Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kollegen der CDU und der CSU im Innerdeutschen Ausschuß und die Fraktion der CDU/ CSU haben einen Antrag zum Thema Sicherheit der Transitreisenden gestellt. Ein solches Thema zur Diskussion zu stellen und darüber vor der Offentlichkeit zu sprechen, ist legitim und im Augenblick vielleicht sogar sehr angebracht, damit etwaige Verunsicherungen beseitigt werden können. Niemand sollte sich verunsichern lassen. Es besteht kein Grund zur Besorgnis.
Deshalb begrüße ich die heutige Kurzaussprache. Ich erlaube mir den Hinweis, daß der Auslöser der Fall Jablonski war. Ich gehe etwas darauf ein. Staatssekretär Höhmann hat uns am 17. Januar 1979 im Innerdeutschen Ausschuß einen aktuellen Bericht gegeben. Damals lag das Ereignis der Festnahme am 18. Dezember 1978 nur kurz zurück. In der Offentlichkeit herrschte weithin der Glaube vor, ein Unschuldiger bzw. jemand, der für seine Tat schon einmal gebüßt hat, wäre auf der Transitstrecke nach Berlin innerhalb der DDR widerrechtlich festgenommen worden. Am 20. Juni 1979 hatten sich die Wogen noch nicht geglättet. Das ist der Tag, an dem Staatssekretär Dr. Kreutzmann uns einen weiteren Bericht gegeben hatte. Damals war die Verurteilung des Günter Jablonski wenige Tage alt!
13984 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 177. Sitzung. — Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Ludewig
Ich bringe hier, damit jeder versteht, wovon wir reden, noch einmal die Fakten: Er war 1962 als Angehöriger der Nationalen Volksarmee in der DDR auf Streife. Er hat seinen Streifenführer erschossen und ist in die Bundesrepublik Deutschland geflüchtet. Am 14. Dezember 1962 hat ihn das Jugendgericht Schweinfurt zu neun Jahren Jugendstrafe verurteilt; er war 18 Jahre und vier Monate alt. Er hat sechs Jahre davon abgesessen. 1974 hat er dann die Bundesregierung gefragt, ob er in die DDR fahren oder durch die DDR fahren könnte. Das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen hat ihm gesagt, ein Besuch in der DDR und die Benutzung der Transitstrecke durch die DDR nach West-Berlin seien ihm nicht zu empfehlen.
— Ich will Sie ja nicht widerlegen, Herr Dr. HennIg, ich will bei dieser Gelegenheit vor der Öffentlich nur einmal die Fakten ausbreiten. Ich meine, es käme dann praktisch klar zum Ausdruck, daß wir uns möglicherweise über Dinge aufregen, die der Aufregung nicht wert sind. — Auch Freunde und Bekannte in Leipzig, vom Schwiegervater gefragt, hatten abgeraten. Trotzdem hat der Betroffene seine Reise am 18. Dezember angetreten. Er wollte nach West-Berlin fahren; er ist verhaftet worden. Am 7. Juni hat der Prozeß vor dem Militärobergericht in Berlin stattgefunden. Die Anklage lautete: vorsätzliche Tötung und Fahnenflucht. Die Verhandlung war nicht öffentlich, die Urteilsverkündung dagegen war öffentlich. Das Urteil vom 12. Juni 1979 lautet auf „lebenslänglich" . Für die Urteilsbegründung wurde die Öffentlichkeit wieder ausgeschlossen; ich habe die nächsten Zeilen deshalb auch gestrichen.
Die Kernfrage für uns lautet natürlich: Hätte der Betroffene festgenommen werden dürfen oder nicht? „Wie ist die Rechtslage?", fragt sich auch der juristische Laie. Wir sind beim Ausdeuten dieser und jener Äußerung aus den Verhandlungen. Für mich hat es sich gelohnt, daß ich das Protokoll vom 20. Juni noch einmal ausführlich und genau nachgelesen habe. Ganz zweifellos hat die Verhaftung des Günter Jablonski auch bundesrepublikanische Stellen zur Überprüfung sämtlicher bis dahin getroffener Vereinbarungen und Protokolle veranlaßt. Das kann uns ja gemeinsam beruhigen, Herr Dr. Hennig. Das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen hat am 29. Januar eine zweimal erwähnte Pressemitteilung herausgegeben, nach der alle DDR-Bewohner, die nach dem 31. Dezember 1971 geflüchtet sind,
von den Behörden der DDR unter Umständen festgenommen werden könnten.
Die Opposition sieht darin einen Widerspruch zur Aussage von Herrn Bahr, den sie mit dem Ausspruch zitiert hat:
Selbst ein Bankräuber, der in die Bundesrepublik Deutschland geflüchtet ist, könnte auf den Transitwegen nicht festgenommen werden, sondern er könnte höchstens zurückgewiesen und der Polizei gemeldet werden.
Die Deutsche Demokratische Republik hat ihren Standpunkt folgendermaßen dargelegt: Erstens. Der Schutz vor Festnahmen auf den Transitstrecken könne sich nicht auf ihre eigenen Staatsbürger beziehen — Staatsbürgerschaftsgesetz der DDR vom 20. Februar 1967. Im Zusammenhang mit dem Verkehrsvertrag wurde am 16. Oktober 1972 ein neues Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsbürgerschaft erlassen. Diesem Gesetz zufolge werden alle Flüchtlinge, die vor dem 1. Januar 1972 die Deutsche Demokratische Republik verlassen haben, aus der DDR-Staatsbürgerschaft entlassen. Faktum ist, daß bei Abschluß des Transitabkommens dieses Gesetz in der DDR noch nicht in Kraft getreten war. Nach DDR-Auffassung zur Zeit der Verhandlungen über das Transitabkommen waren alle Flüchtlinge noch Bürger der DDR, und sie sollten keinen Schutz genießen. Es handelte sich zu dieser Zeit um zirka 2,5 Millionen Personen.
Das war für die Bundesregierung unannehmbar. Die Bundesregierung hat es durchgesetzt, daß auch Flüchtlinge die Transitwege benutzen können, es sei denn, sie hätten schwere Straftaten begangen, und zwar erstens gegen das Leben, zweitens gegen die Gesundheit eines Menschen oder drittens gegen das Eigentum. Festgelegt wurde, daß die dafür vorgesehene Maßnahme die Zurückweisung und nicht die Festnahme sein sollte.
Wenn man zusammenfaßt: Wer vor dem 31. Dezember 1971 aus der DDR geflüchtet ist, hat wegen dieser Flucht keine Strafe zu erwarten. Darunter fallen nicht die Personen, die nach dem 31. 12. 1971 geflüchtet sind.
Die DDR wollte noch eine Ausnahme machen, nämlich dann, wenn es sich um geflüchtete Militärpersonen handelt. Die DDR steht auf dem Standpunkt, diese Ausnahme müsse in jedem Fall gelten ohne Bezug auf den Stichtag und eben dann, wenn es sich um Soldaten handelt. So weit die andere Seite. Auch heute noch werden ehemalige Angehörige der Nationalen Volksarmee vor der Einreise bzw. vor der Benutzung der Transitwege gewarnt. Dieses geschieht bei jedem, der bei den bei uns zuständigen Stellen als solcher bekannt wird. Wer wegen eines präzisen Reisetermins anfragt oder sich überhaupt meldet, bekommt nicht nur ein Merkblatt geschickt, sondern er wird individuell beraten. Es wird möglicherweise zurückgefragt, es werden möglicherweise Erkundigungen eingezogen. Dieses ist die Praxis. So sieht die Wirklichkeit aus.
Nun zurück zum Ausgangspunkt, zu Ihrem Antrag. Sie fordern die Veröffentlichung von vertraulichen Absprachen. So steht es kurz gefaßt darin.
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 177. Sitzung. — Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13985
Ludewig
Natürlich, sehr geehrte Herren Kollegen, werden wir — das wird einleuchtend sein und wohl nicht weiter darzulegen sein — die Bundesregierung nicht auffordern, die Offentlichkeit umfassend über Geheimabsprachen, wie Sie es genannt haben, aufzuklären, nicht in dieser Sache und auch in keiner anderen Sache. Denn vertrauliche Verabredungen werden ja wohl nach meinem Verständnis getroffen, damit über den Gegenstand der Absprache nur ein ausgewählter Personenkreis Bescheid weiß. Geheimhaltung oder, sagen wir, Vertraulichkeit und Aufklärung sind gewöhnlich ja wohl Gegensätze. Man brauchte keine Aufklärung, wenn es überhaupt keine Vertraulichkeit und keine Geheimhaltung gäbe. Aufklärung richtet sich immer auf von der anderen Stelle vertraulich gehaltene Kenntnisse. Man brauchte die Vertraulichkeit nicht, wenn alles öffentlich gemacht werden könnte. Sie erwekken mit Ihrem Antrag wieder einmal den Eindruck, die Bundesregierung habe etwas zu verbergen.
Der Antrag soll suggerieren, wir würden in ungenügendem Ausmaß unsere Interessen wahrnehmen. Das soll heißen, diese Regierung tut zu wenig für die Bürger.
Dies, meine lieben Kollegen, ist falsch. Sie werden verstehen, daß es auch nicht angebracht ist, vertrauliche Absprachen jetzt öffentlich zu machen, zumal da die Erfüllung des Wunsches, daß betroffene Personen vor einem Risiko geschützt werden, durch die Praxis der bundesdeutschen Behörden gewährleistet ist.
Zu Ihrer zweiten Frage nach Veränderungen gegenüber dem Stand vor Abschluß des Transitabkommens. Da kann man schon von sehr vielen Veränderungen sprechen, nämlich von einer ungeahnten Zunahme des Reiseverkehrs, sehr geehrter Herr Dr. Hennig, von einer Zunahme. des Reiseverkehrs in die DDR und von einer Zunahme des Transitverkehrs durch die DDR nach West-Berlin. 110 Millionen Transitreisende seit 3. Juni 1972. Das sind beachtliche Zahlen. Ich will das nicht oft wiederholen. Aber ich denke immer noch oft an die Kerzen in den Fenstern. Das war unsere letzte große Maßnahme zu Zeiten, als diese Abkommen noch nicht abgeschlossen waren. Das ist eine gute Veränderung. Danach können Sie oft fragen. Dann bekommen Sie als Antwort oft den Hinweis auf die Leistungen, die diese Regierung mit dieser Koalition erbracht hat.
Sie fordern drittens von der Bundesregierung, daß sie gegenüber der DDR mit allem Nachdruck durchsetzt, daß Zurückweisungen nur im Rahmen der Tatbestände des Art. 16 des Transitabkommens erfolgen dürfen. In unserer Ausschußsitzung ist meines Erachtens hinreichend klargeworden, daß die Praxis der DDR-Organe dem entspricht, was Sie unter Ihrer dritten Forderung, vierter Spiegelstrich, erwähnen, daß nämlich keine Festnahme von Personen erfolgen darf, denen Taten vorgeworfen werden, die nach den Gesetzen der DDR zwar strafbar sind, aber nicht im Zusammenhang mit der Benutzung der Transitwege stehen. Allenfalls können solche Personen von der Benutzung der Transitwege ausgeschlossen, also zurückgewiesen werden. Zusätzlich kann auch den Behörden der Bundesrepublik, also z. B. der Polizei, Mitteilung gemacht werden.
Aber, wie schon gesagt, das Zusammentreffen von zwei gravierenden Tatbeständen, Fahnenflucht und Mord, hat in diesem einen von Ihnen erwähnten und von uns im Ausschuß ausführlich behandelten Fall zur Verhaftung geführt. Trotzdem bin ich überzeugt, daß die Bundesregierung sich auch für den am 18. Dezember 1978 Festgenommenen und am 12. Juni 1979 zu lebenslänglicher Haft Verurteilten einsetzt und hoffentlich auch seine vorzeitige Freilassung erreichen wird.
Sie, meine Kollegen von der Opposition, und wir, wir alle in diesem Hause wissen, wie schwierig solche Verhandlungen sind. Insofern sehen wir keinen Grund, daß die Bundesregierung zu besonderer Eile aufgefordert werden müßte. Wir hoffen, daß wir Sie bei der weiteren Ausschußberatung von diesem unserem Standpunkt überzeugen können.