Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte einleitend nichts über Präsenz sagen, obgleich es mir nach drei Jahren immer noch schwerfällt, mich daran zu gewöhnen. Ich werde mich auch nicht daran gewöhnen; haben Sie keine Sorge. Was mich aber stört und war mir mißfällt, ist, daß der eigentliche Delinquent noch nicht da ist, daß es nämlich der Kollege Egon Bahr, der genau weiß, was heute hier verhandelt wird, und der manche Dinge als einziger aufklären könnte, dennoch nicht für nötig hält, heute hier zu erscheinen.
— Ja, auch der Kollege Wehner ist da und wird ihn gebührend vertreten.
Wir haben ja schon oft darüber gesprochen, daß es eine amateurhafte Verhandlungsweise war, gewisse Dinge unter vier Augen zu besprechen, so daß es andere Augenzeugen über diesen Sachverhalt nicht gibt.
Nun ist die Frage: Wer hat dort recht, Egon Bahr mit dem, was er damals als Staatssekretär im Bundeskanzleramt erklärte, oder die Bundesregierung, die heute etwas anderes erklärt? Das ist der eigentliche Hintergrund unseres Antrags.
Dieser Antrag zum Thema Sicherheit der Transitreisenden ist von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion übrigens bereits am 14. Februar 1979 eingebracht worden. Er berührt ein empfindliches Gebiet. Ich weiß dies, und ich werde das bei dem, was ich hier sage, berücksichtigen. Andererseits berührt er aber Dinge, die für die Bundesregierung und insbesondere für den damaligen Verhandler, nämlich Egon Bahr, von höchster Peinlichkeit sind. Davon muß hier gesprochen werden; denn es besteht der schwere und von mir zu erhärtende Verdacht, daß der Staatssekretär im Bundeskanzleramt das Parlament bewußt getäuscht hat.
Die Alternative dazu ist, daß die Bundesregierung seit 1971 eine gravierende Einschränkung des Transitabkommens mit der DDR hingenommen hat, ohne das gebührend zu kritisieren und auch öffentlich sichtbar zu machen, daß dort etwas passiert ist. Sie haben höchstens eine dritte Möglichkeit,
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 177. Sitzung. — Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13981
Dr. Hennig
daß nämlich beide Alternativen stimmen könnten. Das mag wohl auch sein.
Worum geht es im Kern? Das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen hat mit Datum vom 29. Januar 1979, also Anfang dieses Jahres, eine offizielle Pressemitteilung herausgegeben, in der es heißt, daß DDR-Bewohner, die nach dem 31. Dezember 1971 geflüchtet sind, bei einer beabsichtigten Benutzung der Transitwege von und nach Berlin unter Umständen von den Behörden der DDR festgenommen werden können. In einer Sendung des ZDF, und zwar genau gesagt in „Kennzeichen D" vom 25. Januar, sei „irrtümlich" — so Herr Franke in der Mitteilung aus seinem Hause — behauptet worden, diese Personen könnten lediglich zurückgewiesen werden. „Irrtümlich", meine Damen und Herren!
Im Dezember 1971 hat Egon Bahr als verantwortlicher Verhandlungsführer und Staatssekretär im Kanzleramt dem Parlament das Gegenteil versichert — und deswegen dieser unser Antrag! Er hat ausdrücklich gesagt, die DDR habe sich darauf festgelegt, daß diejenigen, die die DDR verlassen hätten, die Transitstrecken benutzen könnten. Es sei in einer für die DDR verbindlichen Art geklärt, daß diese Personen nicht einmal zurückgewiesen, geschweige denn festgenommen würden. Das betreffe rund 2,5 Millionen Menschen — so hat er uns damals im Brustton der Überzeugung verkündet. Das Schlimme ist: Er hat damals hinzugefügt, es sei eine besondere Schwierigkeit in den Verhandlungen gewesen, dies nicht nur im Prinzip zu erreichen; die DDR habe vielmehr zunächst darauf aufmerksam gemacht, dies könne nur mit dem Datum der Unterschrift unter das Abkommen fixiert werden, also per Ende 1971, da man die Bestimmung ohne ein fixiertes Datum als eine indirekte Anregung zur Flucht ansehen könnte, da niemand von der Benutzung der Transitwege ausgeschlossen werde. In einer besonderen Anstrengung — so hat er uns erzählt, hat er dem Parlament weisgemacht — sei die Fixierung auf das Datum herausgebracht worden, so daß die vorliegende Regelung unbegrenzt sei.
Egon Bahr hat dies sogar noch einmal bekräftigt und hat gesagt, daß selbst in dem Fall, daß jemand in der DDR einen Bankraub begehe, in die Bundesrepublik flüchte und nach einiger Zeit wieder die Transitwege benutzen wolle, der Betreffende dann nicht festgenommen werden könne, sondern zurückgewiesen und allerdings der westdeutschen Polizei gemeldet werde. So wörtlich Egon Bahr — und das ist nun alles offensichtlich nicht mehr wahr. Nun wollen wir wissen: Was stimmt? Alle diese Fragen sind bis ins letzte Detail 1971 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR abschließend geregelt worden — so hat man uns gesagt. Sie sind Teil des Transitabkommens und damit, wie die drei wesentlichen Botschafter nach Paraphierung der Dokumente erklärt haben, Teil der zweiten Stufe der insgesamt dreistufigen Berlin-Regelung von 1971/72. Ihre befriedigende Beantwortung war Vorbedingung für die Unterzeichnung des Viermächte-Schlußprotokolls. Da gehört das mit hinein.
Der Schutz der Transitreisenden vor unbegründeten Zwangsmaßnahmen ist von der Bundesregierung in diesem schönen Buch „Die Berlin-Regelung", in das man immer wieder einmal hineinschauen sollte, auf Seite 301 als die „Magna Charta des Transitreisenden" bezeichnet worden. Diese Magna Charta wird nun willkürlich verletzt, und die Bundesregierung protestiert nicht nur nicht dagegen, sondern sie weist die darüber korrekt berichtenden Journalisten zurecht. Dies ist ja nicht das erste Mal, daß wir etwas Derartiges erleben.
Meine Damen und Herren, es führt kein Weg an der Feststellung vorbei, daß Egon Bahr und mit ihm die gesamte Bundesregierung durch diese Vorgänge schwer belastet worden sind.
Die Kernfrage ist: Was ist denn mit den Flüchtlingen, die die DDR nach dem 31. Dezember 1971 verlassen haben? Dürfen sie die Transitwege benutzen oder nicht?
Wenn sich diese Flüchtlinge an das Innerdeutsche Ministerium oder an den Innensenator in Berlin wenden, bekommen sie Auskünfte, die nicht sonderlich klar sind. Dazu gibt es ein Merkblatt der Bundesregierung, das auf Anforderung verschickt und verteilt wird, in dem es heißt, daß das ungenehmigte Verlassen der DDR mit Strafe bedroht sei und unter Umständen noch nachträglich zur Festnahme führen könne. — Hört! Hört! kann ich nur sagen; das haben wir damals anders gehört.
In diesem Merkblatt heißt es weiter, daß Personen, die bis zum 31. Dezember 1971 die DDR ohne Genehmigung der dortigen Behörden verlassen haben, hiervon nicht betroffen sind.
Wir fragen und wollen dies im Ausschuß, der das dann zu beraten haben wird, gern einmal von Egon Bahr persönlich hören: Was ist mit denen, die danach geflüchtet sind und mit denen er sich damals gebrüstet hat? Das sind ja schließlich Tausende.
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es kommt ein Punkt hinzu, der diese Sache besonders heikel macht. Ich sprach davon, daß sich Geflüchtete an die Behörden hier oder in Berlin wenden .und Auskünfte bekommen, die nicht sonderlich klar sind. Im Zweifel wird ihnen abgeraten, die Transitwege zu benutzen. Ein solcher Flüchtling — er hat mich ausdrücklich ermächtigt, das hier vorzutragen — hat einen Deutschlandexperten aus der SPD-Bundestagsfraktion angeschrieben und ihn gefragt, was er in dieser Situation machen soll.
— Das ist der Kollege Dübber. Sie werden nicht bestreiten, daß er einiges von diesem Thema versteht. Um so bedenklicher ist die Antwort, die dieser Mann bekommen hat. Der Kollege Dübber schrieb:
13982 Deutscher Bundestag 8. Wahlperiode — 177. Sitzung. — Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Dr. Hennig
Die Antworten, die Sie von den verschiedenen Stellen bisher in Ihrer Angelegenheit erhalten haben, lassen sich schwerlich beanstanden, denn sie entsprechen der geltenden Rechtslage.
— Daß man also nicht fahren dürfe, heißt das.
Ich kann Ihre Situation persönlich verstehen. Ich habe mich Anfang der 50er Jahre in einer vergleichbaren Situation befunden.
Es handelt sich um einen Studenten in Berlin. Das ist der ernste Hintergrund dieser Sache. Der Kollege Dübber fügt dann noch hinzu, daß dem Fragesteller finanziell leider nicht geholfen werden könne. Er darf also nicht fliegen und müßte eigentlich die Transitwege benutzen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich Ihnen zum Schluß vor Augen führen, was der letzte Satz des Kollegen Dübber letzten Endes bedeutet, den er diesem Mann schrieb, einem im Jahre 1975 geflüchteten, der dabei nichts verbrochen hat, der nicht aus der Nationalen Volksarmee desertiert ist, also niemand, der unter diese speziellen Dinge fallen könnte, ein ganz normaler Flüchtling. Er erhält die Antwort:
Wenn Sie dies alles bedenken, müßten Sie vielleicht der Überzeugung nähertreten, ob nicht die Wahl des Studienplatzes Ihre Situation verändern könnte.
Das heißt doch wohl, in schlichtes Deutsch übersetzt: Solche Leute, die aus der DDR geflüchtet sind, sollten in Berlin nicht mehr studieren, sollten dort gar nicht mehr hingehen, weil sie das nicht ohne Gefährdung auf den Transitwegen tun können. Dies ist ein sehr ernster Punkt, meine Damen und Herren, der von einem Ihrer führenden Experten auf diesem Gebiet geltend gemacht wird. Darüber wird im Ausschuß bei den Beratungen über diesen unseren Antrag intensiv zu reden sein.