ist, ziehe ich die Schlußfolgerung, daß an den bayerischen Schulen offenbar auch Staatsverdrossenheit, Entmutigung und Desinteresse gezüchtet werden. Meine Damen und Herren, ich habe keine Lust — und wir werden das auch den Wählern draußen sagen —, diese bayerischen Spezialitäten in die gesamte Republik exportieren zu lassen.