Ich glaube, daß eine 2 %ige Wachstumsprognose in dem Szenarium, in dem Sie sie hier vorgestellt haben — Sie haben das als die Grenze des autonomen Wachstums bezeichnet und davon gesprochen, das sei die Grenze dessen, was freiwillig geschöpft würde —, und im Zusammenhang mit dem gesamten Hintergrund eine pessimistische Darstellung ist. Es kommt nicht so sehr auf die Zahl an, es kommt vielmehr auf die Verbindung von Zahl, Argumentation und Hintergrund an.
Ob Konjunkturabstützung in einen sich selbst tragenden inflationsfreien Wachstumsprozeß einmündet, hängt nicht nur von Defiziten generell ab, sondern es hängt ganz wesentlich von der Art der Defizite ab. Die Erfahrung der Konjunkturprogramme 1974/75 war wohl letztlich, daß staatliche Ausgabenprogramme eine Eigendynamik von Wachstumsprozessen nicht zureichend ersetzen können. Massive zusätzliche Ausgabenprogramme bergen die Gefahr, daß sich ein zusätzlicher Ausgabensockel bildet, der zu einer dauerhaften Erhöhung der Staatsquote führt, weil man diese Ausgaben nicht wieder wegbekommt. Öffentliche Defizite, die über Steuererleichterungen den privatwirtschaftlichen Handlungsspielraum erleichtern, vergrößern die Chance für mehr Eigendynamik der Wachstumsprozesse.
Diesen Aspekten hat die Bundesregierung bei ihren finanzpolitischen Maßnahmen 1977/78 Rechnung getragen. Die Defizite dieser Jahre sind insofern nicht lediglich einer, wie Sie damals meinten, Herr Biedenkopf, an Keynes orientierten Ausgabenpolitik zuzuschreiben, sondern sie sind auch das Ergebnis einer bewußt auf Verbesserung der Angebotsbedingungen zielenden Politik. Und hier befindet sich die Bundesregierung in ihrer praktischen Politik weitgehend in Übereinstimmung mit dem, was der Sachverständigenrat gefordert hat, wenn auch, wie ich zugebe, der Sachverständigenrat es schon früher gefordert hatte.
Das Instrumentarium, die Mischung zwischen angebots- und nachfrageorientierten Maßnahmen der Bundesregierung 1977/78, kombiniert mit einer gesamtwirtschaftlich verantwortungsbewußten Lohnpolitik, bestätigt sich heute in einem selbsttragenden Konjunkturaufschwung. Wir stellen dies mit Befriedigung fest.
Herr Biedenkopf, ich möchte Ihnen auch hier bestätigen — das war ja dasselbe, was Herr Reuschenbach in seinen einführenden Worten anklingen ließ —: Was Sie gesagt haben, bietet Anhaltspunkte für eine interessante und vertiefte Diskussion. Es stimmt schon, was am vorigen Sonntag oder Sonnabend in Münster gesagt worden ist: Wir teilen Ihre Meinung nicht; aber Sie können sie wenigstens begründen, und das können keineswegs alle bei Ihnen.
Aber, Herr Biedenkopf, Sie hören dort auf, wo die aktuellen Probleme der Wirtschaftspolitik anfangen. Ich hatte eigentlich gehofft, daß nach dem, was Herr Haussmann heute als Aufforderung sagte, wir einmal mehr über die Frage hören würden, wie und wo der Ansatz gefunden werden könnte, um auf dem Gebiet der öffentlichen Verschuldung zu besseren Ergebnissen zu kommen.
In der Tat ist es richtig — zwei Stichworte haben Sie geliefert; aber mit beiden fange ich wenig genug an —, die Transfereinkommen unter die Lupe zu nehmen. Dafür haben wir die Transfer-Enquetekommission eingesetzt. Leider haben wir es inzwischen
15244 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. Dezember 1979
Bundesminister Dr. Graf Lambsdorff
auf diesem Gebiet so weit gebracht, daß allein eine solche Untersuchung drei bis vier Jahre dauert, um sich durch dieses Gestrüpp zu finden und das einmal aufzuschreiben.
— Nein. Also erstens ist es schon gar nicht das Produkt meiner Erziehung. Und zum zweiten ist es jedenfalls, Herr Biedenkopf, das Produkt von 30 Jahren Regierungstätigkeit und keineswegs nur von zehn Jahren. Sie wissen, genauso wie ich, daß es da Tatbestände gibt. Denken Sie doch an. den sozialen Wohnungsbau. Was Sie hier kritisiert haben, sind alles Bestimmungen, die uralt sind,
die sich nur in veränderten Umständen zu veränderten Bedingungen entwickelt und zu veränderten Folgen geführt haben.
Deswegen bin ich durchaus mit Ihnen einig, daß man über die Ursachen der öffentlichen Verschuldung und vor allen Dingen über die Frage, wie und wo man sie abbauen kann, systematisch und gründlich nachdenken sollte.
Nur, Herr Kollege Biedenkopf, muß ich in dem Zusammenhang doch eine Frage an die Opposition richten. Marktwirtschaftliche Bekenntnisse in diesem Zusammenhang höre ich natürlich übergenug. Aber an wen soll ich mich denn gerade im Zusammenhang mit dieser Diskussion nun eigentlich wirklich halten? An Frau Breuel in Niedersachsen mit ihrer Absage an Subventionen? Oder an Herrn Jaumann, der im Freistaat Bayern fleißig eine Textilfabrik nach der anderen saniert und damit der mittelständischen Konkurrenz ganz erhebliche Nachteile zufügt? An Sie, Herr Biedenkopf, der die öffentlichen Ausgaben beschneiden will? Oder an Herrn Blüm, der gestern nachmittag von derselben Stelle aus für dieselbe Fraktion ein sozialpolitisches Programm verlangt hat, das zusätzlich Milliardenbeträge kostet? An die Marktwirtschaftler, die ein verschärftes Wettbewerbsrecht verlangen, oder an die — ich gebe zu: in allen Parteien vorhandenen — Zunftpolitiker, die ganze Bereiche vom Wettbewerbsrecht ausnehmen wollen? Da ist nicht mehr viel wirtschaftspolitische Linie in Ihrer Partei zu sehen, Herr Biedenkopf, und Sie wissen das selber sehr genau.
Da wird viel über Marktwirtschaft gesprochen, aber nicht mehr viel dafür getan.
Herr Biedenkopf, auch Sie sind dann natürlich schweigsam — ich verstehe das ja; ich halte das hier nur fest —, wenn es um Subventionen für ein Land oder eine Region geht, in der Sie glauben, politische Hausmacht zu haben, oder in der Sie welche erringen wollen. Dabei halte ich die Zielansprache von Herrn Reuschenbach für etwas ungenau. „Ziel" heißt doch nicht Endstation Düsseldorf, Herr Reuschenbach.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich gerade in diesem Zusammenhang einige Worte zur sozialen Verpflichtung und auch zur freiheitssichernden Funktion der Wirtschaftsordnung, in der wir leben, sagen. Dieses Thema ist heute und auch gestern schon angeschnitten worden. Ich bin davon überzeugt, daß die Marktwirtschaft auch in sich eine soziale Funktion hat und daß das Soziale nicht erst mit der Sozialpolitik beginnt. Ein System, dessen Herzstück der Wettbewerb, die Balance der Kräfte ist, das wie kein anderes Chancen ermöglicht, Spielraum gewährt, wirtschaftliche Macht bändigt, erfüllt damit eine eminente gesellschaftliche Funktion. Ordnungspolitik ist in diesem Sinne auch Sozialpolitik. Es widerspricht mitnichten den Geboten des Sozialstaates, zu denen wir uns uneingeschränkt bekennen, wenn soziale Sicherungen soweit als möglich marktkonform gestaltet werden, im Gegenteil. Vernachlässigung von Marktgesetzen schlägt oft genug zum Schaden der Beteiligten aus.
Es gibt also eine enge Interdependenz von Wirtschaftlichem und Sozialem, die von beiden Seiten her gesehen und beachtet werden muß. Die Marktwirtschaft ist Basis eines freiheitlichen Systems sozialer Sicherung. Ich bin mit Ihnen einig, Herr Biedenkopf, daß es notwendig und wünschenswert wäre, ohne Vorurteile, ohne Vorbehalte — ich mache mir nichts vor: das ist natürlich in einem Wahljahr nicht möglich — den Begriff des Sozialen neu zu definieren und — nachdem wir nunmehr 30 Jahre dabei sind, Gesetze zu verabschieden, Verordnungen zu erlassen, Erleichterungen zu schaffen — sich darüber einmal Klarheit zu verschaffen, wo inzwischen Sinnvolles zu Unsinnigem, wo inzwischen Wohltat zu Plage geworden ist, weil sich die Verhältnisse weiterentwickelt haben und nicht mehr die gleichen sind wie zu dem Zeitpunkt, in dem man das eine oder andere beschlossen hat. Ich sage das ganz bewußt auch an unsere eigene Adresse. Wenn jemand nur drei oder vier Jahre regiert, kann er dem nächsten überlassen, einiges in Ordnung zu bringen. Wenn er zehn Jahre lang regiert, wird er selber darüber nachdenken, und wenn er hoffentlich noch länger regiert, wird sich diese Verpflichtung und diese Notwendigkeit noch erhöhen.
Aber ich will auch ganz bewußt als Wirtschaftsminister sagen, daß das System der sozialen Sicherung in meinen Augen geradezu den Charakter eines vierten Produktionsfaktors hat. Es ist mit einer solchen Erklärung noch nichts darüber gesagt, wie dieses System funktioniert, was an diesem System notwendig und unverzichtbar ist und was man vielleicht ändern muß. Hier befinden wir uns in einer Art permanenter Diskussion.
Das Funktionieren dieser Ordnung, meine Damen und Herren, setzt allerdings die freie und verantwortliche Mitarbeit der Bürger, der Unternehmer, der Arbeitnehmer, der Beamten, der Selbständigen, der Kaufleute, aller in unserem Lande, voraus. Diese freie und verantwortliche Mitwirkung aller ist aber nur zu erreichen und zu erhalten, wenn sich auch
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 12. Dezember 1979 15245
Bundesminister Dr. Graf Lambsdorff
alle Wirtschaftsteilnehmer als voll integriert in dieses System fühlen können. Hierzu leisten die sozialen Sicherungen einen durch nichts anderes zu ersetzenden Beitrag.
Das System der sozialen Sicherung ist gewiß zunächst die Antwort auf die humane Forderung einer demokratischen Gesellschaft.
Es ist aber ebensosehr auch Grundbedingung einer dauerhaft funktionierenden Marktwirtschaft. Soziale Sicherung und Marktwirtschaft sind keine Gegensätze; sie sind vielmehr beide tragende Säulen einer freien Gesellschaft.
Meine Damen und Herren, Marktwirtschaft ist in meinen Augen und nach meiner Vorstellung ohne eine enge und unauflösbare Verbindung zur Freiheit in einer Gesellschaft überhaupt nicht denkbar.
Sie ist auch eine der Voraussetzungen für diese Freiheit. Beides bedingt einander.
Eben weil Wettbewerb Macht bändigt, weil Wettbewerb im wirtschaftlichen Ablauf Minderheiten Chancen verschafft, eben deswegen müssen wir auch dafür sorgen, daß kleine und mittlere Unternehmen ihre Chancen in diesem Markt behalten;
denn sie sichern Leistungsfähigkeit und Flexibilität dieser Wirtschaft.
Sie sichern aber mehr.
— Meine Damen und Herren, ich wende mich damit keineswegs nur an eine, wie Sie meinen, Herr Spies von Büllesheim, bestimmte Seite des Hauses. Ich wäre in der Lage, Ihnen den ganzen mittelstandspolitischen Sündenkatalog Ihrer Zeit vorzulesen, wenn Sie das gerne haben wollen.
— Nein, daran sind Sie auch nicht beteiligt gewesen. Das hat zum Teil die Große Koalition ausgeheckt. Ein Teil liegt aber auch schon weiter zurück, Herr Biedenkopf.
Auch gesellschaftspolitisch sind diese Gruppen unseres Volkes, gerade die Inhaber kleiner und mittlerer Unternehmen, die noch selber haften, die Selbständigen, unerläßlich, weil durch sie Freiheit, Unabhängigkeit, Selbstbehauptungswillen nicht nur deklamiert, sondern gelebt wird.
Meine Damen und Herren, wer Freiheit will, der muß die ganze Freiheit wollen, nicht nur die wirtschaftliche Freiheit.
Deswegen bin ich zutiefst mißtrauisch gegenüber solchen, die von Freiheit der Wirtschaft reden, Freiheitsuchende aber in Diktaturen abschieben.
Das ist nicht die unteilbare Freiheit, die ich meine, sondern — —
— Das mag Ihnen durchaus mißfallen, meine Damen und Herren,
aber ich wünsche mir bei uns Freiheit, die von einem unteilbaren Freiheitsbegriff ausgeht,
Freiheit, die nicht nur Freiheit in der Wirtschaft bedeutet, sondern die sich insbesondere gegenüber Hilflosen und Verfolgten darstellt.