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ID0819116600

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    Plenarprotokoll 8/191 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 191. Sitzung Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979 Inhalt: Zusätzliche Überweisung eines Gesetzentwurfs an den Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO 15045A Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung . 15045 A Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1980 (Haushaltsgesetz 1980) — Drucksachen 8/3100, 8/3354 — Beschlußempfehlungen und Berichte des Haushaltsausschusses Einzelplan 04 Bundeskanzler und Bundeskanzleramt -- Drucksache 8/3374 — in Verbindung mit Einzelplan 05 Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts — Drucksache 8/3375 — in Verbindung mit Einzelplan 14 Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung — Drucksache 8/3384 — Schröder (Luneburg) CDU/CSU 15046A, 15047A Löffler SPD 15048A Dr. h. c. Strauß, Ministerpräsident des Freistaates Bayern 15049B, 15120C Wehner SPD 15064 B Genscher, Bundesminister AA 15071 B Dr. Barzel CDU/CSU 15077 A Matthöfer, Bundesminister BMF . . . 15086A Dr. Ehmke SPD 15087A Hoppe FDP 15097A Schmidt, Bundeskanzler . . . . 15103A, 15120B Dr. Kohl CDU/CSU 15111 D, 15128 D Mischnick FDP . 15129B Dr. Blüm CDU/CSU 15132 C Rohde SPD 15141A Cronenberg FDP 15147 C Dr. Marx CDU/CSU 15151A Dr. Corterier SPD 15154 C II Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979 Möllemann FDP 15156D Hauser (Bonn-Bad Godesberg) CDU/CSU 15159B Würtz SPD 15162B Zywietz FDP 15164D Haase (Kassel) CDU/CSU 15167A Dr. Apel, Bundesminister BMVg . . . 15169B Picard CDU/CSU 15170D Namentliche Abstimmung 15172A Einzelplan 35 Verteidigungslasten im Zusammenhang mit dem Aufenthalt ausländischer Streitkräfte — Drucksache 8/3395 — 15174A Einzelplan 27 Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen — Drucksache 8/3390 — 15174 C Nächste Sitzung 15174 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . .15175* Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979 15045 191. Sitzung Bonn, den 11. Dezember 1979 Beginn: 9.00 Uhr
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    Berichtigung 190. Sitzung, Seite 15019* A, Zeile 10: Statt „Bundesrechtsrahmengesetz" ist „Beamtenrechtsrahmengesetz" zu lesen. Zwei Zeilen weiter muß es statt „Bundesbesoldungsgesetz" „Bundesbeamtengesetz heißen. Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete (r) entschuldigt bis einschließlich Dr. van Aerssen* 14. 12. Dr. Aigner* 14. 12. Alber* 14. 12. Dr. Bangemann* 14. 12. Blumenfeld* 14. 12. Brandt 11. 12. Egert 14. 12. Fellermaier* 14. 12. Frau Dr. Focke* 14. 12. Friedrich (Würzburg) * 14. 12. Dr. Früh* 14. 12. Dr. Fuchs* 14. 12. von Hassel* 14. 12. Katzer 14. 12. Dr. h. c. Kiesinger 12. 12. Dr. Klepsch* 14. 12. Lange* 14. 12. Lüker* 14. 12. Luster* 14. 12. Milz 14. 12. Dr. Müller-Hermann* 14. 12. Peiter 11. 12. Dr. Pfennig* 14. 12. Frau Schleicher* 14. 12. Dr. Schwarz-Schilling 13. 12. Dr. Schwencke (Nienburg) * 14. 12. Seefeld* 14. 12. Sieglerschmidt* 14. 12. Frau Tübler 14. 12. Frau Dr. Walz* 14. 12. Wawrzik* 14. 12. * für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments
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    Rede von Helmut Rohde


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Nein, jetzt würde ich gern fortfahren.
    Herr Kollege Blüm, Sie haben zwar nicht heute — weil Sie wußten, daß Sie mit uns zusammentreffen würden —, aber in den letzten Monaten in der Offentlichkeit immer wieder den Eindruck zu erwekken versucht, als seien die Zuschüsse des Bundes an die Sozialversicherung insgesamt zurückgegangen. Es hat zwar Strukturveränderungen innerhalb dieser Zuschüsse gegeben. Aber Sie müssen sich einmal klarmachen, was es bedeutet, daß von den rund 48 Milliarden DM, die der Sozialhaushalt des Bundes für 1980 umfaßt, rund 31 Milliarden DM Zuschüsse an die Sozialversicherung sind. Das ist ein Betrag, der fast doppelt so hochliegt wie der gesamte Etat des Bundesarbeitsministeriums im Jahre 1969.

    (Zuruf des Abg. Vogt [Düren] [CDU/CSU])

    Ich will hiermit deutlich machen, daß all das, was Sie über Zuschüsse, über die Gesamtentwicklung der Sozialpolitik und über Ausgaben im Zusammenhang mit der sozialen Sicherung erklärt haben, durch die Zahlen des Haushaltes, mit denen wir es hier zu tun haben, nicht gedeckt ist. Ehe Sie sich mit den Vokabeln „Betrug" und „Demontage" an die Koalition wenden, haben Sie doch — so denke ich jedenfalls — zunächst selbst kritische Fragen im Hinblick auf Ihre eigenen Vorstellungen über die Zukunft der Rentenversicherung und der sozialen Sicherung zu stellen. Es gibt einige — z. B. den Herrn Kollegen Blüm —, die eine Erhöhung des Bundeszuschusses zur Rentenversicherung fordern, und dann gibt es den, der letztlich entscheidet, und dieser heißt nicht Blüm, sondern Strauß. Herr Strauß aber hat gesagt, daß die Staatsquote auf 40 % gesenkt werden soll. Angesichts dieses Sachverhalts müssen Sie sich mit der Frage auseinandersetzen — daran können Sie sich nicht vorbeidrücken —, wie sich eine solche Senkung der Staatsquote auf das Gesamtsystem der sozialen Sicherung auswirken würde.
    Eine Zeitung, die unverdächtig ist, besondere Sympathien für uns zu besitzen, hat darüber geschrieben — ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten —:
    Die Durchsetzung einer Staatsquote von 40 % verlangt nicht nur politischen Mut; sie ist zur Zeit ohne den Bruch von Versprechen nicht möglich. Beispielsweise wäre die versprochene Rückkehr zur dynamischen Rentenformel unvereinbar mit dem vorgegebenen Ziel. Eine Neuregelung der Hinterbliebenenversorgung, wie sie das Verfassungsgericht vom Gesetzge-
    Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979 15145
    Rohde
    ber bis 1984 verlangt, wäre ebenfalls nicht finanzierbar.
    Das ist mehr als eine deutliche Antwort auf Strauß und eine Herausforderung an die Union, endlich nicht nur Thesen, sondern ein konkretes Konzept für die Entwicklung der Rentenversicherung

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Das haben wir doch!)

    in den 80er Jahren vorzulegen. Ein solches Konzept haben Sie nicht. Uber allgemeine Thesen, daß die bruttolohnbezogene Rente wiederhergestellt werden soll, daß die Renten angepaßt werden sollen, daß auf der anderen Seite die Hinterbliebenenversorgung neu geordnet werden soll und die finanzpolitischen Grundlagen sichergestellt werden müssen, kann man sich schnell einigen, jedenfalls in den Grundzügen. Die Frage ist aber, mit welchen Mitteln und auf welchen Wegen das bewerkstelligt werden soll.
    Ich finde es bemerkenswert, wie hier mit einer Vorlage der SPD umgegangen worden ist, nämlich mit dem Kommissionsbericht über die Zukunft der Rentenversicherung. Er ist nach meiner Meinung die umfassendste, ehrlichste, sauberste Vorlage zu den Problemen der Rentenpolitik und der Sozialversicherung in den 80er Jahren, die sich heute auf dem politischen Markt befindet.

    (Beifall bei der SPD)

    Damit wird von einer politischen Routine abgewichen, von der auch wir in den vergangenen Jahren in mancherlei Zusammenhängen nicht frei waren. Unser Bericht weicht deshalb davon ab, weil darauf verzichtet worden ist, nur Thesen aufzustellen. Wir wissen doch alle, wie sonst verfahren wird: Es werden Thesen aufgestellt, auf das Allervorteilhafteste von allen Seiten beleuchtet, wobei aber die Widerhaken und die Probleme, die mit diesen Thesen verbunden sind, möglichst hinter semantischem Lack versteckt werden.

    (Zustimmung bei der SPD)

    Dies hat zu einer öffentlichen Reaktion geführt, die die Parteien selbstkritisch machen muß. Die öffentliche Reaktion darauf war, wir sollten mehr argumentieren und nicht manipulieren. Wir sollten ehrlicher sein. Dem Bürger sei es durchaus zuzumuten, daß man ihm auch Probleme und Schwierigkeiten einer Sache erklärt. Das haben wir nun gemacht. In jedem einzelnen Punkt des Leistungsrechts und der Finanzgrundlagen haben wir mehrere Varianten — aus der öffentlichen Diskussion und aus unserem eigenen Nachdenken kommend — dokumentiert und haben beschrieben, wo die Vorzüge, aber auch die Probleme liegen. Damit haben wir im Grunde genommen auf diesem schwierigen, aber auch wichtigen Felde eine ehrliche Diskusion eröffnet. Damit wurde ein Anspruch gesetzt, dem sich — davon bin ich überzeugt — auf Dauer keine andere politische Kraft in diesem Lande entziehen kann.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Nun werden wir — das ist hier schon in einer Zwischenbemerkung deutlich geworden — in unserer
    Partei und mit der Öffentlichkeit, d. h. mit den Betroffenen, den Rentnern und den Gewerkschaften, die Vor- und Nachteile in allen Bereichen, angefangen bei der Besteuerung über den Krankenversiche- rungsbeitrag bis hin zur Hinterbliebenenversorgung, diskutieren, insofern ist es unredlich, uns pauschal zu unterstellen, Herr Kollege Blüm, wir konzentrierten uns auf die Besteuerung der Renten. Ich habe mich zu einem sehr frühen Zeitpunkt kritisch zu den Besteuerungsproblemen geäußert. Auf dem Parteitag der SPD haben wir in Anwesenheit der Presse offen diskutiert, was bei einer Besteuerung der Renten kritisch zu bedenken ist, und zwar hinsichtlich der Auswirkungen auf den einzelnen, auf die Sozialversicherungsträger und auf den sozialökonomischen Kreislauf. Das ist öffentlich gemacht worden und findet zunehmend öffentliches Interesse. Nachdem der Schock einseitiger Berichterstattung vorüber ist, setzt eine interessante und differenzierte Betrachtung in den Medien und eine bemerkenswerte Diskussion mit den Betroffenen ein. Die aus dieser Diskussion erwachsenden Ergebnisse — also nicht von oben den Menschen aufgestülpt, sondern mit den Betroffenen zusammen entwickelt — halten besser als Ihre feuilletonistischen Thesen, Herr Kollege Blüm.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Sie sagten in diesem Zusammenhang ein Wort, das mich sehr getroffen hat. Dem Sinne nach hieß es bei Ihnen, es sei nicht gerechtfertigt und könne keinesfalls verantwortet werden, den allgemeinen Wohlstand auszurufen. Das haben Sie überflüssigerweise an unsere Adresse gerichtet. Das hätten Sie aber an die Adresse vieler in Ihren eigenen Reihen richten sollen! Wir reden nicht undifferenziert von allgemeinem Wohlstand. Wir kennen die sozialen Probleme unseres Landes. Im Zusammenhang mit den von Ihnen zitierten Verhältnissen bestimmter Gruppen von Rentnerinnen und Rentnern möchte ich Ihnen aus meiner Erfahrung von zwei Jahrzehnten Bundestagsarbeit dafür einige Beispiele nennen.
    Das erste Beispiel: Als wir zusammen mit Ernst Schellenberg in den 50er und 60er Jahren die Frage aufgeworfen haben, ob nicht auch die Selbständigen ein Recht hätten, an der solidarischen Sicherung im Rahmen der Rentenversicherung teilzunehmen, wurden wir damals — ich kann das nicht anders bezeichnen; Herr Kollege Barzel, Sie haben es miterlebt — von diesem Podium als die „Apostel des Wohlfahrtsstaates" heruntergeputzt, als solche hingestellt, die den Menschen ein allumfassendes System überstülpen wollten. Das Wort vom „omnipotenten Staat" ging der CDU/CSU damals genauso wie heute das Wort von dem „Filzlatschenimperialismus" über die Lippen. Das also ist die Erfahrung: Ein beachtlicher Teil unzulänglicher Renten in dieser Gesellschaft ist auf die mangelnde Bereitschaft der damals Regierenden zurückzuführen, auch den Selbständigen mit kleinem Einkommen den Zugang zur sozialen Sicherheit zu öffnen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Ich komme zum zweiten Beispiel, Herr Kollege Blüm. Als ich mir erlaubt hatte, entgegen dem damaligen Zeitgeist von diesem Podium in den 60er Jah-
    15146 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979
    Rohde
    ren ein Wort über Mindestsicherung und Grundsicherung zu sagen, wurde ich als einer verdächtigt, der nichts anderes im Auge habe als die Schaffung einer Einheitsversicherung. Heute. wissen wir — an manchen Stellen haben wir es sogar schon gemeinsam praktiziert, Sie mußten insofern Ihre früheren Auffassungen revidieren —, daß es ohne Mindestsicherungen für Menschen nicht geht, wenn man nicht unzulängliche Renten beklagen will.

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Doch nicht über die Rentenversicherung!)

    —Sicher haben wir das gemacht. Aber wie lange hat das gedauert? Es dauerte nahezu zehn Jahre, und das geschah auch erst, nachdem sich die Regierungsverhältnisse geändert hatten.

    (Beifall bei der SPD)

    Dann haben wir als ersten Schritt durchsetzen können, daß diejenigen, die viele Jahre gearbeitet haben,

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Das ist doch etwas anderes als die Mindestrente!)

    aber eine unzulängliche Rente bekommen, weil ihr Verdienst früher unter dem allgemeinen Einkommensniveau gelegen hat, ihre Rente wenigstens in der Höhe erhalten, als hätten sie mindestens den Durchschnitt der Arbeitsverdienste erworben. Ich will Ihnen nur sagen: bitte weniger Selbstgerechtigkeit, Herr Kollege Blüm, und mehr selbstkritische Rückbesinnung auf die Positionen,

    (Vogt [Düren] [CDU/CSU]: Aber Mindestrente ist doch etwas anderes als Rente nach Mindesteinkommen!)

    die die Union gerade im Blick auf Konsequenzen für niedrige Renten in den 50er und 60er Jahren im Deutschen Bundestag eingenommen hat.
    Damit komme ich zur Frage niedriger Löhne. Herr Kollege Blüm, aus Ihren Reihen wurde die Neue Soziale Frage aufgeworfen, allerdings mit einer, wie ich meine, sehr hinterhältigen Variante, indem nämlich gesagt wurde, die Gewerkschaften kümmerten sich nicht um die Menschen am Rande der Gesellschaft. Um Gottes willen, wenn nicht durch die Solidarität der Arbeiterbewegung Alterssicherung und viele andere soziale Leistungen geschaffen worden wären, wie denn eigentlich sonst?!
    Als die „Neue Soziale Frage" aufgeworfen wurde, wurde darin auch der Hinweis auf niedrige Arbeitsverdienste einbezogen. Wenige Monate später habe ich dann eine Studie aus dem Konrad-AdenauerHaus gelesen, von Geißler verfaßt oder verantwortet, in der eine „Analyse" stand, nach der die zu „hohen Löhne" der Hilfsarbeiter zur Arbeitslosigkeit unter den Ungelernten in dieser Gesellschaft geführt hätten. Wenn man sich einmal fragt, wo bei niedrigen und unzulänglichen Einkommen Ursache und Wirkung liegen, wird deutlich, daß man zu ganz anderen Ergebnissen kommt, als Sie sie in Ihrem Debattenbeitrag ausgearbeitet haben.
    Zum Schluß noch zwei Anmerkungen zur Arbeitsmarktpolitik, und zwar zu zwei wichtigen Bereichen, nämlich zu dem, was im arbeitsmarktpolitischen Jargon der „Einstieg" in das und der „Ausstieg" aus dem Arbeitsleben genannt wird. Einstieg bedeutet, daß die Frage beantwortet werden muß, wie es mit den Bildungsvoraussetzungen und mit der Berufsqualifikation steht, die der Arbeitsaufnahme vorausgehen. Bei allem, was heute von der Union mit ätzender Rhetorik über die Bildungspolitik gesagt worden ist, ist ein bedeutsamer Sachverhalt völlig aus den Augen geraten, daß wir es nämlich ermöglicht haben, durch die Politik der Öffnung des Bildungswesens und der Vermehrung der Bildungsangebote Ergebnisse zu erreichen, deren Bedeutung und Gewicht für die Arbeitsmarktpolitik und die Wirtschaft erst in den 80er Jahren voll bewußt werden.
    Ich darf Sie an eine Erfahrung erinnern, die mich seinerzeit sehr bedrückt hat: Als ich 1974 mein Amt als Bildungsminister übernahm, stellte ich an Hand der Verlaufsstatistiken der Generationen und des Bildungswesens fest, daß noch in der Hochkonjunktur die Bildungsangebote rückläufig waren. Die Lehrstellen gingen zurück, der Numerus clausus nahm zu. Diesem rückläufigen Bildungsangebot stand die Tatsache gegenüber, daß spätestens ab der zweiten Hälfte der 70er Jahre geburtenstarke Jahrgänge in die Zeit der Berufsqualifikation und des späteren Arbeitslebens eintreten würden. Die Frage war: Wie kann man das, was sich da Anfang der 70er Jahre nahezu festgefressen hatte, Numerus clausus und Rückgang von Lehrstellen, aufbrechen? Wenn ich an die Auseinandersetzungen zurückdenke, die wir damals führen mußten, um eine Trendwende, um den Abbau des Numerus clausus, um die Kurskorrektur in der Berufsbildung zu erreichen, dann muß ich Ihnen sagen, auch auf diesem Felde stünde der Union weniger Selbstgerechtigkeit und mehr selbstkritische Rückschau wohl zu Gesicht.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Von diesem Podium herab ist zum Abbau des Numerus clausus erklärt worden, dies sei „Rattenfängerei”. Heute sagen selbst konservativ eingestimmte Professoren, daß dieser Prozeß an den Hochschulen nicht zu einem alles überwuchernden „Studentenberg" geführt habe, eher zu einem „Maulwurfshügel".
    Im ganzen zeigt sich — und insofern ist die ätzende Kritik der Union ungerechtfertigt —, daß die Bundesrepublik in den vergangenen Jahren mehr als viele andere Industrieländer die Angebote für berufsqualifizierende Ausbildung — von den Lehrstellen über die Fachschulen bis zu den Hochschulen und Universitäten — vermehrt hat. Deutlich wird auch, daß überall dort, wo eine solche Entwicklung an konservativen Hürden gescheitert ist — das läßt sich an der Erfahrung einiger europäischer Länder ablesen—, Jugendarbeitslosigkeit zugenommen hat und in den 80er Jahren angesichts neuer Technologien Integrationsprobleme am Arbeitsmarkt zunehmen werden.

    (Beifall bei der SPD)

    Bei allen — manchmal den einen oder den anderen
    auch herausfordernden — Begleiterscheinungen einer solchen Expansion des Bildungswesens, eines
    Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979 15147
    Rohde
    solchen enormen Ausbaus der Bildungsinstitutionen darf man allerdings nicht aus den Augen verlieren, was es bedeutet, daß bei uns rund 60 bis 65% eines Jahrgangs eine berufsqualifizierende Ausbildung in der Berufsbildung oder in Fachschulen und rund 20 % eine Ausbildung an Fachhochschulen und Hochschulen erhalten. Das wird einem vollends deutlich, wenn man sich ein anderes Land vor Augen führt, in dem 701)/0 der Jugendlichen nach Verlassen der allgemeinbildenden Pflichtschulen kein berufsqualifizierendes Angebot mehr erhalten.
    Deshalb bedrückt es mich — das will ich offen sagen —, daß mit denselben Tricks, mit demselben Gezerre, wie wir es in den vergangen Jahren bei der Öffnung des Bildungswesens und der Vermehrung der Bildungsangebote erlebt haben, nunmehr vorerst wiederum von der Union in der Bund-LänderKommission die Bildungsplanung für die 80er Jahre zu Fall gebracht worden ist. Die Fortschreibung des Bildungsgesamtplans für das neue Jahrzehnt wäre im Grunde genommen eine hervorragende Aufgabe der deutschen Politik gewesen. Sie könnte bedeuten, den Betroffenen — den Jugendlichen, den Eltern, den im Bildungswesen Tätigen — begründete Hoffnung darauf zu machen, daß angesichts eines enorm ausgebauten Bildungswesens und begrenzterer Jahrgangsstärken die Möglichkeit bestünde, von der Berufsausbildung bis hin zur Weiterbildung zu qualitativen, zu inhaltlichen Verbesserungen zu kommen. Daß diese große Chance in der Grauzone zwischen Bund und Ländern vertan worden ist, daß wir die 70er Jahre ohne einen Ausblick auf die großen Chancen und Hoffnungen des kommenden Jahrzehnts beschließen, empfinde ich, meine Damen und Herren, bedrückend.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Eine letzte Bemerkung zum Übergang aus dem Arbeitsleben in die Rente, also in die spätere soziale Sicherung: Wir haben in den 70er Jahren mit der Einführung der flexiblen Altersgrenze einen wichtigen Schritt getan. Aber meine Meinung ist: Dabei können wir nicht stehenbleiben.

    (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD)

    Die Probleme haben heute an Gewicht und Bedeutung gewonnen. Das Zusammentreffen jüngerer und älterer geburtenstarker Jahrgänge im Arbeitsleben, die Auswirkungen der Mikroelektronik auf die Dienstleistungsberufe und auch die ständig wachsende Zahl älterer Arbeitsloser müssen uns veranlassen, einen Übergang aus dem Arbeitsleben in die soziale Sicherung zu finden, der gleitender, der flexibler, der sanfter, ja, der — so darf ich es nennen — menschlicher ist.

    (Beifall bei der SPD — Dr. Blüm [CDU/ CSU]: Sehr richtig!)

    Damit meine ich, daß wir uns einer Politik zuwenden, die an die Stelle der wachsenden Gefahr der Arbeitslosigkeit im letzten Abschnitt des Arbeitslebens die Humanisierung der Arbeitsbedingungen setzt. Dazu ist — dessen bin ich mir wohl bewußt — ein Zusammenspiel von Tarifpolitik und Staatspolitik erforderlich.
    Eine letzte Bemerkung, Kollege Blüm: Das mit dem Feuilleton erhalte ich aufrecht; denn so allgemein und so alle Ressentiments aus der Ecke kehrend und gegen die Arbeiterbewegung und ihre Forderungen wendend kann und darf man hier nicht auftreten, wenn man gleichzeitig meint, für die arbeitenden Menschen zu sprechen.

    (Beifall bei der SPD — Vogt [Düren] [CDU/ CSU]: Diese Koalition hat doch mit der Arbeiterbewegung nichts zu schaffen! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    Um das deutlich zu machen und zur Sprache zu bringen, habe ich mich gemeldet.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)



Rede von Dr. Annemarie Renger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat der Abgeordnete Cronenberg.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dieter-Julius Cronenberg


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Frau Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Blüm, auf den Teil Ihrer Ausführungen, die ich mal als „Blümsche Märchenstunde" bezeichnen möchte,

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    will ich im Detail nicht eingehen. Aber ich möchte Ihren Vergleich der Parteien mit Konzernen aufgreifen, verehrter Herr Kollege Blüm, wobei mir deucht, daß, wenn die SPD ein Konzern ist, Sie einem Unternehmen angehören, das möglicherweise ein Großkonzern mit einem Vorstandsvorsitzenden ist, der weder den Betriebsrat hört noch Arbeitsdirektoren kennt.

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Und Sie sind ein Filialbetrieb!)

    Unter diesem Vergleich fühle ich mich als Vertreter eines selbständigen mittelständischen Unternehmens und hoffe, daß ich mit der gebührenden Seriösität auf einen Teil Ihrer Vorstellungen eingehen kann, wobei ich, mindestens was die Renten anbelangt, das Dialogangebot des Kollegen Rohde dankbar aufnehme.
    Bevor ich dies tue, möchte ich aber zwei Feststellungen treffen, die einfach um der Korrektheit willen notwendig sind.
    Erstens. Herr Kollege Höpfinger, Ihre Zwischenfrage in der Sache Mutterschaftsgeld — über diese Fragen wird sich der Kollege Eimer am Donnerstag noch im Detail äußern — läßt vermuten, wir hätten, wie Sie sagen, die Absicht gehabt, die Frauen sozusagen in zwei Gruppen einzuteilen. Ich möchte nochmals wie schon in der damaligen Debatte und wie auch Frau Ingrid Matthäus das sehr deutlich getan hat, hier klarmachen: Uns ging es um die Kinder, uns ging es darum, daß die berufstätigen Mütter bei ihren Kindern sein können. Wir waren der Meinung, das zur Verfügung gestellte Geld, 900 Millionen DM, wäre am besten eingesetzt worden, wenn die Mütter 750 DM bekommen hätten, statt allen, auch den nicht berufstätigen Müttern in gut verdienenden Familien, 300 DM zu geben und die Mütter dadurch zu zwingen weiterzuarbeiten. Denn die arbeiten, wie ich damals schon ausgeführt habe, nicht zum Vergnügen, sondern um ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard zu vermitteln.
    15148 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979
    Cronenberg
    Herr Kollege Blüm, auch Ihnen möchte ich — mit Ihrer Erlaubnis — eine kleine Nachhilfestunde erteilen. Der Preisindex, den Sie hier genannt haben, ist schlicht und ergreifend falsch.

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Welcher?)

    — Der Vergleich mit den Rentnern. 4,5 % betrug die Rentensteigerung netto. Im Vergleichszeitraum lagen die Preissteigerungen knapp unter 4 %. Das ist weniger und nicht mehr. Lassen Sie sich dies bitte einmal, notfalls vom Arbeitsministerium, vorrechnen! Glauben Sie es mir. Um der intellektuellen Redlichkeit willen bitte ich, dies zu akzeptieren.

    (Zuruf von der SPD: Er will nicht!)

    — Er will nicht? Das ist möglich. Aber das wollen wir nicht unterstellen. Nein, wir wollen ihm keine Boshaftigkeit unterstellen.

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Wie großzügig!)

    Beachtenswert ist aber in Ihren widersprüchlichen Feststellungen, daß Sie auf die Finanzierbarkeit dieses ganzen Systems unserer sozialen Leistungen nur am Rande eingegangen sind. Die Frage nach der Finanzierbarkeit unseres so viel gelobten sozialen Netzes stellen, heißt aber, den Zusammenhang zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik aufstellen. Gestatten Sie mir, hier ein Zitat des Grafen Lambsdorff zu bringen, der, wie ich meine, in hervorragender Weise diese Interdependenz aufgezeigt hat.
    Eigentlich sollte es eine Banalität sein, — so hat er gesagt —
    daß zwischen Wirtschaftlichem und Sozialem Interdependenzen bestehen. Daß es nicht ganz so banal ist, zeigt die tägliche Wirklichkeit. Trotz dieser Erkenntnis haben wir uns immer wieder gerade in den letzten Jahren mit Forderungen ohne Rücksicht auf wirtschaftlich Machbares auseinandersetzen müssen.
    Bestes Beispiel: Sie heute.
    Manche scheinen zu glauben, daß in der Sozialpolitik im Himmel gefüttert und auf Erden gemolken werden kann und daß jedenfalls Wirtschaftsunternehmen beliebig belastbar sind. Es gibt aber umgekehrt auch Wirtschaftler, die glauben, daß soziale Sicherung eigentlich ein Luxus sei, den man bei wachsendem Wohlstand immer weiter abbauen könne. Die Erkenntnis, daß nur in einer florierenden Wirtschaft auch eine gute Sozialpolitik betrieben werden kann, daß nur in einer florierenden Wirtschaft alle jene Leistungen finanziert werden können, die wir heute für notwendig und sinnvoll halten, diese Erkenntnis hat sich trotz ihrer Evidenz noch nicht überall durchgesetzt.
    Wie Sie aus diesem Zitat des Grafen Lambsdorff sehen, ist, Herr Kollege Blüm, der Zusammenhang von Wirtschafts- und Sozialpolitik

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Den habe ich nicht bestritten!)

    für uns selbstverständliche Voraussetzung für unsere Überlegungen und Entscheidungen. Ihre übliche Behauptung „Laßt uns das einmal machen, dann
    läuft der Karren, und wir können die wachsenden Ausgaben etwa auf dem Sektor Gesundheit ebenso bezahlen wie die bruttolohnbezogene Rentenanpassung" ist schlicht falsch.
    Professor Biedenkopf hat in der ersten Lesung dieses Haushalts einige, wie ich meine, interessante Ausführungen über die Möglichkeit und den Sinn von Wachstum gemacht, Ausführungen, die ich in Ihr Gedächtnis zurückholen möchte.
    Von dem in den letzten Jahren erreichten Wachstum
    — so hat Professor Biedenkopf ausgeführt —
    ist ein erheblicher Teil — ich glaube, 2 bis 2,5 % -- natürliches Wachstum, der Rest ist künstlich durch Staatsverschuldung, also auf Kosten der nächsten Generationen, angeregt worden, erzeugt worden.
    Er hat also die Frage gestellt, wie wir es in Zukunft mit dem Wachstum halten wollen und welches Wachstum wir erreichen können. Die Antworten und Konsequenzen, die sich aus dieser Fragestellung ergeben, hat er nicht aufgezeigt. Wenn man sich in diesem Zusammenhang klar macht, daß wir — unbestritten — Rationalisierung und Modernisierung unserer Industrie brauchen, um die Wettbewerbsfähigkeit unserer exportorientierten Wirtschaft zu erhalten und somit die notwendigen Arbeitsplätze zu sichern, dann muß man die Frage stellen dürfen: Welche Wachstumsrate brauchen wir denn eigentlich, um die Beschäftigung für unsere Arbeitswilligen und Arbeitsfähigen langfristig herzustellen? 4 oder 4,5 % Wachstum, so sagen uns die Wissenschaftler, seien für die Beschäftigung auf dem jetzigen Niveau erforderlich.
    Sie, Herr Kollege Blüm, haben an anderer Stelle eine andere Antwort auf diese Wachstumsfrage gegeben: Arbeitszeitverkürzung, Sabbat-Jahr, so war es in der „Wirtschaftswoche" zu lesen. Die Finanzierung unserer Sozialetats, Herr Kollege Blüm, und anderer Verpflichtungen, z. B. der Entwicklungshilfe, ist aber nach meiner Überzeugung nicht mit weniger Arbeit, mit weniger Beschäftigten, mit weniger Arbeitszeit und damit mit weniger Sozialbeiträgen zu erreichen. Stabile Sozialbeiträge sind bei wachsenden Ausgaben und Leistungen für unsere Sozialversicherungsträger nicht zu erhalten. Dies ist unmöglich, das ist die Quadratur des Kreises; dies ist nicht seriös. Dies ist eine politische Forderung, die nicht gerechtfertigt ist und die nicht einmal christdemokratische Sozialausschuß-Optimisten erfüllen können.
    Lassen Sie mich in dem Zusammenhang auf eine Bemerkung des Ministerpräsidenten Strauß eingehen, die er heute morgen hier gemacht hat. Er hat erklärt, daß die Sozialbeiträge, die Leistungen für die Sozialversicherungen, der Staatsquote zuzurechnen seien. Ich halte dies für schlicht und ergreifend falsch. Beiträge zur Sozialversicherung dürfen der Staatsquote nicht zugerechnet werden. Für sie erhält man Ansprüche, die nach unserer Vorstellung Eigentumswert haben, wie das z. B. auch bei den Renten der Fall ist. Deswegen ist es intellektuell un-
    Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979 15149
    Cronenberg
    redlich, unzulässig, dies der Staatsquote zuzurechnen.

    (Beifall bei der FDP)

    Dies wäre der erste Schritt zu einer von uns nicht gewünschten Staatsversicherung, Staatsrente.
    Wer wie ich beklagt, daß dem einzelnen Arbeitnehmer vom erarbeiteten Brutto netto zu wenig übrigbleibt — auch Sie taten dies hier heute, Herr Blüm —, muß auf die Belastungen durch die Sozialbeiträge hinweisen. Soziale Gerechtigkeit müssen wir auch für diejenigen erhalten, die die Beiträge zahlen und erwirtschaften, nämlich für die aktiv Tätigen. Zu hohe Belastungen durch Beiträge zur Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung schränken das frei verfügbare Einkommen der Aktiven ein, beschränken die individuelle Freiheit. Es muß in diesem Zusammenhang erlaubt sein, daran zu erinnern, daß die letzten massiven Einschränkungen der Freiheit durch Beitragserhöhungen in der Rentenversicherung von einer Regierung beschlossen worden sind, in der Franz Josef Strauß, der jetzige Kanzlerkandidat der Union, Finanzminister war. Die Rentenversicherungsbeiträge wurden zu jener Zeit von 14 auf 18 % erhöht,
    Nicht zuletzt das Bemühen um Beitragsstabilität war Grundlage unserer Überlegungen hinsichtlich einer langfristigen Konsolidierung unseres Rentensystems, die in den 32 Thesen der Liberalen zur Alterssicherung in Bremen niedergelegt worden sind. Wer über die Vorschläge der FDP zur Rentenpolitik so diskutiert, wie Sie das gelegentlich tun, muß sich vorhalten lassen, daß dies unseriös ist.
    Vordergründig verspricht es natürlich Erfolg, vor der Wahl uneingeschränkt bruttolohnbezogene Rentenerhöhungen zu versprechen und erst nach der Wahl über die Finanzierung nachzudenken. Wir Freien Demokraten geben der Renten- und Beitragsehrlichkeit den Vorzug. Wir sagen vor dieser Wahl klipp und klar: Wegen des verlangsamten Wirtschaftswachstums und wegen unserer Bevölkerungsentwicklung ist nach unserer Auffassung eine Bruttoanpassungsautomatik nicht mehr durchzuhalten.

    (Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein [CDU/CSU]: Wie will das die sozialliberale Koalition machen?)

    Wir sind für die gleichberechtigte Teilhabe von Rentnern und Arbeitnehmern am allgemeinen Einkommenszuwachs. Das ist sachgemäß, das ist vernünftig, und das ist ehrlich.
    Wir brauchen auch keine Rentenbesteuerung mit schwer lösbaren Steuer- und Finanzverfassungsproblemen. Eine steuerrechtliche Korrektur der Bruttoanpassung würde die Abhängigkeit der Rentenversicherung vom Staatshaushalt vergrößern. Das kann nach unserer Auffassung nicht im Interesse der Rentner liegen. Wir möchten eine durch Beiträge finanzierte Rentenversicherung und keine Staatsrenten. Wir werden uns nachhaltig hierfür einsetzen.

    (Beifall bei der FDP)

    Wir flüchten auch nicht verschämt und versteckt wie die CDU/CSU zu dem Kunstgriff, Abzüge von den Bruttorenten als sogenannten Krankenkassenbeitrag der Rentner zu deklarieren, einen Krankenkassenbeitrag, von dem die Krankenversicherungen im übrigen keinen Pfennig erhalten, wie ich soeben durch meine Zwischenfrage schon deutlich machte.
    Nun weist die CDU, angeführt von ihrem Generalsekretär, aber auch von Ihnen, Herr Kollege Höpfinger, auf die Sozialkomponente beim sogenannten Krankenkassenbeitrag der Union hin. Danach soll für die Rentner mit niedriger Rente eine Freigrenze bei diesem Krankenkassenbeitrag eingeführt werden. Die Freigrenze bedeutet aber im praktischen Ergebnis: Rentner mit geringeren Beitragsleistungen erhalten einen höheren Rentenanpassungssatz.
    Ich habe Verständnis dafür, daß man dies politisch will. Man muß aber dann ehrlich sagen, Herr Kollege Blüm — und das haben Sie eben vermissen lassen —, daß dies im Ergebnis Rentennivellierung ist. Wir Freien Demokraten wollen keine Rentennivellierung. Nach unserer Auffassung richtet sich der Rentenanspruch in unserem bestehenden Rentensystem, dem Umlagesystem, auf Zahlung eines bestimmten Anteils vom jeweiligen Beitragsaufkommen. Dieser Anteil soll ausschließlich durch die Höhe und die Dauer der Beitragsleistung, aber nicht durch irgendwelche Sozialkomponenten bestimmt werden. So haben wir es in unseren Thesen zur Alterssicherung beschlossen. Wir wollen offen und ehrlich und fair mit Ihnen allen auf beiden Seiten des Hauses diskutieren.
    Wir halten es aber für zutiefst unredlich, wie die Union das Leistungsprinzip in der Rentenversicherung zu beschwören und tatsächlich mit konkreten Vorstellungen nichts anderes als Rentennivellierung zu betreiben. Ich darf in diesem Zusammenhang den Kollegen Franke von der CDU/CSU-Fraktion zitieren, der am 29. November folgendes erklärte:
    Es wird deutlich, daß die SPD eine Nivellierung der Renten über stärkere Anpassung der niedrigeren Renten und Besteuerung der hohen Renten anstrebt. Die Leistungsbezogenheit der Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung würde damit aufgegeben.
    So Kollege Franke. Soweit, gut.
    Aber hier drängt sich doch der Schluß auf: Wenn die SPD höhere Renten anders behandeln will, ist das Nivellierung und ist aus Ihrer Sicht abzulehnen. Wenn die Unionsparteien mit anderen Methoden, aber im Ergebnis das gleiche tun, ist dies keine Nivellierung, sondern das wird hübsch als Sozialkomponente verkauft.

    (Beifall bei der FDP)

    Und dies halte ich nun einmal für unredlich.
    Herr Kollege Höpfinger, ich befürchte, mit dem Krankenkassenbeitrag der Rentner sind Sie den Minnesängern und Troubadouren — um einen Ausdruck Ihres Parteivorsitzenden Strauß aufzugreifen-
    15150 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979
    Cronenberg
    der CDU auf den Leim gekrochen. Bei der Partnerrente haben Sie zwar richtig erkannt, daß der CDU- Vorschlag von 1975 utopisch ist. Sie sollten sich aber auch bei der Rentenanpassung gelegentlich Orientierungshilfen bei uns holen. Das würde mindestens Ihre politische Glaubwürdigkeit ein wenig erhöhen.
    In den 60er Jahren waren Sie nicht in der Lage, die von den Gesellschaftspolitikern betriebene Expansion der Sozialausgaben mit den wirtschaftlichen Realitäten in Einklang zu bringen. Eine Folge dieses Fiaskos ist, daß Sie eine Koalition mit den Sozialdemokraten eingegangen sind. Dabei haben Sie die Versicherungspflichtgrenze in der Renten- und Arbeitslosenversicherung aufgehoben und alle Arbeitnehmer in die Versicherungspflicht einbezogen, den Rentenversicherungsbeitrag von 14 auf 18 % erhöht, die arbeitsrechtliche Lohnfortzahlung eingeführt und dadurch die Klein- und Mittelbetriebe ganz besonders belastet und das Sachleistungssystem der Krankenversicherung mit seiner Nivellierung weiter verfestigt.
    Ich werfe den Sozialdemokraten von hier aus nicht vor, daß sie sozialdemokratische Politik machen. Nur haben Sie, die Unionsparteien, diese Politik mitgemacht, ermöglicht, und zwar in einer Koalitionsregierung, in der der Kanzler von der Union gestellt wurde, der Arbeitsminister und der Finanzminister der Union angehört haben. Sie wissen, daß nun jener Finanzminister Ihr neuer Kanzlerkandidat ist. Diese verfehlte Weichenstellung in der Gesellschaftspolitik ist möglicherweise nicht widerrufbar. Mit diesen Fehlentscheidungen haben Sie aber, welche Ironie des Schicksals, Hindernisse aus dem Weg geräumt, die einer Zusammenarbeit von Freien Demokraten und Sozialdemokraten in der Gesellschaftspolitik bis dahin entgegenstanden, weil Sie eben lieber Strategiekommissionen bilden, als wirklich langfristig strategisch zu handeln.
    Dies alles hat dazu geführt, daß Sie nun seit 1969 in der Opposition sitzen. Man sollte meinen, daß das Ursache gewesen wäre, ein wenig dazuzulernen. Dies war aber, wenn man die Ausführungen des Kollegen Blüm hier heute gehört hat, überhaupt nicht der Fall, jedenfalls nicht auf dem Gebiet, das er hier angesprochen hat, nämlich dem der Gesellschaftspolitik. Sie haben sich darauf beschränkt, die Gesetzesvorlagen der Koalition als unzureichend zu kritisieren und durch kostentreibende Änderungsanträge zu überbieten. Beispielhaft möchte ich hier nur folgendes erwähnen: Ihre unredliche Kampagne in der Rentenpolitik, von der Sie eben wiederum ein Musterbeispiel geliefert haben, Ihre Forderung zum Bildungsurlaub, Ihre Forderung zur Zwangsdynamisierung der betrieblichen Altersversorgung, Ihre Forderung zur Erhöhung von Arbeitslosengeld, Sozialhilfe und Kindergeld.
    1975, auf dem Höhepunkt der Rezession, propagierte die CDU die neue soziale Frage mit Milliardenkosten, die Einführung von Erziehungsgeld und Partnerrente. Die CSU, als selbsternannte Vorkämpferin gegen den Sozialismus, steht dem in überhaupt nichts nach. Ich nenne in diesem Zusammenhang den Änderungsantrag der CSU zum Kostendämpfungsgesetz, mit dem die Versicherungspflichtgrenze der Krankenversicherung zu Lasten des gegliederten Systems und der Wahlfreiheit der Bürger heraufgesetzt werden sollte. Ich nenne in diesem Zusammenhang den unglaublichen Gesetzesvorschlag, den die CSU im Bundesrat eingebracht hat, nämlich den Entwiirf zur Änderung des Maschinenschutzgesetzes, durch den über 300000 Einzelhandelsbetriebe in diesem Lande der staatlichen Uberwachung unterzogen werden sollten. Wenn ich dieses Musterbeispiel an Bürokratisierung draußen in Versammlungen darlege, dann glaubt mir niemand, daß dies ein Vorschlag der bayerischen Landesregierung gewesen ist. Ich kann nur wiederholen: Es ist in der Tat so und nicht anders gewesen.
    Ober Ihre verfehlte Rentenpolitik habe ich schon gesprochen. Beide, CDU und CSU, haben bis heute nicht den Mut, von ihrer Rentenpolitik der Illusionen Abschied zu nehmen. Sie sind nach wie vor nichts anderes als bruttolohnbezogene Anpassungsfetischisten.
    Mein guter Rat an Sie, Herr Kollege Blüm: Pilgern Sie doch einmal nach Frankfurt zu Professor von Nell-Breuning; nicht um dort zu beichten, sondern vielleicht um dort Exerzitien abzuleisten, um sich dort einmal von Professor von Nell-Breuning sagen zu lassen, was er zu diesem Fragenkomplex denkt. Ich darf an die Frage erinnern, damit ich keinen Fehler begehe, die Professor von Nell-Breuning am 22. September 1979 im WDR beantwortet hat. Die Frage lautete: In welcher Richtung würden Sie die Weichen stellen, was die Renten angeht? Darauf Professor von Nell-Breuning: „Ich würde ganz eindeutig dafür eintreten, daß das Geschwätz von bruttolohnbezogenen Renten endlich mal aufhört. Mal ganz ehrlich und klar gesagt, mit bruttolohnbezogener Rente kann man nur das System ruinieren, aber nicht dem Rentenbezieher helfen." Herr Professor von Nell-Breuning wird ja wohl als Kronzeuge für eine sinnvolle Politik erlaubt sein. Ich empfehle Ihnen diesen Nachhilfeunterricht sehr gerne.
    Ihre angeblichen politischen Alternativen zu den Konsolidierungsmaßnahmen des 21. Rentenanpassungsgesetzes hätten bereits in diesem Jahr eine Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge erfordert, was mit zusätzlichen Risiken für Arbeitsplätze, Stabilität und damit für das notwendige Wachstum verbunden gewesen wäre. Die Sachverständigenanhörung zum 21. Rentenanpassungsgesetz hat das eindrucksvoll bestätigt. Sie sollten in dieser Frage wirklich nicht nachkarten; es kann sich nicht zu Ihrem Vorteil auswirken.
    Wir Freien Demokraten haben zusammen mit der SPD-Fraktion gegen den Widerstand der Union eine Sozialpolitik durchgesetzt, die den wirtschaftlichen Notwendigkeiten Rechnung trägt. Wir reden nicht von der Einheit von Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, wir praktizieren sie. Die Union ist offensichtlich nicht dazu in der Lage und wohl auch nicht gewillt, solches zu tun, jedenfalls nicht, Herr Kollege Blüm, nach dem Anschauungsunterricht, den Sie uns heute hier in diesem Hause geboten haben; er lief unter dem Motto: Das Richtige, was Sie gesagt
    Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979 15151
    Cronenberg
    haben, schnell widerrufen, das Neue, was Sie gesagt haben, war falsch.

    (Beifall bei der FDP und der SPD Dr. Blüm [CDU/CSU]: Wo habe ich denn was widerrufen?)