Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe nicht die Absicht, die Reflexionen über den Parteitag der Sozialdemokraten fortzusetzen. Da ist eine Menge beschlossen worden, was anders ist als das, was wir wollen. Das macht die Zusammenarbeit unterscheidbarer Parteien möglich. Es ist nichts beschlossen worden, was diese Zusammenarbeit behindern könnte.
Aber ich denke, daß der Herr Kollege Strauß bei der Behandlung dieses sozialdemokratischen Parteitags die Sozialdemokraten eigentlich in einer ungewöhnlich netten, gar nicht erwarteten Form behandelt hat. Er hat in einer längeren Rede die „verfehlte" Politik der Bundesregierung dargestellt, aber die Verantwortung der Sozialdemokraten für diese verfehlte Politik mit 40 bis 50 % — wenn ich das richtig sehe — eingestuft. Wir haben da schon 70 bis 80 % zu tragen, und die Union 100 %.
Ich glaube, daß heute die Möglichkeit für Herrn Kollegen Strauß gegeben gewesen wäre, zu einer Reihe von wichtigen Fragen Stellung zu nehmen. Es bestand z. B. die Chance, die um ihr Steuerpaket ringende Regierungskoalition mit den Vorschlägen der Union für die künftige Steuerpolitik zu überraschen. Es bestand auch die Chance, die Vorstellungen der Unionsparteien für die künftige Sicherung der Rentenfinanzen, und zwar mittel- und langfristig, darzulegen. Ich lese gelegentlich in Zeitungen, wenn Kollegen der Union draußen gesprochen haben, die Freien Demokraten wollten die Renten beschneiden
und von den Renten etwas wegnehmen.
Nein, wir haben den Mut gehabt, der Offentlichkeit und den Rentnern mit einem fundierten Konzept zu sagen, wie wir mittel- und langfristig eine stetige Steigerung der Renten sicherstellen wollen.
Ich denke, es wird höchste Zeit, daß alle Seiten des Hohen Hauses der Rentnergeneration von heute und auch der Rentnergeneration von morgen sagen, wie sie ein stetiges Wachstum der Renten, und zwar mindestens in der Höhe, in der die verfügbaren Arbeitseinkommen steigen, garantieren wollen. Die Rentner von heute sind die Aufbaugeneration nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie haben einen Anspruch darauf, daß vor der Bundestagswahl
alle Parteien sagen, wie sie in Zukunft diese Renten finanzieren wollen.
Ich möchte zu dem innenpolitischen Teil der Ausführungen des Herrn Kollegen Strauß nur auf einen Bereich eingehen, den er aufgenommen hat, nämlich die Frage der Schulpolitik. Ich habe den Eindruck, daß in diesem Land zuviel über Schulformen diskutiert wird und zuwenig über Lehrinhalte, kinderfreundliche Schulen, nahe Schulwege.
— Da brauchen Sie nicht zu lachen. Was wird in den von Ihnen geführten Ländern im Augenblick an Unsicherheit
15072 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 11. Dezember 1979
Bundesminister Genscher
in Eltern und Kinder hineingetragen,
indem Sie bestreiten wollen, daß über 1981 hinaus Gesamtschulabschlüsse in allen Bundesländern anerkannt werden!
Wissen Sie, was das erzeugt? Das erzeugt Staatsverdrossenheit in heranwachsenden Menschen,
die im Vertrauen darauf, daß sie eine staatlich anerkannte Schule besuchen, jetzt plötzlich zweifeln müssen, ob ihr Abschluß noch im ganzen Bundesgebiet anerkannt wird.
Wir treten dafür ein, daß in unserem Lande ein pluralistisches Bildungssystem vorhanden ist.
Wir treten dafür ein, daß das herkömmliche gegliederte Schulwesen gleichberechtigt mit den Gesamtschulen konkurrieren kann.
Ich bitte Sie, mit uns sicherzustellen, daß der Elternwille entscheidet und nicht linke und rechte Bildungsideologen, welche Schule Kinder zu besuchen haben.
— Sofort, Herr Kollege Haase. — Hier müssen wir verständlich machen, daß es Aufgabe der Schulträger ist, die Verwirklichung des Elternwillens möglich zu machen und nicht mit gesetzlichen, administrativen oder finanziellen Maßnahmen seine Durchführung zu behindern.
Ich bitte Sie, einmal zu überlegen, ob es wirklich richtig ist, daß noch immer Hundertausende von Gesamtschülern und ihre Eltern im Zweifel darüber sein müssen, ob die Abschlüsse nach 1981 anerkannt werden. Kann das nicht auch dazu führen, daß Eltern, die eigentlich ihre Kinder zur Gesamtschule schicken möchten, aus Unsicherheit sagen: Na, dann schicken wir sie doch dorthin!? — Mir geht es um nichts anderes, als daran zu appellieren, daß zu Beginn des kommenden Jahres Klarheit zwischen den Bundesländern geschaffen werden kann, damit die Abschlüsse auch der Gesamtschulen anerkannt werden, damit wir in allen Bundesländern zu einer gleichberechtigten Konkurrenz zwischen gegliedertem Schulsystem, dem herkömmlichen Schulsystem, und den Gesamtschulen kommen. Nur so können wir den Grundsatz der Pluralität behaupten, und nur so können wir den Elternwillen, der doch allein entscheidend sein muß, verwirklichen.
Das können wir nicht, wenn die eine oder die andere Schulform diskriminiert wird.