Herr Bundeskanzler, Sie haben hier Rechenschaft zu geben, auch am Ende dieses Jahres 1979. Es bildet das Ende eines Jahrzehnts, das von Ihnen und Ihren politischen Freunden — von der Koalition von SPD und FDP — mit so hohen Erwartungen und Versprechungen eingeleitet wurde. Rainer Barzel hat heute mittag mit gutem Grund jenes Wort von Willy Brandt zitiert, das man nicht oft genug wiederholen kann, jetzt eigentlich beginne die deutsche Demokratie: „Wir wollen mehr Demokratie wagen."
Zehn Jahre Machtübernahme durch SPD und FDP haben dazu geführt, daß die einfachste parlamentarische Kritik irgendeines Redners in diesem Hause von Ihnen überhaupt nur noch als Majestätsbeleidigung aufgefaßt werden kann.
Das, Herr Bundeskanzler, haben ja auch Ihre politischen Freunde in Berlin verspürt. Sie haben sich von der Wirklichkeit, Sie haben sich von den Sorgen und den Nöten unseres Volkes weit entfernt. Sie halten hier vor uns eine Plauderstunde über diesen oder jenen in der Welt, mit dem Sie gesprochen haben. Aber die Antworten auf die Zukunft sind Sie uns schuldig geblieben. Es ist wohl das bestürzendste Ergebnis dieser zehnjährigen Regierungstätigkeit — vor allem auch der deutschen Sozialdemokraten —: Wer anderer Meinung ist, wird von vornherein diffamiert. Wir haben es heute — ich will sonst zu dieser Rede nichts sagen, sie hat sich selbst gerichtet — in der Äußerung des Herrn Abgeordneten Ehmke gehört, als er im Zusammenhang mit der Frage eines Regierungswechsels das Wort von der Macht und dem Banausentum in den Mund genommen hat. Die Sprache ist verräterisch. Hier wird nicht mehr Demokratie gewagt. Hier wird schlicht und einfach der Versuch unternommen, um jeden Preis — ich sage: um jeden Preis — an der Macht zu bleiben.
Dabei ist es Ihnen völlig gleichgültig, ob der innere Frieden unseres Landes zerstört wird. Dabei ist es Ihnen — —
— Nun, Herr Kollege Wehner, für Sie ist der Begriff „innerer Friede" ein Fremdwort. Sie sollten sich hier nicht zu Wort melden.
Dabei ist es Ihnen völlig gleichgültig — ich wiederhole es —, ob der innere Frieden unseres Landes zerstört wird. Herr Bundeskanzler, wie wollen Sie dem äußeren Frieden Europas, unseres Volkes, der Welt dienen, wenn Sie nicht fähig sind, Ihr Amt wahrzunehmen und dem inneren Frieden unserer Bundesrepublik Deutschland zu dienen?
Weil dies so ist, werden vor einer solchen Wahl Feindbilder — anders kann man es nicht nennen — beliebiger Zahl und ohne jede Hemmung entwikkelt. Es ist völlig gleich, ob dabei die Wahrheit gebeugt wird. Es ist völlig gleich, ob dabei menschliche Beziehungen, die auch in diesem Parlament von größter Bedeutung sind, Herr Ehmke, wenn es arbeitsfähig bleiben soll, zerstört werden. Sie haben nur ein Ziel: den Oktober 1980 zu überleben.
Herr Bundeskanzler, ich kann in der Kürze der Zeit hier nur ein paar Ihrer Legenden ansprechen, beispielsweise das, was Sie hier zum Thema Gesamtschule gesagt haben. Ich frage mich, wenn Ihnen dieses Thema so am Herzen liegt: Warum waren Sie nicht vor ein paar Tagen hier im Hause präsent und haben gesprochen, als die führenden Repräsentanten der deutschen Bildungspolitik aus allen Lagern Rechenschaft gaben?
Damals, als Ihr Ressortminister Schmude so jämmerlich unterging,
haben wir Sie in dieser Debatte vermißt. In Wahrheit ist es ja auch gar nicht Ihr Thema. Sie haben sich in diesen ganzen Jahren nie um die Bildungspolitik gekümmert. In Wahrheit war Ihre Strategie immer die — und das ist auch heute noch so —, daß Sie die Bildungspolitik gern den linken Ideologen in Ihrer Partei zuschieben, wenn sie dabei den Preis zu zahlen bereit sind, Sie an der Macht zu belassen. Das ist doch der Ausgangspunkt der ganzen Entwicklung.
Herr Bundeskanzler, Sie waren damals noch in einem anderen Ressort, aber wir saßen zusammen in der Ministerpräsidentenkonferenz. Sie wissen doch so gut wie ich, daß es ganz anders mit der Gesamtschule war, daß damals die deutschen Bundesländer gemeinsam — die einen mehr widerstrebend, die anderen von der Sache mehr überzeugt — in vernünftig abgestimmten Schulversuchen den pädagogischen Ertrag dieser Versuche wirklich ausprobieren wollten. Wir haben damals Sie und Ihre Freunde leidenschaftlich davor gewarnt, in die Bildungspolitik eine Ideologisierungstendenz hineinzubringen, die sich zu Lasten der Kinder auswirken wird. Was soll das jetzt, wenn Sie heute von diesem Pult aus an das Schicksal der betroffenen Kinder erinnern? Wo haben Sie denn in diesen fünfzehn Jahren, als diese Politik ideologisch immer mehr umstritten wurde, jemals an die betroffenen Kinder gedacht?
Sie haben es hingenommen, daß eine ganze Schülergeneration mit ihren Eltern in der Bundesrepublik durch politische Mehrheitsentscheidung in diese Lage gekommen ist. Sie haben niemals nach dem Elternwillen gefragt. Sie haben niemals nach der Zukunftsperspektive der Schüler gefragt. Sie haben diesen Kindern ein ideologisches System aufgezwungen. Das ist doch die Erfahrung, die wir gemacht haben.
Sie haben doch in Wahrheit aus Ihrem verworrenen Klassenbewußtsein, das nicht mehr in unsere Zeit paßt, immer das Ziel gehabt, das auf Erfahrungen beruhende, bewährte, wenn auch durchaus re-
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979 15113
Dr. Kohl
formbedürftige differenzierte System der deutschen Schulen zu zerstören. Das war doch der Ausgangspunkt Ihrer Politik.
Herr Bundeskanzler, dies alles hat — um es klar auszusprechen — mit dem Kanzlerkandidaten der CDU/CSU Franz Josef Strauß nun wirklich nichts zu tun. Diese Vorgänge, die ich hier eben angesprochen habe, spielen lange vor seiner Amtszeit als bayerischer Ministerpräsident. Nein, hier geht es einfach darum, daß ein Buhmann gefunden werden muß; ganz gleich, wie das Thema lautet, er muß dazu herhalten. Sie haben ein weiteres Beispiel — —