Rede von
Dr.
Rainer
Barzel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Ich bin etwas in Zeitdruck. Ich sehe, daß die rote Lampe bereits aufleuchtet.
Ich glaube, sicher gehen Sie so, gehen wir alle nicht in die 80er Jahre; denn so steht Unsicherheit, steht zur Ölkrise die Stromkrise ins Haus. Sie wissen, daß der Sachverständigenrat in seinem jüngsten Gutachten eben das befürchtet.
Mit „Optionen" aber ist nicht nur der Weg ins Abschüssige gepflastert, offensichtlich auch mit Parteibeschlüssen, mit denen, so wird gesagt, „die Bundesregierung leben könne". Wie rücksichtsvoll: Man läßt leben.
Man drosselt und lobt sich, nicht zu erdrosseln, statt der Regierung in diesen schweren Zeiten zu helfen und sie zu tragen. Dabei ist es überhaupt nicht wichtig, ob diese oder irgendeine Regierung politisch leben kann. Das ist ganz und gar unwichtig. Wichtig ist, daß unser Volk leben kann. Das ist der Maßstab.
Es tut mir leid: Entweder war es fahrlässig, sich 1973 eindeutig und dringlich für die friedliche Nutzung der Atomkernenergie mit den Worten zu entscheiden, die ich vortrug, oder es ist fahrlässig, nun von Erwägung zu Bedenken, von offengehaltenen Optionen zu ebensolchen Strategien — Heuschrekken tun das — wie von Grashalm zu Grashalm, von Termin zu Termin zu hüpfen. Entweder war das damals oberflächlich, also unseriös, oder man handelt heute wider besseres Wissen, also unaufrichtig. In beiden Fällen ist es unverantwortlich. Wie beim Schuldenmachen leben Sie in den Tag hinein auf Kosten der jungen Menschen. Mit Regieren hat das nichts zu tun; denn das heißt voraussehen und durchsetzen.
Heute stehen da, wie gesagt, nur noch Optionen, wo früher Entscheidungen standen. Und mit dem vielen Papier, das Sie bedrucken, wird keiner die bevorstehende Energielücke schließen können.
Sie haben das zweite Prinzip unserer Energiepolitik, Herr Wehner — unabhängig werden — einfach aufgegeben. Sie haben es zu schnell gewechselt. Und so haben Sie die Maßstäbe, die Ziele auch in anderen Fragen immer wieder gewechselt!
Sie zogen mit den Prinzipien Selbstbestimmungsrecht und Wiedervereinigung aus, und heute wollen Sie — welch weiter Weg nach nur zehn Jahren — die beiden deutschen Staaten „stabilisieren"; so Ihre Worte. Sie wollten ursprünglich alles normalisieren, heute zementieren und bezahlen Sie das ganz und gar Unnormale. Zu Beginn Ihrer Koalition war Deutschland als Ganzes noch der Maßstab für die Entspannung, heute genügt Ihnen die Lage des freien Berlin.
Das ist von der Elle zum Millimeter. Vor zehn Jahren beschworen Sie die politische Union Europas. — Heute weigern Sie sich, „Schrittmacher" Europas zu sein, weil Sie eine Brückenfunktion zwischen Ost und West zu haben wähnen. Am Anfang der Koalition war noch von Abschreckung die Rede und von Lösung von Spannungsursachen. Heute ist das zu „Gleichgewicht und Entspannung" geschrumpft.
Nun ginge es erst richtig los, verkündeten Sie vor zehn Jahren, rühmten sich später des „deutschen Modells", und heute reden Sie sich raus: Regt euch nicht auf, woanders ist es schlimmer.
Vor zehn Jahren mußte sich jeder Angehörige des öffentlichen Dienstes im Dienst wie in der Freizeit zu unserem freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat bekennen. — Heute können Kommunisten Lehrer werden.
Wenn das — einschließlich der Finanzen und der Ökonomie, von denen Franz Josef Strauß gesprochen hat —, verehrte Damen und Herren, alles zehn Jahre so weiterginge, dann wären wir sehr rasch in der „anderen Republik", vor der schon Karl Schiller die Genossen gewarnt hat.
Meine Damen und Herren, wir leugnen nicht, daß sich die Koalition und der Kanzler mühen. Wir leugnen nicht, daß die Koalition arbeitet.
— Et respice finem, Herr Kollege Wehner.
Ich glaube, sie schöpfen wirklich die Möglichkeiten aus, die Sie in der Koalition haben. Nur bei diesem Ausschöpfen erschöpfen Sie sich.
Ihre Koalitionsmöglichkeiten sind das eine. Das andere sind die objektiven Notwendigkeiten der deutschen Politik. Hinter denen bleiben Sie weit zu-
15086 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979
Dr. Barzel
rück. Wo Gewißheit not tut, produzieren Sie Unsicherheit, also „Gift" nach dem Kanzler. Deutschland braucht eine anspruchsvollere Politik. Da genügen die Ihnen möglichen Koalitionskompromisse nicht; denn die geben Steine statt Brot. Wenn 1985 der Strom fehlt und die Freiheit durch staatliche Energiezuteilung verdunkelt und gröblich verletzt wird, dann hilft Ihr heutiger Koalitionskompromiß keinem.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, das Ihnen Mögliche in dieser Koalition genügt eben nicht. Wir brauchen nicht das Ihnen Mögliche, wir brauchen das Notwendige. Und so glaube ich: Eine bessere Politik für Deutschland ist nötig, eine bessere Politik für Deutschland ist möglich. Wenn Sie fragen, ob das möglich sei, sage ich: ja. Wir trauen uns das zu.