Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Debatte hat zumindest zeitlich eine etwas seltsame Struktur. Ich gestehe offen, daß die FDP-Fraktion davon ausgegangen war, daß in der zeitlichen Aufteilung hier eine Parität zwischen dem Arbeits- und Sozialhaushalt einerseits und dem Etat des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit andererseits bestehen sollte. Aber, Herr Kollege Müller , Ihr Beitrag gibt mir Gelegenheit, einmal völlig unvorbereitet, spontan — das ist bei Ihrem Beitrag nicht so schwer — auch einiges zur Beschäftigungspolitik zu sagen.
Sie haben versucht, hier den Eindruck zu erwekken, Ihr Beitrag stelle ein Kontrastprogramm zur Beschäftigungspolitik der sozialliberalen Koalition dar.
Ich unterschreibe vieles von dem, was Sie gesagt haben, aber es war zweifellos kein Kontrastprogramm zu uns, sondern Ihr Referat war ein Kontrastprogramm zu den Vorstellungen z. B. Ihrer eigenen Fraktionskollegen Kraus oder Schedl. Denn wir haben nicht gesagt, daß wir die Mobilität so weit treiben wollten, daß sie inhuman sei, sondern der Kollege Schedl — ich sage das wertneutral — hat die Frage aufgeworfen, ob das Problem der Arbeitslosigkeit nicht auch ein Problem der Arbeitswilligkeit sei. Es waren Ihre Fraktionskollegen, die in der Diskussion Fragen in der Richtung gestellt haben,
ob man hier nicht stärker einschreiten solle, wenn es um den Begriff der Zumutbarkeit gehe.
Und, Herr Kollege Blüm: Verbieten Sie uns die Diskussion in der Koalition? Übrigens, was die FDP angeht, müssen Sie sich jetzt einmal entscheiden: Sind wir eine Blockpartei,
die immer nur das tut, was die SPD will, oder sind wir eine eigenständige Partei,
wie wir uns verstehen? Festzustellen ist jedenfalls: Wenn unsere Gedanken, unsere Vorschläge einmal von denen der SPD abweichen, werden wir von Ihnen immer wieder kritisiert. .
Herr Kollege Blüm, da Sie mich jetzt so ganz verängstigt anstarren: Ihr Rentenprogramm vom Dienstag war ein CDU/CSU-Rentenprogramm, das letzten Endes auch ein Kontrastprogramm zum CDU/ CSU- Rentenprogramm Ihres Kollegen Prinz zu SaynWittgenstein-Hohenstein war. Denn er hat gesagt: bruttolohnbezogene Anpassung ohne Wenn und Aber.
Das Wenn und Aber haben Sie ja, Kollege Blüm — komische Umkehrung der Fronten —, durch Ihren Schwindel mit dem Krankenkassenbeitrag am Dienstag geliefert.
Aber gut, dazu wollte ich nichts sagen; das ist Ihr Problem. Sie sind eben eine große, umschlingende Volkspartei, die alles an Profilen, Ecken und Kanten verschluckt, was hier und da noch sichtbar ist.
Je nach Publikum hängen Sie dann die entsprechenden Fahnen — mal etwas rosa und dann wieder etwas schwärzer — heraus, aber ich glaube, der Wäh-
15330 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 13. Dezember 1979
Hölscher
ler erkennt keine Konturen. Deshalb werden Sie- in der Opposition bleiben.
Ich möchte, Herr Kollege Müller, einiges von dem aufgreifen, was Sie gesagt haben — und dies nicht nur kritisch. Es ist zweifellos richtig, daß wir ein strukturell bedingtes Arbeitslosenproblem haben. Denn die konjunkturell bedingte Arbeitslosigkeit läßt sich — dies zeigen die sinkenden Zahlen gerade in den letzten Monaten — doch relativ einfach lösen. Noch vor zwei Jahren haben Ihre wirtschaftspolitischen Sprecher gesagt, die Industrie investiere nicht, weil sie kein Vertrauen in die sozialliberale Koalition habe. Nachdem sie jetzt — seit einiger Zeit — investiert, hat sie dann zumindest in den letzten Jahren erhebliches Vertrauen zu uns bekommen, und zwar zu Recht. Dies hatte sie aber vorher auch schon.
Aber: Wenn die Arbeitslosigkeit eben stark strukturell bedingt ist, dann müssen wir uns mit den wahren Problemgruppen — nicht mit dem Bodensatz und schon gar nicht im diskriminierenden Sinn — befassen. Herr Kollege Müller, meine Damen und Herren von der Opposition, wir werden uns doch darüber einig sein, daß die Arbeitslosigkeit eines älteren Buchhalters mit fünf Kindern anders zu bewerten ist als die formale Arbeitslosigkeit einer Teilzeitarbeit suchenden Frau, die vorher gar nicht gearbeitet hat. Ich hoffe, daß wir uns in diesem Punkt einig sind; hier muß man auch einmal die Statistik bereinigen. Nur: Wenn Sie die Arbeitslosenstatistik hier so vordergründig darstellen, Herr Kollege Müller,
dann mag zwar der Eindruck entstehen, als wenn es draußen regnet — es regnet heute vielleicht draußen —, aber in den Herzen der Menschen sieht es gar nicht so schlecht aus. Sie wissen, daß Arbeitslosigkeit ein großes Problem ist, daß aber nicht jeder, der statistisch als Arbeitsloser gemeldet ist, auch wirklich ein Arbeitsloser ist.
Für die Problemgruppen müssen wir viel tun. Ich hoffe, daß wir uns einig werden, daß wir uns hinsichtlich bestimmter Arbeitsloser, die nur sehr schwer zu integrieren sind — ich denke da z. B. an die längerfristig arbeitslosen Schwerbehinderten —, einmal ohne Vorbehalt und — Herr Kollege Müller, wenn ich Sie darum bitten darf — auch ohne Polemik und Unterstellungen
über den Kündigungsschutz unterhalten müssen. Denn es gibt Schutzbestimmungen, die im Grunde genommen kein schützendes Dach mehr darstellen für diejenigen, die draußen stehen. Sie wissen selbst, daß uns viele arbeitslose Schwerbehinderte dringend darum bitten, ihnen durch Auflockerung des Kündigungsschutzes wenigstens eine Chance zu geben, einmal wieder mit dem Berufsleben, mit der Arbeit anfangen zu können.
Ich hoffe, daß wir dies ohne parteipolitische Polemik in einer sachlichen Form diskutieren können.
Von großer Bedeutung ist — hier sehe ich persönlich das Problem der Zukunft —, wie wir dem durch Einführung neuer Produktionsmethoden immer deutlicher werdenden rasanten technischen Wandel — z. B. EDV-Einstieg in die Verwaltung — nach einem zeitlich sicher wohltuenden Verzögerungseffekt begegnen können. Aber dies können wir nicht, indem wir den Unternehmen etwa über Lohnkostenzuschüsse eine Scheinbeschäftigung ermöglichen. Ich glaube, das kann auch nicht in unserem Sinn sein. Sondern wir müssen — da gebe ich Ihnen recht — einmal überprüfen, ob das Arbeitsförderungsgesetz, aber nicht nur das Arbeitsförderungsgesetz, sondern auch der Bereich der Berufsbildung nicht nur vom Gesetzgeberischen, sondern auch vom Mittelumfang her verbessert werden müssen, um prophylaktisch das Risiko, einen unsicheren Arbeitsplatz zu haben, zu mildern. Hier müssen wir sicher sehr schnell Konsequenzen aus Entwicklungen ziehen, die sich vor zwei Jahren zum Teil noch nicht abzeichneten. Vor zwei Jahren war es eigentlich undenkbar, daß ein individuell erscheinender Brief gar nicht mehr individuell entsteht, sondern unter Verwendung von Mikroprozessoren letzten Endes anonym, maschinell angefertigt wird. Ich hoffe, wir können hier zusammenarbeiten.
Aber eines — das möchte ich abschließend sagen
— sollten wir nicht tun: Wir sollten eine noch so verständliche parteipolitische Auseinandersetzung in der Offentlichkeit oder auch in diesem Hause nicht auf dem Rücken derer austragen, für die Arbeitslosigkeit nicht nur ein materielles Problem, sondern auch das Problem einer kaum zu ertragenden psychischen Belastung ist.
— Herr Kollege Müller, das werfe ich Ihnen vor. Weil wir wissen, daß gerade die Reaktion z. B. auf diesen eintretenden technischen Wandel nicht allein in das Ermessen und die Kompetenz eines Parlaments und einer Bundesregierung gestellt ist, sollten wir aufhören, hier schwarzweißzumalen, sondern gegenüber allen hierfür Verantwortlichen — und das ist nicht nur die Bundesregierung, das sind nicht nur wir als Parlament, sondern das sind auch die Tarifvertragsparteien — unseren Einfluß geltend machen, daß im Interesse des Abbaus der strukturellen Arbeitslosigkeit auch langfristige Konzepte gefunden werden, die unser Wirtschaftssystem eben nicht als ein System der Reparaturschlosserei er-
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scheinen lassen, sondern als ein sozial eingebundenes System, bei dem die gleichen langfristigen Pläne, die wir z. B. im Bereich der Innovationsförderung aufstellen, auch für den sozialen Bereich gelten.
Das sollten wir nach Möglichkeit gemeinsam tun.