Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst ein paar Punkte aus der Nachmittagsdebatte abhandeln, die noch nicht ausreichend angesprochen worden sind. Herr Abgeordneter Ehmke hat es für nötig befunden, die CDU/CSU-Fraktion so darzustellen, als seien wir diejenigen, die für eine Diätenerhöhung einträten.
Ich empfinde das als einen versuchten Rufmord. Hier wird das alte Schema angewandt: Eine Partei ist geldgierig — das ist die CDU/CSU —, und auf der anderen Seite sitzt der uneigennützige Herr Ehmke.
Ich denke schon, wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.
Ich will das noch erweitern! Ihr Vorsitzender hat auf Ihrem Parteitag unseren Kanzlerkandidaten als einen Mann bezeichnet, der die Rückkehr nach Weimar bedeuten würde. Nein, Franz Josef Strauß ist nicht die Rückkehr nach Weimar, die Verteufelung des politischen Gegners ist Rückkehr nach Weimar.
Der zweite Punkt. Die Medienpolitik ist angesprochen worden. Herr Fraktionsvorsitzender, ich empfehle: Geben Sie Ihrer Fraktion nach den Vorgängen um die „Hamburger Morgenpost" zunächst einmal eine Redepause in Sachen Medienpolitik.
Wenn die Jungsozialisten einmal ein Buch schreiben sollten, in dem sie darstellen, wie böse der böse Kapitalismus ist, dann sollten sie sich beim Betriebsrat der „Hamburger Morgenpost" das Material abholen, aus dem hervorgeht, wie die SPD die Belegschaft behandelt hat.
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Herr Halstenberg, der Schatzmeister, der Kapitalgeber, hat noch am 14. November 1979 auf der Betriebsversammlung gesagt: Daß diese Zeitung weiter existiert, nehme ich als derjenige, der die Verhandlungen führt, auf meine Kappe. Es muß eine Tarnkappe gewesen sein, die er da benutzt hat.
Die Belegschaft, Redakteure und Mitarbeiter der „Morgenpost" hat von der Stillegung ihres Betriebes über die Ticker von Nachrichtenagenturen erfahren. Erst einmal wurde die Partei unterrichtet, dann die Betroffenen. Das sind erst die Kapitalgeber und dann die Arbeitnehmer. Anscheinend ist das Ihre Mitbestimmungsphilosophie.
Ich muß auch bekennen, daß ich heute nachmittag zeitweise ganz verängstigt und verschreckt war angesichts der Art und Weise, mit der man mit dem Herrn Bundeskanzler sprechen darf. Herr Ehmke hat, wenn ich mich nicht verzählt habe, dreimal gesagt, es sei ungewöhnlich, ungehörig, wie wir mit dem Bundeskanzler umgingen, der doch eine so große Leistung vollbringen müsse. Ich kann nur fragen: Sollen wir ihn jetzt mit Exzellenz ansprechen?
Der Herr Bundeskanzler selber hat davon gesprochen, ihm fehle „das Erlebnis", wie die CDU/CSU auf die Gewerkschaftsfrage antworte. Dann hat er gesagt, dem „Mann gebe er recht", und „Herr Barzel habe Herrn Strauß übertroffen". Ich fand, das war wie in der Schule. Zu guter Letzt hat er noch gesagt, der Ton der Opposition sei offensiv, die Substanz defensiv. Ich fühlte mich tatsächlich an die Schule erinnert. Es hätte nur noch gefehlt: Schönschrift gut, Inhalt mangelhaft. Ich finde, in dieser Weise sollten Sie nicht mit uns umgehen. Was Sie in Ihrer eigenen Partei machen, ist Ihre Sache.
Ich habe in der Tat den Eindruck, daß Sie auf dem Berliner Parteitag versucht haben, noch einmal das Märchen „Des Kaisers neue Kleider" aufzuführen. Jeder in der SPD, der etwas gelten oder werden will, muß sagen, daß der Kanzler der Größte sei. Zu diesem Märchen fehlt nur noch der kleine Junge vom Straßenrand, der sagt: Der Kaiser hat doch nur die Unterhosen an. Ich bin sicher, dieser Ruf wird vor der Bundestagswahl nicht ertönen. Vor der Bundestagswahl werden Sie durch nichts anderes zusammengehalten als durch die panische Angst vor dem Machtwechsel, meine Damen und Herren.
— Ich komme auch noch zum Thema Wirtschaftspolitik, Herr Roth.
Wenn aus der großen Sozialdemokratischen Partei, vor hundert Jahren angetreten gegen die Mächtigen, nichts anderes als ein Machterhaltungskartell geworden ist, dann haben Sie bereits Ihr Gesicht verloren.
Meine Damen und Herren, Identität einer Partei ist
einfach die Funktion des politischen Managements,
und die Legitimität ist nicht das gleiche wie Effektivität.
— Verehrte Frau Kollegin, in der Tat, Ihr Unternehmen erinnerte mich schon mehrfach an einen großen Konzern: Herr Schmidt ist der Konzernchef, Willy Brandt ist für die Sozialabteilung zuständig, und Herbert Wehner leitet den Werkschutz.
Ich frage mich, ob nicht Erhard Eppler doch mit seinem Satz „Nicht jeder Sieg ist ein Gewinn", den er dem Bundeskanzler entgegengerufen hat, mehr formuliert hat als nur eine Pointe. Vielleicht war es auch das Menetekel der Regierung Schmidt.
Meine Damen und Herren, wir wollen uns hier nicht an einer Olympiade der Beschimpfungen beteiligen. Es geht um Politik und um politische Richtungen. Ich bin heute mehrfach aufgefordert worden, hier doch einmal unsere Antwort auf die Leistungen der Regierung im sozialen Bereich vorzutragen. Ich glaube, es ist aus zwei Gründen wichtig, daß wir Bilanz ziehen, einmal, um Anspruch und Wirklichkeit miteinander zu vergleichen, also Reklame und Ware, und zweitens auch, um aus Erfahrung klüger zu werden, um einer neuen Politik eine Chance zu geben.
Ich zitiere den Herrn Bundeskanzler aus seiner Rede anläßlich der Arbeitnehmerkonferenz seiner Partei am 26. Mai 1976 in Dortmund:
Nach ein paar Jahren wird keiner mehr von uns sagen können: Das waren die anderen, die das alles so und so gemacht haben. Nach ein paar Jahren wird man uns sagen: Jetzt hattet ihr aber so und so viel Zeit. Jetzt ist es eure Verantwortung.
In der Tat: Sie konnten jahrelang von der Ausrede leben, Sie hätten 20 finstere CDU-Jahre zu bewältigen. Nach zehn Jahren sozialliberaler Koalition hilft dieses Ausweichmanöver nicht. Da stehen Sie nackt und bloß mit Ihren Leistungen da.
— Ich habe als Sozialausschußmitglied lange Zeit ertragen müssen, als Badehose — und Sie haben da eine ganze Kleidersammlung —, als Feigenblatt der CDU bezeichnet zu werden. Angesichts der sozialpolitischen Leistungen dieser Koalition ist ein Bikini noch ein Wintermantel, kann ich Ihnen dazu nur sagen.
— Sie werden es doch noch ertragen, daß ich vortrage. — Lassen Sie mich zur Bilanz kommen.
— Verehrter Herr Kollege Rohde, ich bin nicht sicher, ob Sie es als Feuilleton bezeichnen, wenn ich als erstes feststelle: Die von Ihnen getragene Regie-
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Dr. Blüm
rung hat die 1957 von der CDU eingeführte bruttolohnbezogene Rente außer Betrieb gesetzt.
Diese dynamische, bruttolohnbezogene Rente wird sich von diesem Rammstoß, den Sie ihr versetzt haben, nicht erholen. Die Delle wird mitgeschleppt, selbst wenn Ihre Versprechung, 1982 wieder zur bruttolohnbezogenen Anpassung zurückkehren zu wollen, eintreten sollte. Die Rentner sind abgehängt. Herr Rohde, ist das Feuilleton? 4,5 % Rentenanstieg, 5,7 % Preisanstieg — ist das Feuilleton? Das ist eine nackte Tatsache!
Sie sind ausgezogen, das soziale Sicherungssystem zu verbessern. Reformen sollten vorgenommen werden. Sie könnten heilfroh sein, wenn Sie uns dieses System so zurückgeben können, wie Sie es aus den Händen der CDU/CSU empfangen haben, nämlich unbeschädigt.
Reformieren wollten Sie. Sie waren zur Sanierung des Sozialsystems nicht in der Lage.
Zweitens. Wir befinden uns im fünften Jahr der Dauerarbeitslosigkeit. Noch immer gibt es mehr Arbeitnehmer ohne Arbeit als zu jener Zeit, zu der Sie wegen 600 000 Arbeitslosen den Rücktritt der Regierung Erhard verlangt haben. Der Aufschwung, mit dem Sie landauf, landab den Wahlkampf bestreiten wollen, hat die älteren Arbeitnehmer und auch die behinderten Arbeitnehmer nicht erreicht. Die Zahl der Arbeitslosen unter den Arbeitnehmern über 55 Jahre nahm im letzten Jahr um 6,6 % zu. Der Anteil der Schwerbeschädigten ohne Arbeit stieg um 12,7 %. Die Dauerarbeitslosigkeit ist das Sieb, durch das sie Schwächsten aussortiert werden.
Die Paradoxie dieses Vorgangs besteht darin, daß diejenigen, die einst gegen die Leistungsgesellschaft angetreten sind, eine Hochleistungsgesellschaft zurücklassen, die in ihrer Härte alle ihre Vorgänger übertrifft. Das ist das Ergebnis.
Drittens. Herr Kollege Rohde, auch hier frage ich wieder: Ist das Feuilleton oder Wirklichkeit? Nie wurden die Arbeitnehmer in der Geschichte dieser Bundesrepublik mehr zur staatlichen Kasse gebeten als von dieser Bundesregierung. Die Bruttolohn-und Gehaltssumme soll von 1979 auf 1980 um 7,2 % steigen, die Lohnsteuereinnahmen dagegen um 12,8 %. Mit anderen Worten: Der Staat ist bei jeder Tarifverhandlung der lachende Dritte, und er lacht immer besser. Die Lohnsteuereinnahmen wachsen doppelt so schnell wie die Löhne. 1970 betrugen die Einnahmen des Staates aus Lohnsteuern 35,1 Milliarden DM, 1980 werden es 116,3 Milliarden DM sein. Das ist eine Steigerung um 231 %. 47 Pfennige jeder Mark gehen durch die öffentliche Hand.
Wenn an der Belastungsschraube noch ein bißchen gedreht wird, ist es günstiger, die Arbeitnehmer geben ihren Lohn dem Staat und lassen sich die
Lohnsteuer und die Sozialabgaben auszahlen. In der Tat, so weit sind wir bald. Dann können die Arbeitnehmer sozusagen das Taschengeld beim Finanzamt abholen. Herr Finanzminister, wir sind auf dem Weg in die Taschengeldgesellschaft.
Ein vierter Punkt. Es gibt Wohlstand; das sei zugegeben. Niemand will bestreiten, daß es vielerorts Wohlstand gibt — Gott sei Dank! Aber auch die Not nimmt zu. Von 1970 bis 1976 hat sich der Anteil derjenigen, die Hilfen zum Lebensunterhalt bekommen, fast verdoppelt. Wenn die Entwicklung so weitergeht, werden wir 1982 doppelt soviel Sozialhilfeausgaben haben wie 1975. Wir haben 500 000 Witwen mit einer Rente unter 250 DM. Angesichts dessen sollten Sie nicht so den allgemeinen Wohlstand ausrufen. Für die Betroffenen ist es relativ belanglos, ob sie zusammen mit 2 Millionen oder nur 500 000 in Not sind. Eine Sozialpolitik, die nur wach wird, wenn die Großkolonnen in Bewegung gesetzt werden, verdient nicht die Bezeichnung „sozial".
Ich glaube nicht, daß wir nur mit Jammern die Welt verändern. Selbsterkenntnis ist aber der erste Weg zur Besserung. Dazu wollte ich hier einen Beitrag leisten. Die Beschreibung der Probleme ist natürlich noch nicht ihre Lösung.
Meine Damen und Herren, ich glaube, daß die Besinnung auf prinzipielle Sozialpolitik nie wichtiger war als zu dieser Zeit. Mit der hechelnden Reformhektik verschwinden aus der sozialen Sicherheit Berechenbarkeit, Verläßlichkeit und Vertrauen. Deshalb ist eine prinzipielle Sozialpolitik der Damm gegen staatliche Willkür und die Voraussetzung für Kontinuität. Ich nenne drei für unsere Sozialpolitik wichtige Prinzipien: die Leistungsgerechtigkeit, die Solidarität und die Subsidiarität.
Ich möchte gerade diese drei Prinzipien am Beispiel der Rentenversicherung und der Familienpolitik deutlich machen.
Wo immer sich Spielräume ,der Leistungsgerechtigkeit im Sozialsystem eröffnen, müssen sie genutzt werden; denn die Leistungsgerechtigkeit basiert auf dem Prinzip der Äquivalenz, Leistung gegen Gegenleistung. Insofern ist die Leistungsgerechtigkeit sogar Ausdruck eines Gleichheitssatzes: Leistung für Gegenleistung ist besser als Zuwendung bei Bedarf. Unsere Rentner wollen eine leistungsbezogene Rente, sie wollen kein Geschenk des Staates. Sie wollen ihre Rente, die sie sich durch eine lebenslange Leistung erarbeitet haben.
— Bei Ihnen geht noch immer der Virus der Sockelrente, der Bedarfsrente um. Im Godesberger Programm steht es noch so:
Jeder Bürger hat im Alter, bei Berufs- und Erwerbsunfähigkeit oder bei Tod des Ernährers Anspruch auf staatliche Mindestrente.
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Die Christlich Demokratische Union will keine Almosenversicherung, auch wenn sie im Mantel der Großzügigkeit daherkommt, sie will die leistungs- und lohnbezogene Rente.
— Das können wir nicht kurz machen; denn Sie wollen doch was ganz anderes. Wenn ich die FDP hinsichtlich der Rentenversicherung sehe, so stelle ich fest, daß Sie auch in der Sozialpolitik im Beiwagen der SPD sitzen, und Sie bedienen den Haltegriff, als sei es die Lenkstange. Das ist das einzige, was ich bei Ihnen in der Sozialpolitik entdecke.
Alles, was von der bruttolohnbezogenen Rente wegführt, ist ein Angriff auf die Leistungsgerechtigkeit und die Hintertür der Manipulateure. Ins Abseits führt auch der Ehrenbergsche Vorschlag, eine Maschinensteuer an die Stelle des lohnbezogenen Arbeitgeberanteils zu setzen.
— Doch, das führt ins Abseits, weil das von der Lohnbezogenheit wegführt. Herr Ehrenberg, wenn Sie das sogar noch mit arbeitsmarktpolitischen Überlegungen begründen, so führt dieser Vorschlag logisch weiter dazu, daß Sie die Maschinen ganz abschaffen, damit alle Arbeit haben. Dann würden wir bald im Neandertal existieren und unsere Haushaltsdebatte vielleicht als Stammesthing abhalten.