Rede von
Albrecht
Hasinger
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Frau Präsidentin! Meine bamen und Herren! Die Psychiatrie-Enquete widmet verhältnismäßig breiten Raum dem Thema Psychotherapie und Psychosomatik. Die zentrale Aussage in diesem Zusammenhang lautet, daß gegenwärtig das psychotherapeutische Angebot bei weitem nicht ausreiche, entsprechende Erkrankungen zu behandeln. Nach den Feststellungen der Enquete gelangt — so wörtlich — „nur ein sehr beschränkter Teil der entsprechenden Kranken in eine fachgerechte Behandlung". Die Enquete nennt dafür drei Tatbestände, die ursächlich sind: Einmal das zu geringe Angebot an Psychotherapeuten, vor allem auch im ländlichen Raum. Dann traditionelle Vorurteile bei den Kranken selbst und einen oftmals mangelnden Informationsstand, der diese Behinderten davon abhält, fachliche Hilfe zu suchen. Besonders bedeutsam erscheint mir aber folgende Feststellung der Enquete: „Eine einseitige Gesundheitsaufklärung der Bevölkerung und vor allem auch eine einseitige Schulung der Ärzte über einen langen Zeitraum haben bewirkt, daß unser Gesundheitssystem viele eigentlich seelisch Kranke in un-
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 177. Sitzung. — Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13967
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angemessener Weise auf die Angebote der Körpermedizin hin umdirigiert." So die Feststellung der Enquete.
Lassen Sie mich, bevor ich auf konkrete Maßnahmen zu sprechen komme, dazu noch einige allgemeine Bemerkungen machen. Wir können mit einem gewissen Stolz darauf zurückblicken, daß die Tiefenpsychologie und die Anfänge der Psychotherapie — ich meine etwa die Psychoanalyse und das wichtige autogene Training — im deutschen Sprachraum entwickelt worden sind. Es gehört auf der anderen Seite — darauf haben. verschiedene Redner heute schon hingewiesen — zu den dunklen Kapiteln unserer Geschichte, ,daß diese Entwicklung in den Jahren 1933 bis 1945 gehemmt und teilweise abgebrochen worden ist. Wo Rassenideologie und ein sogenanntes gesundes Volksempfinden am Werk waren, war natürlich für die Lehren der Psychoanalyse wenig Raum.
Erfreulicherweise sind diese Lücken nach 1945 verhältnismäßig rasch durch die Gründung von Instituten in freier Initiative gefüllt worden. Seitdem haben wir eine zusätzliche Entwicklung zu verzeichnen. Neuere Schulen, wie etwa die Verhaltenstherapie, die Gesprächstherapie, die Gestalt- und Familientherapie, haben sich vor allem in den Vereinigten Staaten herausgebildet und auch bei uns Eingang gefunden. Den Laien hat dabei oft der Streit der Schulen untereinander verwirrt. Wenn nicht alles täuscht — wir als CDU haben dazu ein intensives Sachverständigenhearing abgehalten —, gehen hier jedoch die Meinungen aufeinander zu, wenigstens insoweit, als man gegenseitig andere Methoden gelten läßt, wenn es auch nicht zu einer Synthese der verschiedenen Schulen kommt. Vieles wird heute im Bereich der Tiefenpsychologie und der Psychotherapie als gesichert gelten können, und wir werden auch gesundheitspolitisch von diesem Grundbestand gesicherter Erkenntnisse ausgehen können.
Ich halte es im übrigen für eine positive Erscheinung, daß wir der bloßen Betrachtungsweise des Menschen als eines physisch-rationalen Wesens die weitere Dimension Psyche hinzufügen. Ich habe auch gar keine Sorge, statt „Psyche" das alte und gute Wort „Seele" zu benutzen. Die seelisch-emotionale Seite des Menschen ist sicherlich seit der Aufklärung und dem Siegeszug der Naturwissenschaften zu kurz gekommen. Jede Neuanbahnung von Zugängen zu dieser Seite unseres Seins sollte uns willkommen sein.
Wenn heute viele junge Menschen den Wunsch haben, Psychologie zu studieren, so liegt der Grund hierfür wohl darin, daß sie eine bloße naturwissenschaftlich-technische Beschreibung unseres Menschseins für unzureichend halten und eine umfassendere Antwort auf die Frage nach dem eigenen Selbst suchen.
Diese ganze Entwicklung hat sich nun im Bereich der psychotherapeutischen Versorgung nur wenig widergespiegelt. Zwar gibt es gute und vernünftige Entwicklungen. Dazu gehört beispielsweise die erstaunliche Offnung der ärztlich-psychiatrischen Einstellung gegenüber psychotherapeutischen Methoden. Die lange Zeit geradezu klassische Verachtung der Psychoanalyse und anderer psychotherapeutischer Methoden durch die Psychiatrie ist heute eben nicht mehr typisch. Viele Psychiater und andere Ärzte haben eine psychotherapeutische Weiterbildung absolviert. An den Landeskrankenhäusern und anderen Fachkrankenhäusern sind in erheblicher Zahl Psychologen tätig.
Anders steht es jedoch mit der ambulanten Versorgung. Sie kann nach den Bestimmungen der Reichsversicherungsordnung nur durch Ärzte oder deren Gehilfen erfolgen. Ich will an dieser Stelle der gesetzlichen Krankenversicherung und auch der privaten Krankenversicherung ein Wort des Dankes sagen, daß sie. mit dem sogenannten Delegationsverfahren dennoch einen Weg gefunden haben, um wenigstens in einem beschränkten Umfang Psychotherapeuten in unser Leistungssystem der Sozialversicherung einzubeziehen. Dennoch ist das Delegationsverfahren heute überholt.
Es ist der Tätigkeit eines Psychotherapeuten auch nicht angemessen, wenn er sich nach dem Heilpraktikergesetz richten muß.
Die Zeit für eine gesetzliche Regelung der mit der Tätigkeit des Psychotherapeuten zusammenhängenden Fragen erscheint reif. Der dazu vom Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit vorgelegte Referentenentwurf war freilich so unzulänglich, daß er die Dinge weniger gefördert als verwirrt hat. Ich will mich nicht mit einer Kritik dieses nicht kritikfähigen Papiers aufhalten, sondern meinerseits einige grundsätzliche Gesichtspunkte für eine gesetzliche Neuregelung, die sicherlich in der kommenden Legislaturperiode in Angriff genommen werden kann, nennen.
Erstens. Es muß sich um eine Gesamtlösung handeln. Deshalb ist ein Teilentwurf, der lediglich die Berufszulassung regelt, abzulehnen. Kein Gesetzgeber kann es sich leisten, Voraussetzungen für die Berufszulassung zu bestimmen, dann aber die Frage offenzulassen, wer die entsprechenden Leistungen eigentlich bezahlen soll.
Zweitens. Deshalb muß der Gesetzentwurf von gesicherten Zahlen über Bestand und Bedarf an Psychotherapeuten ausgehen und die auf die Versicherungen zukommenden Kosten quantifizieren. Ich empfinde es in diesem Zusammenhang als unerträglichen Mißstand, daß die vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit zu diesem Thema immerhin aus Steuermitteln in Auftrag gegebene Studie des Max-Planck-Instituts in München zwar unterderhand weitergereicht, aber den Abgeordneten des Deutschen Bundestages vorenthalten wird.
Drittens. Sicher wird es zum Sinn eines kommenden Psychotherapeuten-Gesetzes gehören, unwissenschaftliche Scharlatanerie unmöglich zu ma-
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chen; denn die Gefahren unsachgemäßer psychotherapeutischer Behandlung sind genauso groß wie die einer unqualifizierten medizinischen Behandlung. Deshalb wird zu überlegen sein, ob das Gesetz einen Katalog geschützter, vorbehaltener Tätigkeiten enthalten soll. Freilich ergeben sich dadurch schwierige Abgrenzungsfragen. Wo liegt etwa die Grenze zwischen Behandlung und Beratung? Auch die Grenzen zwischen seelsorgerischer Tätigkeit und Psychotherapie — das Wort „Psychotherapie" bedeutet ja nichts anderes als Seelenbehandlung — sind fließend. Es darf durch ein kommendes Gesetz — das möchte ich hier sehr deutlich sagen — nicht zu einer Behinderung der vorhandenen Ehe- und Familienberatungsstellen, insbesondere im kirchlichen Raum, kommen, meine Damen und Herren.
Ein Viertes. Schwierige Abgrenzungsfragen wirft in diesem Zusammenhang auch der Krankheitsbegriff auf. Keinesfalls wird uns dabei der außerordentlich weit gefaßte Gesundheitsbegriff der Weltgesundheitsorganisation weiterhelfen. Ich möchte in diesem Zusammenhang hinzufügen, daß dieser Begriff der WHO überhaupt wenig nützlich gewesen ist. Nicht jede Verstimmung, jede Lebensproblematik ist eine behandlungsbedürftige Krankheit. Wir dürfen die Verantwortung ides einzelnen zur Lösung seiner Probleme nicht von ihm auf die Gesellschaft verschieben.
Ein Fünftes. Eine vertrauensvolle Kooperation zwischen Arzt und nichtärztlichem Psychotherapeut muß gewährleistet sein. Es geht hier nicht um Prestige- und Standesgesichtspunkte, sondern um gesundheitspolitische Fragen. Niemandem wird eine Perle aus der Krone fallen, wenn sein Patient vorher ärztlich untersucht wird.
Sechstens. Gründlicher Prüfung wird die Frage bedürfen, welche Vorbildung und welche Ausbildung von einem Psychotherapeuten zu verlangen ist. Um zu verhindern, daß in diesen Beruf Personen drängen, die über ihre eigenen Probleme keine Klarheit haben, wird die von Anfang an entwickelte Methode der Lehranalyse oder überwachter Eigenerfahrung zur strikten Voraussetzung zu machen sein. Im übrigen wird der Gesetzgeber sich nicht zum Richter über die wissenschaftliche Haltbarkeit oder Nichthaltbarkeit von wissenschaftlichen Schulen aufwerfen können. Neue Entwicklungen müssen offenbleiben. Die bisher in der Bundesrepublik Deutschland meist aus Privatinitiative arbeitenden Institute und anderen Einrichtungen, die im wesentlichen den internationalen Standard der deutschen Psychotherapie ausmachen, dürfen durch eine neue Gesetzgebung nicht wegrationalisiert werden. Dies gilt um so mehr, als ein auf Behandlung ausgerichteter akademischer Studiengang erst im Werden begriffen ist.
Siebtens. Die Behandlung von Kindern weist gegenüber der von Erwachsenen erhebliche methodische Unterschiede auf. Im ärztlichen Bereich hat
dazu mein Kollege Dr. Reimers heute vormittag schon Stellung genommen. Bei Kindern kommt eben pädagogischen, spielerischen Methoden größeres Gewicht zu. Deshalb wird zu prüfen sein, in welchem Umfang die bisher bewährte Ausbildung von Kinder- und Jugendpsychotherapeuten, die auf einem Studium der Pädagogik, Sozialpädagogik oder Sozialarbeit aufbaut, beizubehalten ist.
Ein letztes. Die Überlegungen des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit werden auch dort kritisch zu überprüfen sein, wo sie allzu einseitig auf den alleinbehandelnden niedergelassenen Psychotherapeuten abstellen. Viele Erfahrungen deuten darauf hin, daß ein dauerhafter Heilungserfolg am ehesten von einem Team zu erzielen ist. Dabei geht allerdings nun die PsychiatrieEnquete in der anderen Richtung zu einseitig vor, indem sie vorwiegend von Psychotherapeutischen Diensten spricht. Nach meiner Auffassung wird es neben derartigen Diensten, die in Einrichtungen angeboten werden, auch weiterhin niedergelassene Psychotherapeuten geben müssen.
Ich möchte damit dieses Thema abschließen. Noch einige wenige Bemerkungen möchte ich am Schluß dieser Debatte hinzufügen. Wir können alle miteinander folgendes feststellen: Diese Debatte war dadurch gekennzeichnet, daß es über die Probleme über die Parteigrenzen hinweg keinen Streit gibt. Wir alle miteinander, ob wir nun auf dieser oder jener Seite oder in der Mitte des Hauses sitzen, sind der Meinung, daß im Bereich der psychischen und psychiatrischen Versorgung — bei allen Fortschritten, die wir zu verzeichnen haben — noch große Lücken bestehen. Ich möchte für meine Fraktion die Mitarbeit in einem vollkommen offenen und bedingungslosen Sinne anbieten.
Ein weiteres Fazit dieser Debatte wird sein, daß wir zu Fortschritten auf diesem Gebiet nicht im Alleingang des Bundes kommen konnen, sondern daß es nur in einer Kooperation mit den Ländern geht. Dazu will ich sagen, daß wir als Unions-Abgeordnete bereit sind, mit denjenigen Ländern, die CDU/ CSU-regiert sind, zu sprechen, um zu einer Kooperation zwischen Bund und Ländern zu kommen.
Ein weiteres in diesem Zusammenhang. Eine der schwierigsten Fragen wird sein, wie wir die Probleme, die heute angesprochen worden sind, im Sozialversicherungsrecht regeln. Deswegen müssen sich diesem Problem nicht nur die Gesundheitspolitiker öffnen, sondern auch — jetzt sage ich es einmal so, was immer man darunter verstehen mag — die Sozialpolitiker im klassischen Sinne.
Wir werden es mit dieser Debatte im Plenum nicht bewenden lassen können. Da möchte ich mich ganz dem anschließen, was mein Vorredner gesagt hat. Wir werden die Dinge vor allem im federführenden Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit weitertreiben müssen. Hinter den Vorschlag, der ebenfalls gemacht worden ist, die Professoren, die die Enquete mit erarbeitet haben, erneut zu hö-
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ren, möchte ich ein Fragezeichen setzen. Ich meine, die Sammlung der Forschungsergebnisse ist abgeschlossen. Worauf es ankommt, ist, daß diese Forschungsergebnisse jetzt in die Praxis umgesetzt werden, und zwar unverzüglich.
Eine letzte Bemerkung sei mir gestattet: Ich glaube, es gibt vielleicht nur wenige Gebiete, auf denen der Bundestag selbst als Parlament mit seiner Arbeit einen so starken Akzent gesetzt hat wie auf diesem. Schließlich ist es eine parlamentarische Initiative gewesen, die die Enquete-Kommission ins Leben gerufen hat, und ich glaube, daß wir heute noch nicht so weit wären, geschweige denn die Mittel zur Verfügung hätten, wenn nicht seinerzeit diese parlamentarische Initiative von unserem Kollegen Picard ausgegangen wäre.
Damit die Dinge nicht einseitig verteilt sind, möchte ich hinzufügen, daß diese Initiative in der Zwischenzeit in der Aktion „psychisch Kranke" eine Fortsetzung gefunden hat, an der sich Parlamentarier aller Fraktionen tragend und führend beteiligen. Sie können darauf vertrauen, daß wir als Parlamentarier die Bundesregierung auch in Zukunft kritisch und unterstützend begleiten werden und daß wir die langen Zeiträume, die den Weg dieser Enquete kennzeichnen, in Zukunft nicht mehr zulassen werden.