Rede von
Dr.
Rainer
Barzel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Verehrter Herr Kollege Möllemann, jetzt versuchen Sie wieder im Trüben zu fischen, wo gar nichts ist.
Der Kollege Strauß hat, damit dies ganz klar ist — aber ich danke, daß ich das klarstellen darf; vielleicht gelingt es jetzt, auch Sie davon zu überzeugen —, von vornherein gesagt: Solche Begegnungen müssen sein, wenn sie etwas bringen. Unser Parteivorsitzender Kohl hat das gestern in Berlin mit Zustimmung des Bundesparteiausschusses der Union ebenfalls erklärt. So steht es, wenn Sie hören mögen, Herr Möllemann, z. B. in unserem Parteiprogramm: Wir sind für Gespräche, wir sind für Abreden auch mit der DDR, wenn es — das sollten Sie allerdings nicht übersehen — den Menschen
und dem Zusammenhalt der Nation dient. Das ist doch das Entscheidende.
Meine Damen und Herren, ich würde dem Bundeskanzler gern noch mitgeben, auch hinsichtlich der Ausweitung des Sportverkehrs auf örtlicher Ebene und hinsichtlich des vermehrten Jugendaustausches etwas durchzusetzen. Auch ein bißchen Bescheidenheit möchte ich Ihnen mitgeben; denn, verehrter Herr Bundeskanzler, Sie verhandeln das ja nicht alles selber, was da so gelobt wird. Aber da ist auch nichts, was dem Verhandlungsgenie Ihrer Unterhändler etwa anzulasten oder an ihm zu rühmen wäre. Das, was hier gewirkt hat, ist vielmehr die Kraft der Deutschen Mark, die unsere Steuerzahler zahlen. Mit diesem wesentlichen Argument sollten Sie in den innerdeutschen Beziehungen behutsamer und sparsamer umgehen, verehrte Damen und Herren.
Ich meine auch, daß Sie an zwei politischen Fragen — ich will die vielen Unstimmigkeiten, z. B. bei der Post usw., Vertragsbrüche sind dabei, hier nicht aufführen; das kommt später an anderer Stelle — nicht vorbeigehen können. Ich möchte doch gern der Hoffnung Ausdruck geben, daß Sie ohne eine wirklich dingfeste Zusage für die Arbeitsmöglichkeiten unserer Journalisten drüben weder hinnoch zurückreisen. Verehrte Damen und Herren, was soll denn die Nachbarschaft für eine Perspektive haben, wenn man die Nachbarn noch nicht einmal fragen darf und sie weder auf dem Fernsehschirm noch sonstwo ihre Meinung sagen dürfen? Da müßten Sie wirklich mit einer dingfesten Zusage kommen, die unsere Journalisten drüben von den Launen und den Schönwetter- oder Schlechtwettereinbrüchen in der Führung der SED unabhängig macht.
Das letzte hierzu: Herr Bundeskanzler, in Ihr Gepäck gehört, glaube ich — das ist unerläßlich —, die Beleidigung des deutschen Namens zu Sprache zu bringen, die die DDR durch ihre auswärtige Militärpolitik begeht. Die „Waffenbrüderschaft", deren sie sich rühmt, mit afrikanischen Staaten ist schlechterdings unerträglich; sie ist völlig unakzeptabel. Wenn das, was der Bundesaußenminister über Afrika hier heute gesagt hat, in einer Debatte hier wird gewogen werden können, dann wird der Beitrag der DDR zur Unruhe — und ich füge hinzu: auch zum Blutvergießen — auf diesem Kontinent nicht verschwiegen werden können. Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt: Von deutschem Boden dürfen nie mehr Gewalt und Krieg ausgehen. In dieser Frage aber geht von deutschem Boden Gewalt aus. Das muß ein deutscher Bundeskanzler rügen. Ich hoffe, daß Sie dies da drüben dann auch tun werden, meine Damen und Herren.
Ein weiteres steht in diesem Zusammenhang — es richtet sich nicht an den Koalitionspartner der SPD, die FDP, sondern es richtet sich an die Kollegen auf dieser Seite —: In Ihrem Parteitagsabschluß zur Außen-, Friedens- und Sicherheitspolitik verweisen Sie auf die Präambel des Grundgesetzes. Ich frage Sie, verehrte Kollegen: Warum zitieren Sie unvollständig, indem Sie es unterlassen, an dieser Stelle korrekt auch auf die in der Grundgesetz-Präambel als erste genannte Verfassungspflicht hinzuweisen, nämlich „die nationale und staatliche Einheit Deutschlands zu wahren"? Warum fehlt das? Warum fehlt bei der Aufzählung der Fundamente der Deutschlandpolitik, die Sie beschreiben, jeder Hinweis auf die gültigen Westverträge? Warum setzen Sie — entgegen dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts — die innerdeutsche Trennungslinie mit allen anderen Grenzen gleich? Warum fordern Sie in Ihrem Beschluß zur Weltpolitik u. a. den Kampf gegen die Ursachen von Gewalt, die Unterstützung des Selbstbestimmungsrechts, die Eindämmung willkürlicher Macht, den Aufbau sozialer Demokratien überall in der Welt, verschweigen aber eben diese Prinzipien, wenn es in Ihren Papieren und Beschlüssen um Deutschland geht?
Die Spaltung Deutschlands tun Sie ab, Herr Kollege Mattick, und ich gucke Sie einmal an.
— Das sind doch alles Zitate aus Ihren Papieren! Kommen Sie her, und sagen Sie eine andere Meinung! — Die Spaltung Deutschlands ist nach Ihrem Papier ein „Ergebnis des Zweiten Weltkriegs". Die Fortdauer der Spaltung Deutschlands ist doch ein Akt des Unrechts, eine fortwirkende Gewalt und eine gefährliche Spannungsursache. Und nur in Moskau sagt man doch eigentlich, sie sei eine unwiderrufliche Folge des Zweiten Weltkriegs. So können Sie das doch nicht alles stehenlassen. Sonst müssen wir ja annehmen, daß sich in der Tat Ihre Wert- und Zielvorstellungen im Galopp von der gemeinsamen Basis entfernen.
Ich sage Ihnen noch einmal: Friedenspolitik ohne die Substanz der Menschenrechte hält eben nicht. Wir wären doch nicht in dieser vertrackten Lage —
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auch mit westlichen Nachbarn — bei dieser Diskussion, die jetzt hier ansteht und von der Herr Genscher vorhin gesprochen hat, wenn die Friedens- und Entspannungspolitik, wie Sie sie begreifen, unsere Alternative eingerechnet hätte, die wir, Herr Kollege Wehner, am 29. Oktober 1969 dargelegt haben. Sie sprachen vorhin von einer anderen ersten Oppositionsrede. Dies war die erste Oppositionsrede von uns. Da steht unsere Alternative. Ich will - Sie noch einmal mit wenigen Sätzen in Erinnerung rufen.
Auf der Basis der Menschenrechte — so vor zehn Jahren! — auch für alle Deutschen, um deren Anerkennung wir kämpfen, läßt sich über alles reden. Bei Freizügigkeit, bei europäischem Volksgruppenrecht, bei Abbau aller Diskriminierungen nach Herkunft, Stand, Religion und Meinung überall in Europa erscheinen Grenzfragen in einem anderen Licht. Die Bundesregierung wäre gut beraten, allen Ländern Europas den Entwurf einer solchen Charta der Freizügigkeit, des Volksgruppenrechts und der Nichtdiskriminierung vorzulegen.
Eine europäische Sicherheitskonferenz sollte nicht den staatlichen Status quo, sondern die Sicherheit menschenwürdigen Lebens in den Mittelpunkt stellen.
Sie haben das überhört. Das war eine Politik aus der Substanz. Und nun stehen Sie in einer Zerreißprobe zwischen Träumen und geplatzten Erwartungen nach Osten und Realitäten vom Westen.
und sie dürfen für immer weniger immer mehr zahlen. Und Sie empfinden — merken Sie das eigentlich noch — allein die Ankündigung eines Kanzlerbesuchs bei Herrn Honecker als einen Fortschritt, ohne sich um die Substanz dieser Sache zu kümmern.
— Sie schreiten fort, Herr Kollege Wehner — ins Ungewisse.
Vor kurzem noch hat der Bundeskanzler selber das gesagt, was Sie hier jetzt als unter Niveau werten. Er hat gesagt, die Reise habe nur dann einen Sinn und er werde sie nur antreten, wenn dabei etwas herauskomme.
Und er hat doch selber die Herabsetzung des Rentenalters hier als ein Beispiel genannt. Das können Sie doch nicht alles leugnen.
— Regen Sie sich doch nicht auf, Herr Kollege Wehner!
Ich erlaube Ihnen gern — ich mache das ja nun im 23. Jahr mit Ihnen —, daß Sie sich erregen, wenn ich spreche. Es ist Ihnen bisher nicht gelungen, mich aus der Ruhe zu bringen. Das soll weiterhin so bleiben.
Ich gehe über — —
— Natürlich; ja. Vielen Dank für den Zuruf. Ich gehe über zu Problemen hier im Innern. Nach zehn Jahren dieser Koalition, von der ja auch zu reden ist, weisen die Zahlen eine wachsende Zahl von Protestwählern aus. „Mehr Demokratie wagen", so war die Verheißung; mehr Entfernung vom Bürger ist die Wirklichkeit für die Koalitionswähler. Die herumstehenden Reformruinen erinnern an die großen früheren Versprechungen und zementieren heutige Enttäuschungen zu Zukunftsfrustrationen. Die anspruchsvollen Horizonte neuer Erwartungen vor zehn Jahren sind dem Grau eines eher kleinkarierten Koalitionsalltags gewichen. Das Anziehen der Zahl der Protestwähler verantworten Sie. Denn Sie versprachen mehr, als irgend jemand halten kann.
Statt zu halten, ist Ihre Reformrealität zum „Offenhalten" von „Optionen" geworden;
„entartet" würde ich sagen, wenn das Wort früher nicht so mißbraucht worden wäre.
Dabei sind Sie nicht einmal imstande, die beiden wesentlichen und wirklichen Reformen unserer Republik, die den Namen verdienen, zu halten: die Rentenreform und die Soziale Marktwirtschaft. Sie waren und sind nicht imstande, unsere Rentenformel — bruttolohnbezogen — durch eine gute Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik zu finanzieren.
Sie verantworten es, daß die Rentner die Zeche zahlen. Denn die Inflation steigt stärker an als die Erhöhung der Renten.
Die Flexibilität der Sozialen Marktwirtschaft — Ihr Herzstück — geht zunehmend unter in der Wanderdüne von Paragraphen, Behörden usw. Die Koalition beklagt es und bewirkt es zugleich. Aber sie tut nichts, das zu ändern, wie der Herr bayerische Ministerpräsident heute morgen schon vorgetragen hat. Im Gegenteil möchte der Parteivorstand der SPD — es ist sehr interessant, daß Sie das auf dem Parteitag nicht beschlossen haben — wenigstens durch zusätzliche Instrumente in der Wirtschaftspolitik, mit
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vorausschauender Planung und allen möglichen Strukturräten, die Übel durch ein zusätzliches Kontrollinstrumentarium noch vermehren, das Sie wie ein Netz über die freie Entfaltung werfen wollen.
Dabei wissen Sie doch ganz genau, Herr Bundeskanzler, daß das Gift ist. Das sind Ihre eigenen Worte. Bevor Sie Bundeskanzler wurden, gab es eine Studie. Ein Teil davon ist — wie kam das wohl? — in der „Zeit" damals, Mai 1974, veröffentlicht worden. Da sagen Sie — ich zitiere —:
Wirtschaftliche Wunder sind nicht möglich, auch nicht mit neuen „Instrumenten". Von ihnen gleichwohl zu reden erzeugt nur Unsicherheit über die Zielklarheit der regierenden Koalition. Unsicherheit ist Gift.
So der Kanzler vor seinem Start. Ich bin sicher, er hat das nicht vergessen. Aber er hält mit seiner besseren Meinung zurück, nimmt es hin, und dies wider seine Einsicht, wider seine guten Vorsätze.
Der Kanzler klagt — auch davon war die Rede —, er könne die Stromrechnung nicht lesen. Wer soll dann aber das mehr als verdoppelte Bundesgesetzblatt verarbeiten? Da ist -ein Institut in Niedersachsen. Es hat ausgerechnet, daß ein Handwerksbetrieb 187 Dienstleistungen für den Staat macht. Es hat das dann geprüft, empirisch korrekt; das liegt auf dem Tisch. Es kommt zu dem Ergebnis, daß die Kosten, die den meisten Handwerksbetrieben aus unentgeltlichen Dienstleistungen für den Staat entstehen, höher sind als der Bruttogewinn der untersuchten Betriebe. Es kommt zu dem Ergebnis, daß fast keiner der untersuchten Betriebe in der Lage war, die heutigen Steuervorschriften für diese Unternehmen zu kennen, geschweige denn zu beherrschen. Da wird doch Vernunft zu Unsinn und Wohltat Plage. Da wird der Rechtsstaat in einem Wald von Paragraphen erstickt.
Herr Bundeskanzler, Ihr Bundeswohnungsbauminister, der zu meiner Freude dort hinten sitzt, klagte unlängst öffentlich, daß sich der Wohnungsmangel in den Brennpunkten für die 80er Jahre eher verstärken werde. Welch heitere Vorausschau! „Sicher in die 80er Jahre" ...
Er klagte, daß Sozialmieten für Wohnungen trotz staatlicher Förderung mitunter höher als die Mieten der frei finanzierten Wohnungen seien. Welch hervorragender Ausweis für jede Form von Sozialismus!
Er hat geklagt, daß die Rentabilität von Neubauten in weite Ferne gerückt und damit unsicherer geworden sei. Welch hervorragender Beitrag zum Vertrauen jetzt!
Herr Bundeskanzler, das ist Ihr Minister. Was tun Sie ganz konkret, um in diesen hier genannten Fragen Abhilfe zu schaffen? Denn das gehört doch zu Ihren Pflichten.
Früher sprach man viel mehr von Bildung und Ausbildung. Jetzt wollen Sie unter den Teppich kehren, daß es Hamburg war, Ihre Mehrheit dort, die die Gemeinsamkeit der Länder durch einen vorschnellen, übereilten ideologischen Beschluß durcheinandergebracht hat.
Herr Bundeskanzler, Sie stehen doch vor der Pflicht, dem Verfassungsgebot der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse Rechnung zu tragen; dies nicht nur so, weil es in der Verfassung steht, sondern auch, weil es sonst Vollbeschäftigung und Wachstum in unserer modernen Zeit gar nicht geben kann.
Nun laufen Sie Gefahr — Sie gucken dabei zu —, daß Abiturzeugnisse aus dem einen Land beim Nachbarn nicht mehr anerkannt werden, und zwar nicht aus irgendwelchen törichten Gründen, sondern wegen des Leistungsnachweises, den doch ein Abiturzeugnis auch heute und morgen noch darbringen soll.
Herr Bundeskanzler, was tun Sie, um diese Mängel zu beseitigen?
Meine Damen, meine Herren, eine Koalition, die zu Fragen der friedlichen Nutzung der Atomkernenergie mehr Fragen als Antworten produziert, braucht sich nicht zu wundern, wenn sie plötzlich zum Patenonkel des rotgrünen Protestes wird, von Glombig zu Duve — Kommentar überflüssig. Politik duldet eben keine weißen Flecke. Man sagt manchmal, die Revolution fresse ihre Kinder. Ich füge hinzu: Die Entschlußlosigkeit frißt die Entschlußlosen, Herr Kollege Wolfram.
Aber die Zeche zahlen die Unschuldigen und der kleine Mann.
Wie soll denn der Bürger einer politischen Führung vertrauen und folgen und glauben, die gerade in dieser Frage mit der Prinzipienfestigkeit einer Wetterfahne arbeitet, die im Jahre 1973 — Herr Kollege Brandt ist leider nicht da; er war damals der Kanzler, und der Kollege Eppler ist nicht mehr unter uns; er war Mitglied der Bundesregierung — als ihre amtliche Energiepolitik — nachzulesen in der Bundestagsdrucksache 7/1057 — erklärte — und dieses Zitat muß nun hier voll in die Debatte —:
Kernenergie
— so damals die Regierung Brandt —
ist ein in hohem Maße umweltfreundlicher Energieträger,
der überdies den Vorzug hat, vom Standpunkt des Angebots von Primärenergieträgern besonders versorgungssicher zu sein. Die Elektrizitätserzeugung in Kraftwerken mit Leichtwasserreaktoren ist heute gegenüber konventionellen Kraftwerken im Grundlastbereich bereits kostengünstiger. Die Bundesregierung hält des-
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halb die optimale Nutzung der Kernenergie für die Sicherung der langfristigen Energieversorgung für notwendig und energiepolitisch für dringend erforderlich. Berücksichtigt man,
— immer noch die Regierung Brandt —
daß spätestens ab 1980 Erdgas und Braunkohle ihre Kapazitäten im Elektrizitätsbereich nicht mehr erweitern können und daß Mineralöl und Steinkohle nur für den Einsatz im Mittellastbereich in Betracht kommen, so wird deutlich, wie dringlich die Bundesrepublik auf einen schnellen Ausbau von Kernkraftkapazitäten angewiesen ist.
Die Bundesregierung ist deshalb der Auffassung, daß die Kernkraftkapazität so zügig wie möglich ausgebaut werden muß.
Sehen Sie, Herr Kollege Wehner, das wurde dann amtlich zweimal fortgeschrieben. Und dann kommen Sie her und sagen, wir dürften doch nicht Regierungserklärungen als Papier in den Papierkorb werfen. Wer hat das denn getan? Doch nicht wir, sondern Sie.
Herr Bundeskanzler, das war eine politische Führung, die in diesen Papieren amtlich erklärte, und zwar klipp und klar: Wir brauchen diese Energie, a) um den künftigen Bedarf zu decken und b) um wirtschaftlich, sozial und politisch unabhängiger zu sein. Der letztere Gesichtspunkt, derjenige der Unabhängigkeit, ist der Koalition abhanden gekommen.
Man spricht nur noch von „Restbedarf und will „Optionen" offenhalten. Von Unabhängiger-Werden ist — bei wachsender Bedrohung und Gefahr von Erpressung — nun nicht mehr die Rede. Das nenne ich Schlichtweg eine unverantwortliche Kapitulation wider die bessere Einsicht.
Wir sind hier weitgehend einig mit der Position des Deutschen Gewerkschaftsbundes.
Ich frage, Herr Kollege Wehner, und ich klage, Herr Kollege Wolfram — und jetzt kommt ein harter Satz —:
Sind Sie lieber abhängig von den Khomeinis heute und denen, die da morgen kommen, als vom Sachverstand und der Leistung deutscher Ingenieure, deutscher Techniker, deutscher Arbeiter und deutscher Wertarbeit?
Im Volksmund sagt man, der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Herr Kollege Wehner,
ich glaube, der Weg in Dunkelheit und Kälte aus Energie- und Stromgründen ist hier gepflastert mit dem, was Sie „Optionen" und was manche andere „Strategien" zu nennen sich angewöhnt haben.
So wie mancher vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht, so sehen manche nicht mehr den Weg und die Entscheidung, um die es hier geht. Hier müssen doch Entscheidungen getroffen werden; sie müssen schrittweise verwirklicht werden; das ist doch Regieren. Politik heißt doch nicht nur Fragen stellen und in Frage stellen.
Politik heißt doch, Antworten wissen. Herr Kollege Wehner, die wissen Sie; aber Antworten wagen und Antworten verantworten, da zittern Sie.
Da zittern Sie, weil Sie selbst — der Kreis schließt sich — durch Ihre Unentschlossenheit den Protest der rot-grünen Protestwähler erzeugt haben.
„Politique c'est choisir", so sagt man in Frankreich, also entscheiden durch Auswählen. Das andere, das Offenhalten von Optionen, degradiert Politik, das Vor-sich-Herschieben fälliger Entscheidungen, das Ausweichen vor dem Unbequemen, der opportunistische Kniefall vor der lautstarken Minorität —
das ist, verehrte Damen und Herren der Koalition, der Weg in die Unregierbarkeit moderner Staaten und Städte.
Herr Bundeskanzler, ich kenne Sie mit Ja und mit Nein. Ich kenne Ihre Einlassungen auf dem Parteitag, in denen Sie um klare Beschlüsse baten. Ich sage: Nicht Ihr Amt, nicht Ihre Neigung und Ihre Person, auch nicht Ihr Partner, aber Ihre eigene Partei hat Sie zum Meister des entschiedenen Vielleicht gemacht. Das ist eine besonders höfliche Wertung des Energiebeschlusses Ihres Parteitags. Das mag reichen zum parteipolitischen Überwintern; zum Gestalten und zur politisch verantwortlichen Führung in die 80er Jahre langt das nicht.
Die Menschen tragen ihre Ängste und Fragezeichen und Sorgen mit sich herum; das spüren wir alle. Sie suchen nach Wegweisern. Verzeihen Sie, Herr Bundskanzler: Welchen Weg weisen Sie, der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, aus der berechtigten Sorge unserer Mitbürger, daß es 1983, 1984, 1985 hier dunkel oder kalt werden könnte? Welchen Weg weisen Sie konkret? Sie wollen herangehen mit der Kohle. Wie wollen Sie das ma-
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chen? Haben wir genug heimische Kohle? Wie sind dann die Umweltprobleme zu beantworten?
-- Ich sehe schon, daß der Kollege Lambsdorff hier ein bißchen skeptisch guckt zu dem, was Sie hier vorhaben.
Deshalb will ich Sie auch folgendes fragen: Wir freuen uns alle, daß Sie öffentlich zum Sieger Ihres Parteitags ernannt worden sind; das ist doch ganz prima. Nur darf ich Sie ganz bescheiden fragen: Sieger eigentlich wozu? Wozu in der Energiefrage? Zum Vielleicht? Zum „Offenhalten" für „Optionen"?
Das, meine Damen, meine Herren, ist eigentlich gar nichts. Wenn ich mir den Beschluß anucke, von dem der Kollege Roth sagte, bevor dieser Beschluß gefaßt wurde, er bedeute praktisch den Stopp für die Atomenergie, von dem der Vorstandskollege Koschnick beteuert, eben dieser Beschluß erlaube eigentlich den behutsamen Ausbau, dann frage ich mich: Was ist denn nun eigentlich beschlossen, ja und nein zugleich, ein Vielleicht?
— Ich lese Ihnen das gleich vor, Herr Kollege Ehmke, weil es ein ungeheures Vergnügen ist, das zu lesen.
Sie baten Ihren Parteitag — Herr Kollege Ehmke, schnell, wie er ist, ahnt natürlich, daß ich jetzt das Zitat bringe — um einen eindeutigen, nicht um einen „schwammigen" Beschluß. Den haben Sie — ich zitiere das — mühsam bekommen: „Der Hamburger Parteitag hat beschlossen, daß die Option für Kernenergie — —
— Ich lese den Beschluß, der unter Ihrem Vorsitz in dem Entwurf zustande gekommen ist, Herr Kollege Ehmke.
— Herr Kollege Ehmke Sie kennen offensichtlich Ihre eigenen Papiere nicht.
— Aber Berlin verweist doch auf Hamburg unter Ihrer Federführung. Haben Sie das schon vergessen?
Ich zitiere noch einmal: „Der Hamburger Parteitag hat beschlossen, daß die Option für Kernenergie offengehalten und die Option, künftig auf Kernenergie verzichten zu können, geöffnet werden soll."
„Die SPD steht vor der Schwierigkeit, ihre Politik an diesen zwei gleichberechtigten Optionen zu orientieren." Das war ein Wegweiser zugleich in zwei Richtungen, Herr Ehmke: Wie hättet ihr es denn gern? — Halb zog es ihn, halb sank er hin!
Wenn in einer Lebensfrage die Menschen wissen möchten, wie es denn weitergehen soll, dann heißt es: Abwarten und Tee trinken.
Wann wollen Sie das denn entscheiden? Wenn es dunkel wird, wenn es kalt wird?
Ich fahre in dem Zitat fort — das sind Ihre Worte, Herr Kollege Ehmke —:
Gegenwärtig ist im Hinblick auf die Versorgungslage ein grundsätzlicher Verzicht auf die Verwendung von Kernenergie und im Hinblick auf die noch offenen Sicherheits- und Entsorgungsprobleme ein forcierter Neubau von Kernkraftwerken nicht zu vertreten.
Beim derzeitigen Stand der Diskussion ist die Zeit für definitive Entscheidungen für oder gegen die weitere Nutzung von Kernenergie nicht reif.
Der demokratische Diskussions- und Entscheidungsprozeß über die Nutzung der Kernenergie ist 1979 weder abgeschlossen noch abzuschließen.
Und damit, Herr Bundeskanzler, wollen Sie leben?
Da weiß doch jeder, woran er ist: Er ist in einem ungewissen Dazwischen und da hinein soll nun jemand seine Arbeit, seinen Geist und sein Geld investieren? Da sollen unsere besten Leute aus dem Ausland wieder zu uns kommen, um hier zu arbeiten und nicht draußen? Um hier für unsere Zukunft das Bestmögliche zu machen? Auf diese Ungewißheit, die es doch gibt, Herr Bundeskanzler, kann man doch Zukunft nicht gründen.