Rede von
Ludwig
Gerstein
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, bevor ich mit meinen Ausführungen beginne, zwei Bemerkungen zu dem, was der Wirtschaftsminister am Anfang seiner Rede hier gesagt hat. Er hat sein Fernsehinterview geschildert, und ich meine, auf die ihm gestellte Frage, warum es uns denn besser als anderen Ländern gehe, hätte er auch die Antwort geben können: Wir sind deswegen bisher mit den Problemen am besten fertig geworden, weil trotz aller gegenteiligen Versuche der Sozialdemokraten in den letzten zehn Jahren in unserem Land die Soziale Marktwirtschaft noch am besten erhalten geblieben ist.
Herr Wirtschaftsminister, Sie haben hier dann ja auch selbst das hohe Lied der Sozialen Marktwirtschaft vorgetragen, was wir anerkennen. Sie haben dies aber vermischt mit einer Reihe von Beschimpfungen und einer Kritik an Franz Josef Strauß, was dem Wert Ihrer Ausführungen sehr abträglich gewesen ist.
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu Herrn Reuschenbach machen. Herr Reuschenbach, Sie haben unsere gemeinsame Arbeit in der Enquete-Kommission „Zukünftige Kernenergie-Politik" angesprochen, und Sie haben aus unserer Arbeit abgeleitet, daß wir alle Suchende sind. Dies ist richtig. Aber bitte bemerken Sie doch eines: Wir gehen auch in der Arbeit der Enquete-Kommission davon aus, daß es gut ist, wenn die Opposition sich Mühe gibt, den Regierungsparteien und vor allen Dingen den Sozialdemokraten zu mehr Weisheit zu verhelfen; denn sie haben es nötig.
Dabei freuen wir uns, Herr Reuschenbach — das möchte ich Ihnen hier sagen —, wie oft Sie selber den Kernenergiegegnern Ihrer Partei in der Enquete-Kommission die Annahme solcher Weisheit empfehlen und sie auf den Weg der Tugend zurückbringen. Schönen Dank dafür an dieser Stelle, Herr Reuschenbach.
Meine Damen und Herren, ich möchte die Ausführungen zum Einzelplan 09 durch einige Bernerkungen über die Notwendigkeit einer offensiven Kohlepolitik vertiefen. Die bisherige Kohlepolitik war gewissermaßen defensiv. Sie hat sich bemüht, die Position der Kohle und vor allen Dingen die Kapazität der Kohle zu erhalten. Wir dürfen heute sagen, die großen Aufwendungen der letzten Jahre zur
Erhaltung deutscher Lagerstätten und Förderkapazitäten haben sich gelohnt. Die hohen Aufwendungen sind, auch wenn sie insgesamt Milliardenhöhe erreichen, gerechtfertigt. Im Hinblick auf die jährlichen Mehrkosten unserer Ölversorgung — 1979 werden es 17 Milliarden DM mehr als 1978 sein — sind diese Aufwendungen relativ sogar geringer geworden.
Ich möchte an dieser Stelle einmal die Absauflegende, die uns die Sozialdemokraten immer anhängen wollen, wie dies Herr Ehmke gestern versucht hat und wie dies Herr Wolfram meistens versucht — und eine Bemerkung dazu hat sich vorhin auch bei Herrn Reuschenbach gefunden —, aufgreifen und feststellen: Dies ist einfach nicht wahr. Lesen Sie doch einmal nach, was der damalige Wirtschaftsminister Erhard 1962 gesagt hat, und Sie werden feststellen, daß fast alle Instrumente zur Erhaltung deutscher Förderkapazität und zur Erhaltung der Arbeitsplätze im Bergbau zu Beginn der 60er Jahre geschaffen und angewandt worden sind und daß damals die Grundlagen zur Erhaltung des Steinkohlebergbaus gelegt worden sind, den wir heute als Sokkel unserer Energieversorgung so dringend benötigen.
— Lesen Sie es bitte nach!
Angesichts der drohenden Engpässe unserer Energieversorgung müssen wir jetzt aber den Übergang zu einer offensiven Kohlepolitik finden. Diese Politik muß über das Bewahren und Erhalten von Kapazitäten hinaus um den Ausbau von Kapazitäten und um die Sicherung zusätzlicher Kohlebezüge bemüht sein. Wir brauchen auch eine offensive Kohlepolitik, die auf der Verbraucherseite der Wiedereinführung von Kohle in den Wärmemarkt und die Kohleveredelung schneller und intensiver als bisher ermöglicht.
Wir alle spüren und sehen: Der Kohlemarkt in der Bundesrepublik befindet sich in einer schwierigen Wendephase. In den letzten Jahren lag ja die Förderung immer höher als der Absatz, und Haldenzugang war das Normale. Jetzt sind auf Grund der eingetretenen Schwierigkeiten in der Energieversorgung trotz Fördererhöhung erhebliche Haldenabgänge — seit März 1978 sind es bereits mehr als 15 Millionen t — zu verzeichnen.
Für den Inlandsbedarf stehen 112 bis 170 Millionen t SKE Stein- und Braunkohle zur Verfügung. Damit werden sich aber nur 20 % der Energieversorgung der Bundesrepublik langfristig decken lassen, unter Einschluß der Importkohle vielleicht 25 %. Meine Damen und Herren, das reicht nicht zum Ersatz von Kernenergie. Alle Rechnungen zeigen eben, daß für den Ersatz von Kernenergie durch Kohle in Wahrheit keine einzige Tonne Kohle übrig ist.
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. Dezember 1979 15251
Gerstein
Dennoch wird in der Öffentlichkeit nun oft der Eindruck erweckt, als stünde Kohle — es war heute mehrfach die Rede davon — unbegrenzt und in großen Mengen als Ersatz für viele Energieträger zur Verfügung. Dies ist falsch,
und ich halte es für sehr gefährlich, wenn unter dem Deckmantel „Vorrang für Kohle" oder unter dem pelzgefütterten Deckmantel „Absoluter Vorrang für Kohle", wie dies Ministerpräsident Rau gestern verkündet hat, sozusagen der Ausstieg aus der Kernenergie vorbereitet wird. Hier wird Kohle ohne Rücksicht auf Verfügbarkeit und ohne Rücksicht auf Kosten zum Schaden der Wirtschaft und zum Schaden der Verbraucher für energiepolitische Sandkastenspiele mißbraucht.
Meine Damen und Herren, wenn wir die Kohle wirklich nutzen wollen, müssen wir uns jetzt z. B. darüber unterhalten, daß eigentlich zunächst Braunkohle in der Größenordnung von etwa 8 Millionen t SKE aus der Stromerzeugung abgezogen werden müßte, damit sie in genügendem Umfange für die Veredelung zur Verfügung steht, wenn die Veredelungsanlagen Mitte der 80er Jahre fertig sein werden. Ich weiß — ich komme auf das zurück, was Herr Wolfram in seinem Zwischenruf gesagt hat — auch aus eigener Erfahrung, daß Kohle viel leisten kann; das hat sie in schweren Zeiten auch oft genug bewiesen. Ich bin auch sicher, daß die Kohle mehr leisten kann, als es zur Zeit der Fall ist. Aber von den Lagerstätten her, von den Belegschaften her und auch von den Kosten her — Herr Biedenkopf hat darauf hingewiesen — sind ihr Grenzen gesetzt. Soweit es die heimische Förderung angeht, werden diese Grenzen insgesamt für Steinkohle und Braunkohle — auch langfristig — bei 130 bis 140 Millionen t SKE liegen.
Dies gilt selbst dann, wenn kurzfristig alle Anstrengungen gemacht werden, um die Kapazität des deutschen Kohlebergbaus über die bisherige Planung hinaus zu erhöhen. — Nein, zusammen; Herr Wolfram, der Wert, den ich nannte, ist ein Gesamtwert von SKE — das hatte ich gesagt — für Braunkohle und Steinkohle.
Dies aber zeigt wieder: Deutsche Kohle eignet sich überhaupt nicht dazu, den Ausstieg aus der Kernenergie zu ermöglichen. Sie kann eben beim besten Willen nicht zweimal verbrannt oder zweimal veredelt werden, nur deswegen, weil Herrn Rau oder Herrn Hirsch oder Herrn Eppler die Kernenergie nicht paßt.
Auf der anderen Seite wäre es natürlich ebenso falsch, der Kohle größere Risiken zu unterstellen, als sie sie in Wirklichkeit hat. So hat der Bundeskanzler mehrfach in die Energiediskussion eingegriffen und im Zusammenhang mit Risiken der
Steinkohle die Zahl von 16 000 Bergbautoten genannt.
Dies ist falsch. Dies ist die Zahl aller im gesamten Bergbau seit Kriegsende tödlich verunglückten Bergleute. Im Steinkohlenbergbau der Bundesrepublik sind seit Kriegsende 9 000 Bergleute tödlich verunglückt. Natürlich, auch dies ist ein zu hoher Preis. Wir sollten dabei aber berücksichtigen, daß bis heute die Unfallrate, die gerade nach dem Kriege aus besonderen Gründen außerordentlich hoch war, auf ein Siebentel gesenkt werden konnte. Natürlich auch die gesundheitlichen Risiken der Silikose konnten nicht restlos beseitigt werden, aber sie sind heute ebenfalls wesentlich geringer, als sie vom Bundeskanzler dargestellt werden, wenn er in diesem Zusammenhang von Hunderttausenden von Betroffenen spricht. Meine Damen und Herren, diese Abqualifizierung hat der deutsche Kohlebergbau, einer der leistungsfähigsten und sichersten der Welt, nicht verdient.
Ein ganz anderes Risiko, das der Bundeskanzler ebenfalls beschwört, wenn er von der Kohle spricht, ist vielleicht gravierender. Es ist das Risiko des Art. 59 des EGKS-Vertrages. Hiernach könnte der Rat in einer Ausnahmesituation, bei einer Mangellage, über die Verwendung unserer Kohle so entscheiden, wie wir es nicht wollen. Leider hat die Bundesregierung in der Vergangenheit mögliche und notwendige Klarstellungen versäumt. Das bedeutet, Herr Wirtschaftsminister, heute für die Verbraucher, die auf Kohle umstellen und langfristig auf eine sichere Versorgung mit Energie auch in Krisensituationen angewiesen sind, zusätzliche Unsicherheit, und dies trägt dazu bei, daß sich Umstellungen verzögern, die notwendig sind, um vom 01 wegzukommen. Ich glaube, eine offensive Kohlepolitik sollte auch innerhalb der Europäischen Gemeinschaft für eine Klärung und möglicherweise für einen Abbau dieses Risikos sorgen.
Mit Rücksicht auf die langen Vorlaufzeiten für die Planung, für die Standortsuche, für den Bau und für die Finanzierung von allen Anlagen, die der Kohlegewinnung und der Weiterverarbeitung von Kohle dienen, müssen jetzt energiepolitische Entscheidungen fallen, die für die Versorgung der Bundesrepublik mit Kohle in den nächsten Jahrzehnten entscheidend sind. Wenn z. B. die heutige Kapazität des deutschen Steinkohlenbergbaus auch im Jahre 2000 und darüber hinaus vorhanden sein soll — und ich glaube, wir sind uns darin einig, daß dies nötig ist —, muß für den Ersatz der bis zum Jahr 2000 auslaufenden Schachtanlagen in stärkerem Umfange als bisher Vorsorge getroffen werden. Dies kann, soweit es um den Ersatz geht, im wesentlichen durch Anschlußbergwerke geschehen; dies ist richtig. Wenn jedoch darüber hinaus — und darüber wird ja zur Zeit diskutiert — die Kapazität des deutschen Steinkohlenbergbaus auf 100 bis 103 Millionen t erhöht werden soll - und dies wird wohl möglich sein —, wäre das eine Aufstockung in der Größenordnung von 10 bis 13 Millionen t, und das heißt, neben Anschlußbergwerken müßten dann auch bereits jetzt
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drei oder vier neue Großschachtanlagen auf der grünen Wiese geplant werden.
Dies ist nicht einfach. Die Standortsuche für neue Schachtanlagen ist vor allem im Ruhrgebiet nicht unproblematisch, weil teilweise Landschaftsschutzgebiete und Grüngürtel in Anspruch genommen werden müssen.
Der Zeitbedarf für die Verwirklichung solcher Planungen wird sehr groß sein und mehr als zehn Jahre betragen. Daher müßte mit der Planung jetzt begonnen werden. Wir erwarten von der Bundesregierung dringlich, daß sie uns ihre langfristigen Überlegungen zur Entwicklung der Kapazität des Kohlebergbaus vorlegt und verdeutlicht, wie groß der Umfang der Hilfestellung dabei sein muß.
Offensive Kohlepolitik bedeutet von der Angebotsseite aber auch Maßnahmen zur Sicherstellung der Kohlemengen, die wir brauchen und die aus heimischen Lagerstätten und Schachtanlagen langfristig nicht gewonnen werden können. Der Zeitpunkt, von dem an zusätzliche Importkohle wirklich erforderlich sein wird, ist schwer abzuschätzen. Auch die Mengen sind schwer abzuschätzen.
— Das ist richtig. Aber wir dürfen auch nicht so spät kommen, daß die von uns benötigten Kohlemengen am Weltmarkt nicht mehr zu haben sind. Es wäre ratsam, wenn gemeinsam mit den deutschen Bergbauunternehmen Mittel und Wege gefunden werden, wie man die Frage der Importkohle rechtzeitig so steuern kann, daß Gefahren für die heimischen Kapazitäten vermieden und gleichzeitig zukünftige Schwierigkeiten bei der Beschaffung notwendiger Kohlemengen verhindert werden.
Eine offensive Kohlepolitik muß ferner vor allem darauf ausgerichtet sein, der Kohle den Markt für einen verstärkten Einsatz für die Wärmeerzeugung und für die Veredelung wieder zu eröffnen. Darüber sind wir uns einig. Ich möchte in diesem Zusammenhang ein besonderes Problem herausgreifen, das sich als das größte Hemmnis für die Umstellung des Marktes erweist. Das ist nach wie vor die durch das Bundes-Immissionsschutzgesetz geschaffene Rechtsunsicherheit für die Investoren und Betreiber von Energieanlagen. Ich will das Problem des Baues von Kohlekraftwerken nicht noch einmal anreißen; darüber ist bereits gesprochen worden. Mir kommt es darauf an, hier einmal darauf hinzuweisen, daß die Industrie selbst mit der Umstellung sehr alter ölgefeuerter Kesselanlagen auf Kohle zögert, obwohl Industriekohle inzwischen kostengünstiger als schweres Heizöl angeboten werden kann.
Warum tut sie das? Die Industrie fürchtet, durch
Auflagen und Zeitverzögerungen im Rahmen der
Genehmigungsverfahren am Ende einer solchen
Umstellung wesentlich schlechter gestellt zu sein, als wenn sie ihre alten Anlagen auf der Basis des Bestandsschutzes weiter betreibt.