— Herr Kollege Schäfer, genau dies ist das Problem. In Italien ist teilweise eine Familienstruktur, die von der in der Bundesrepublik Deutschland verschieden ist. Dort sind noch sehr viel größere Familien und ein größerer Familienverband vorhanden, während sich bei uns die Familie durch die industrielle Revolution sehr viel stärker zur Kleinfamilie verändert hat. Der Blick auf die internationale Entwicklung, übrigens auch in England oder Holland oder in den skandinavischen Ländern, mag uns allerdings helfen, unsere eigenen Probleme schärfer als bisher zu sehen.
Das sollte uns vielleicht ermutigen — viele haben heute von dem Mut gesprochen, den wir brauchen —, unser Handeln anzuspornen. Ich finde, es wäre besser, wir würden über dieses Problem nicht nur miteinander reden. Wir müßten vielmehr darangehen, neben dem, was die Bundesregierung zu Recht und, wie ich finde, hervorragend an diesem Modellprogramm vorantreiben will, dies in all den politischen Bereichen gemeinsam abzustützen, in denen wir Verantwortung gemeinsam tragen können.
Was können wir tun?
Erstens: Sinnvolle Änderung kann von radikalem Umdenken erwartet werden. Vieles davon ist heute schon von vielen gesagt worden. Lassen Sie mich einige Fragen an uns — nicht nur an uns als Politiker — und auch an die Gesellschaft stellen: Kann es nicht sein, daß die Vergötzung des Leistungsprinzips sensible Menschen krank machen kann, daß am schnellsten vorankommt, wer am brutalsten seine Ellbogen gebraucht? Kann es nicht sein, daß die Zerlegung von Produktionsvorgängen und ihre zunehmende Kompliziertheit zur Atomisierung der Persönlichkeit des arbeitenden Menschen führen können, der immer mehr solchen Zwängen der Veränderung von Produktionsprozessen ausgeliefert ist? Oder: Welche Folgen hat es für eine Familie, wenn Kinder ihre Eltern fragen und die Eltern diese Fragen nur noch zum Teil beantworten können oder sie vielleicht gar abwehren, weil sie gleichzeitig fernsehen wollen? Oder: Was sagt der ältere Arbeitnehmer, der im Lauf seines Arbeitslebens krank geworden ist — „gesundheitlich eingeschränkt", wie man in der Sprache der Sozialpolitiker sagt —,
13966 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 177. Sitzung. — Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Weisskirchen
wenn ihm durch die Kündigung eröffnet wird, daß er nicht mehr gebraucht wird, weil eine EDV-Anlage da ist, die ihn abschafft? Sind nicht solche Prozesse, die in der Gesellschaft ja zunehmen und nicht abnehmen, Auslöser, Ursache, Verstärkung von psychischen Krankheiten? Ist nicht vielleicht der psychisch Kranke stellvertretend für uns krank, weil er auf diese Probleme mit Krankheit, mit anderem Verhalten reagiert?
Das sind schmerzhafte Fragen— das gebe ich zu—, aber ich glaube, die Wirklichkeit dieser Menschen ist noch weitaus schmerzhafter als die Fragen, die man dazu stellen kann. Zu dieser Wirklichkeit gehören z. B. auch — der Herr Vorredner hat vorhin davon gesprochen — die Vergötzung ewiger Schönheit, die Vergötzung ewiger Jugend und — gleichzeitig als Antwort darauf, als die Kehrseite der Medaille — das Abschieben der Alten in Heime, in Fabriken. Da sind sie abgeschirmt. Wir bezahlen dafür, tun einiges und entlasten unser Gewissen damit. Das sind, glaube ich, alles Chimären einer Entwicklung unserer westlichen Zivilisation, vielleicht der Zivilisation überhaupt. Das sind Chimären der Hollywood-Plastikwelt, die unsere Fähigkeit zum Mitleiden zuschütten. Von dieser Gaukelei des falschen Scheins, finde ich, müssen wir uns lösen, damit wir so, nach diesem Sich-Lösen, für solidarisches Handeln für diese Menschen frei werden.
Zweitens. Psychiatrisches Elend, das oftmals in sozialen Verhältnissen gegründet ist, darf durch Institutionalisierung nicht länger unsichtbar gemacht werden. In den letzten Jahren haben viele Hunderte von Pflegern und Therapeuten, von Ärzten und Sozialarbeitern durch ihre Praxis beweisen können, daß auch bei uns Patienten — auch solchen, die man heute noch als chronisch Kranke bezeichnen würde — erfolgreich geholfen werden kann. Ich bin sehr dankbar für den Hinweis auf das Aktionsprogramm für die Behinderten. Ich finde auch, wir sollten uns — wenn ich das an dieser Stelle sagen darf — überlegen, ob wir dies bei der nächsten Fortschreibung nicht ausweiten und gemeinsam mit dem Arbeitsminister — das ist eine Bitte an ihn — ein solches Aktionsprogramm formulieren können.
Bund, Länder und Gemeinden haben mit dazu beigetragen, daß die psychisch Kranken außerhalb von Anstalten leben können, wenn es für sie ambulante Dienste, beschützte Wohngruppen und beschützte Arbeitsplätze gibt. Deshalb begrüße ich es ganz ausdrücklich, daß die Bundesregierung zusätzliche Finanzmittel für die neuen Modelle in der Psychiatrie bereitstellt. Damit ist ein neuer Anfang zur Verwirklichung der Enquete-Empfehlungen möglich. An diesen neuen Anfang knüpfe ich einige Hoffnungen, aber auch, wenn Sie gestatten, einige Forderungen. Nur komplementäre und ambulante Dienste sollten gefördert werden; großstationäre Einrichtungen haben wir mehr als genug. Gelder für den Bau von Kliniken sollten nicht ausgegeben werden. Durch psychosoziale Arbeitsgemeinschaften sollten alle in der Region Arbeitenden zusammengeführt werden, die — alle für sich selber — Teil der. sektorierten Versorgung sind.
Alle Projekte sollten durch die intensive Fort- und Weiterbildung der Mitarbeiter begleitet werden. Die Therapiekette muß Vor- und Nachsorge sowie — Sie haben es angesprochen — Rehabilitation neben ambulanter und stationärer Versorgung aufweisen, am besten gewährleistet durch begleitendes Personal.
Lassen Sie mich zum Schluß noch eines sagen: Ich hoffe sehr, daß dieses neue Programm, das wir jetzt durch die Hilfe der Bundesregierung voranbringen können, für uns der Anlaß sein möge, die gesamte Psychiatrie-Debatte wieder neu zu beginnen, neu zu begründen und einen neuen Anfang zu setzen. Sprechen wir mit den Bürgerinnen und Bürgern darüber, wo diese Modellprojekte durchgeführt und wie sie gestaltet werden! Überlassen wir es bitte nicht nur den Ministerien, wie sie aussehen! Machen wir das zu unserer eigenen Sache! Was soll denn das Prinzip der Gemeindenähe — lassen Sie mich das hier beispielhaft sagen —
— ich komme zum Schluß —, wenn die Gemeinden Modellprojekte einfach nur übergestülpt bekommen, wenn sie nicht selber die Chance haben, die Basisaktivitäten, die es gibt — Selbsthilfegruppen, sozialpsychiatrische Vereine und ähnliches —, in diese Modellprojekte von unten herauf mit einzubeziehen? All diese Aktivitäten müssen in diesen gesamten Reformprozeß mit einbezogen werden, in einen- Reformprozeß, den wir neu begründen müssen. Bisher war der psychisch Kranke das Symbol unserer Ängste. Dieser Kreislauf muß durchbrochen werden. Dieser Kreislauf kann durchbrochen werden. Wir brauchen nur etwas Mut dazu. Der Verlauf unserer Debatte berechtigt dazu.