Rede von
Waldemar
Schulze
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Man könnte eigentlich versucht sein, auf das einzugehen, was Herr Kollege Hennig hier gesagt hat, nur möchte ich ungern in den schlechten Stil, den er uns vorgemacht hat, verfallen.
Insofern will ich mich auf das Sachliche begrenzen. Wir können ja dann im Ausschuß noch eine ganze Menge dazu sagen. Ich möchte nur noch eines vorweg bemerken: Das, was Sie mit dem Kollegen Bahr gemacht haben, indem Sie das Wort Delinquent und ähnliches gebrauchten, halte ich wirklich ernsthaft für einen schlechten Stil.
Vielleicht können wir so etwas demnächst heraus lassen.
Der Ältestenrat, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat für diesen Antrag eine Behandlung vorgesehen, die eine nähere inhaltliche Erörterung jetzt im Plenum für meine Begriffe nicht zuläßt.
Daran will ich mich selbstverständlich halten. Dies war die Vereinbarung, Herr Kollege, nämlich die Redezeit so festzulegen.
Es geht mir jetzt .nur darum, etwaige Mißverständnisse — Herr Kollege Hennig hat sie, so meine ich, schon angedeutet — oder Unsicherheiten gar nicht erst aufkommen zu lassen. Insbesondere bei den Transitreisen könnte der Eindruck bestehen, daß dies alles nur noch unsicher ist. Ich sage: vom Antrag her könnte der Eindruck entstehen. Ich habe immer noch die Hoffnung, daß es von Ihnen nicht so gemeint war.
Wer sich beim Stichwort „Sicherheit der Transitreisen" beunruhigt oder jedenfalls unbehaglich fühlt, dem möchte ich gerne folgendes vor Augen führen: Der Antrag, um den es hier geht, ist unter dem Eindruck der Festnahme des Transitreisenden Jablonski am 18. Dezember 1978 eingebracht worden. Es stimmt auch, daß der Antrag schon sehr lange hier liegt. Aber dies war nicht unsere Entscheidung, sondern eine Entscheidung des Ältestenrätes.
In der Zwischenzeit haben wir über die näheren Umstände dieses bedauerlichen Falles erfahren: Herr Jablonski ist 1962 als Soldat der DDR geflüchtet und hat bei seiner Flucht
einen Kameraden hinterrücks erschossen und ist deswegen in der Bundesrepublik wegen Mordes rechtskräftig verurteilt worden. Außerdem hat ihn das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen vor Reisen in die DDR oder durch die DDR schriftlich gewarnt. Warum Herr Jablonski unter diesen Umständen doch die Landwege nach Berlin benutzt hat und sogar nach Ost-Berlin weiter wollte, ist allen, die damit befaßt sind, bis heute unerfindlich.
Immerhin zeigen diese Einzelheiten, wie extrem dieser Fall gelagert ist und daß aus ihm keine generellen Schlüsse gezogen werden können. Das ist das eine.
Zum anderen gilt — dies will ich auch noch einmal deutlich machen —: Das Viermächteabkommen und das Transitabkommen gewährleistet nicht nur einen reibungslosen Ablauf des Transitverkehrs von und nach Berlin, sondern sie bieten dem einzelnen Reisenden auch einen sicheren Schutz. vor unvorhersehbaren Festnahmen. Die geringe Bedeutung — ich sage geringe Bedeutung, weiß aber
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 177. Sitzung. — Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13983
Schulze
trotzdem, was Festnahme wirklich heißt —, die den Festnahmen in der Praxis des Alltags zukommt, wird am besten aus folgenden Zahlen deutlich: Vom Inkrafttreten des Viermächteabkommens und des Transitabkommens an, also vom 3. Juni 1972 an, bis zum 31. August 1979 haben Reisende die Transitwege von und nach Berlin insgesamt etwa 110 Millionen Mal in beiden Richtungen benutzt. Während dieser gut sieben Jahre wurden insgesamt 983 Personen durch DDR-Organe festgenommen, von denen bis heute 763 entlassen wurden. Festgenommen werden darf ein Reisender gemäß Artikel 16 des Transitabkommens nur im Fall des Mißbrauchs der Transitwege. Die DDR hat hierbei für sich jedoch betont, das könne in dieser Absolutheit nicht für geflüchtete Militärpersonen gelten. Ferner hat die DDR nach dem Inkrafttreten des Transitabkommens erklärt, der genannte Grundsatz gelte nicht für solche Flüchtlinge, die die DDR nach dem 31. Dezember 1971 verlassen hätten.
Trotz dieser Erklärung der DDR gibt es eine verläßliche und eingeführte Praxis, die die Bundesregierung befähigt, auch bei den genannten Personengruppen konkrete Ratschläge hinsichtlich der Benutzung der Transitwege von und nach Berlin zu erteilen. Dies geschieht fortlaufend.
Ferner: Über beide Probleme ist die Öffentlichkeit informiert. Das vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen herausgegebene und in großer Auflage verbreitete blaue Merkblatt, das hier schon zitiert worden ist, empfiehlt den Angehörigen dieser beiden Personengruppen ausdrücklich, vor Antritt der Reise einen Rat des genannten Bundesministeriums oder des Innensenators von Berlin einzuholen.
Über die Gründe, die zu den Ausnahmeregelungen geführt haben, hat die Bundesregierung den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen mehrere Male umfassend unterrichtet, letztmals am 20. Juli 1979 durch den Parlamentarischen Staatssekretär Kreutzmann. Auch über den Fall Jablonski ist im Ausschuß gesprochen worden.
Wer heute die damalige Verhandlungsführung kritisieren will, sollte sich vor Augen halten, daß sowohl das Viermächteabkommen als auch das Transitabkommen nach der Natur der Sache nur ein Kompromiß zwischen den Maximalforderungen beider Seiten sein konnten.
— Herr Bahr hat es nicht anders erzählt. Das können Sie nachlesen, Herr Kollege Jäger.
Die Sowjetunion und die DDR einerseits sowie die drei Westmächte und die Bundesrepublik andererseits sind Staaten mit derart unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen, daß die Auffassungen über einen freien Reiseverkehr beim besten Willen nicht auf einen Nenner gebracht werden können.
Ein letztes, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Vor diesem Hintergrund muß der Umstand gesehen werden, daß die DDR solche Personen nicht gern durch ihr Territorium fahren sieht, die sie selber als ihre eigenen Staatsbürger betrachtet
oder die als ihre Soldaten desertiert sind. Für den letzten Punkt wird man sogar Verständnis aufbringen können.
Denn nach meiner Einschätzung duldet es kein Staat der Welt, daß seine desertierten Soldaten durch das eigene Territorium fahren und dabei eventuell sogar Schutz vor Festnahme genießen.
Der Ältestenrat hat vorgeschlagen, den Entschließungsantrag dem Innerdeutschen Ausschuß zu überweisen. Ich stimme diesem Vorschlag namens meiner Fraktion ausdrücklich zu, weil ich glaube, daß wir dort sehr ernsthaft und vielleicht ohne sehr viele Emotionen darüber reden können.