Rede von
Antje
Huber
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(SPD)
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Krankheit ist seit je eines der großen Themen der Menschheit gewesen, und mit Nachdruck sind immer neue Mittel und Wege gesucht worden — auch irrationale —, um Leid, Ängste, Existenzbedrohungen abzuwenden oder doch zu mildern. Wissenschaft und Praxis haben auch heute noch eine Fülle solcher Aufgaben zu erfüllen, wie uns Stichworte sagen wie z. B. Krebs, Herz-KreislaufErkrankungen, Zuckerkrankheit, Rheuma, um nur einige wenige zu nennen.
Forschungsergebnisse, neue erfolgreiche Untersuchungs- und Operationsmethoden, bessere Medikamente signalisieren aber auch Erfolge. Mehr Menschen als je zuvor können sich eine Heilungschance, Linderung ihrer Leiden erhoffen. Früher weit verbreitete Seuchen sind ausgestorben. Eine neue Entwicklung wird sicherstellen, daß neben der weit verbreiteten Technik nunmehr auch die notwendige Humanisierung bei der Behandlung nicht zu kurz kommt.
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 177. Sitzung. — Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13953
Bundesminister Frau Huber
Diese in langer Zeit entwickelte im großen und ganzen positive Bilanz gilt nicht für die psychischen Erkrankungen und für die Geisteskrankheiten. Die Geschichte der Psychiatrie ist von Unwissenheit, Angst, Vorurteilen und Hilflosigkeit bestimmt, von historischen Prozessen wie der Säkularisation, der Aufklärung geprägt, und — wie uns allen deutlich in Erinnerung — mit Exzessen wie in der jüngsten Vergangenheit beladen.
Der Ausgliederung der geistig Kranken, ihrer Isolierung in leerstehenden Seuchenhäusern nach dem Rückgang von Lepra und Pest im Mittelalter folgte im 17. Jahrhundert die gemeinsame Unterbringung mit Kriminellen, Bettlern, Landstreichern, Dirnen, aber auch mit politisch Unbequemen und Auffälligen, die man abschieben wollte. Diese Abstempelung als Randgruppe der Gesellschaft ist ebenso Teil dieser traurigen Geschichte wie die Gründung von Tollhäusern und Asylen, die man damals schon als Fortschritt betrachtete, weil man hier Geisteskranke von Strafgefangenen trennte. Die Anstaltsgründungen des 19. Jahrhunderts schlossen sich an, und sie haben sich bis in die Gegenwart erhalten, und das alles als Folge einer tragischen Verkennung von Krankheit und von den richtigen Ansätzen, sie zu behandeln und zu heilen.
Es war ein weiter Weg von der „Verwahrpsychiatrie" mit dem Einsperren der Irren über deren gezielte Isolierung bis hin zur modernen Behandlungspsychiatrie mit „offener Tür". Fortwirkende gesellschaftliche Vorteile, Mangel an geeigneten Einrichtungen und Fachkräften behinderten eine zeitgemäße Behandlung aber auch dann noch in unserem Lande, als unser Erkenntnisstand über die alten Methoden schon längst hinausgewachsen war.
So kam es, daß der Deutsche Bundestag im Sommer 1971 beschloß, eine Enquete über die Lage der Psychiatrie erstellen zu lassen. An ihr haben 140 Experten über vier Jahre lang mitgewirkt. Sie haben uns nicht nur die Situation beschrieben, sondern sie haben uns vor allem auch dargelegt, nach welchen Prinzipien und in welcher Weise eine moderne Versorgung aufgebaut werden sollte. Mit der Erarbeitung der Enquete kam zweifelsohne Bewegung in einen Gesundheitssektor, der über das tägliche Leben und über das Schicksal von 600 000 Menschen entscheidet.
In allen Ländern ist inzwischen mit der Modernisierung der Krankenhäuser begonnen worden, die starke Zimmerbelegung wurde abgebaut, neue Behandlungsformen wurden gesucht und praktiziert, und die durchschnittliche Verweildauer — das ist sicherlich eine interessante Zahl — ist in den letzten sieben Jahren, in den Jahren 1970 bis 1977 also, von 296 auf 190 Tage reduziert worden.
Wenn trotzdem eine große deutsche Wochenzeitung im vergangenen Jahr ihren Bericht über die Lage der Psychiatrie überschrieb „Die Gesellschaft der harten Herzen", so wird daraus zweierlei deutlich: einmal, daß wir hier trotz aller Bemühungen noch Nachholbedarf haben und eine humane, moderne Versorgung ihrer vollen Verwirklichung noch harrt, und zum anderen, daß das Schicksal
der kranken Menschen zweifelsohne nicht allein von den Einrichtungen abhängt, sondern auch von der Bereitwilligkeit der Mitmenschen, auch der Familien, Hilfestellung zu leisten und sich lösbaren Problemen nicht durch Abschieben zu entziehen.
Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme zur Psychiatrie-Enquete ausdrücklich betont, daß es ein wichtiges Ziel ihrer Politik ist, immer noch bestehende Diskriminierungen der psychisch Kranken und Behinderten gegenüber den körperlich Kranken zu beseitigen. Das heißt, daß es hier einer großen Überzeugungsarbeit bedarf, damit schließlich alle einsehen, daß auch die psychische Krankheit eine Krankheit ist, die jeden treffen kann, die behandelbar und heilbar ist und nicht den Anspruch eines Menschen aufhebt, auch als Patient wie ein Mensch behandelt zu werden und alle möglichen Hilfen und Chancen zu erhalten.
Wir haben heute mehr Grund denn je, uns um diese Gruppe kranker Mitmenschen zu kümmern. Es kann ja nicht ausgeschlossen werden und ist eher wahrscheinlich, daß wir selbst durch die Lebensbedingungen, die wir geschaffen haben, Ursachen verstärkt oder ausgelöst haben, auf denen die psychischen Krankheiten beruhen. Das bedeutet, daß wir bei der Suche nach den eigentlichen krankmachenden Faktoren tiefer schürfen müssen, als dies heute vielfach geschieht.
Solche Faktoren sind zum Beispiel bestimmte unmenschliche Wohnformen, die Entfremdung in einer hochtechnisierten Arbeitswelt, die Verstädterung, die Zerstörung der Umwelt und die Aufhebung wichtiger sozialer Gruppen wie Nachbarschaft oder Großfamilie. Zu diesen Ursachen gehören auch Umstände, die die lebendige Kommunikation im engeren, im engsten Lebensbereich, also in Familie und Nachbarschaft, stören oder zum Erliegen bringen. Hier entsteht Einsamkeit und Verlassenheit. Hier entstehen auch Altenprobleme in der Psychiatrie, um die man sich kümmern muß.
Aus amerikanischen Untersuchungen wissen wir auch, welche verheerenden Wirkungen zum Beispiel wahlloser und hemmungsloser Fernsehkonsum auf Kinder, aber auch auf die Familie als Ganzes hat. Herr Abgeordneter Reimers hat vorhin auch über ein deutsches Modellvorhaben gesprochen, nämlich den Großversuch in Essen, der die Kinder betrifft. Wir haben diese Ergebnisse sehr genau beobachtet und stimmen, was die Aussagen über die Familie betrifft, voll mit ihm überein.
Die Bundesregierung hat sich in ihrer Stellungnahme hinter das Konzept der Sachverständigen gestellt, die gemeindenahe, nicht diskriminierende, bedarfsgerechte, umfassende und gut koordinierte Versorgung empfohlen haben. Sie hat auf der Grundlage des Zwischenberichts der Sachverständigenkommission in zwölf Modellvorhaben in sieben Ländern wichtige Fragen der Versorgung, der Finanzierung, der Kooperation, der Organisation
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Bundesminister Frau Huber
bis hin zur möglichen Selbsthilfe auf Umsetzungsmöglichkeiten für die Praxis abgeklopft.
Herr Picard, Sie haben gesagt, die Ergebnisse seien nicht alle gut gewesen. Die Ergebnisse sind unterschiedlich gewesen; dies geben wir durchaus zu. Aber was zeigt uns das? Es zeigt uns, wie groß dieses Neuland ist, das wir hier betreten, und wie wichtig es ist, daß wir solche Erfahrungen sammeln.
Unsere Modelle haben dazu beigetragen, daß wir nunmehr im Zusammenwirken mit den Ländern die Reform als Ganzes in Angriff nehmen können. Die Psychiatrie in unserem Lande — darüber sind wir uns wohl alle einig — muß humaner werden, und dies ist eine Forderung an uns alle,
nicht nur an die Ärzte, an die Psychotherapeuten, an Bauträger und Heimpersonal, sondern auch an uns. Die Bundesregierung sagt deutlich, daß sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten dazu beitragen will.
Nun ist — auch hier heute morgen — die Stellungnahme der Bundesregierung zur Psychiatrie-Enquete kritisiert worden, und zwar in zweierlei Hinsicht: erstens, weil sie zu lange habe auf sich warten lassen, und zweitens, weil sie in bezug auf die Sache eher zurückhaltend und nicht engagiert genug gewesen sei. Meine Damen und Herren, die Vorlage konnte nicht früher erfolgen; denn der Auftrag des Deutschen Bundestages lautete, daß die Bundesregierung ihre Stellungnahme zusammen mit den Stellungnahmen der Länder und der Verbände abgeben sollte. Dieser Prozeß hat ohne unser Verschulden sehr lange gedauert. Die gemeinsamen Stellungnahmen waren aber sinnvoll und auch erforderlich, weil hier eine Enquete über ein Aufgabenfeld erstellt worden ist, das nicht in die Zuständigkeit des Bundes fällt. Unbeschadet der Tatsache, Herr Picard, daß auch die Bundesregierung an einer modernen und möglichst bundeseinheitlich gleich guten Versorgung interessiert ist, müssen wir doch auch — und das ist unsere Pflicht — darauf aufmerksam machen, daß sich die Forderungen der Enquete in erster Linie an die Länder richten, weil diese Aufgabe eben in ihren Verantwortungsbereich fällt. Die Verfassung gibt uns eine Einnahmen- und Aufgabenteilung vor, die auch bei erkanntermaßen notwendigen Reformen nicht dazu führen kann, daß alle Aufgaben in den Bereich des Bundes wachsen.
Die Bundesregierung hat deshalb zur Enquete nicht halbherzig Stellung genommen, sondern ehrlich. Ihre Stellungnahme — die ja nicht bloß als pauschale Anmerkung, sondern sorgfältig auf die Probleme eingehend konzipiert ist — mag dort ernüchternd erscheinen, wo vor dem Hintergrund vorhandener und selbst verbesserter personeller und finanzieller Ressourcen eine rasche Umsetzung der mehr als 150 Expertenempfehlungen, die teilweise von maximalen Versorgungsvorstellungen ausgehen, nicht realistisch erscheint. Nichtsdestoweniger steht die Bundesregierung nicht an, bei den Ländern auf zügige Beseitigung immer noch vorhandener schlechter bis schlimmer Zustände zu dringen. Wer daraus schließt, daß sich die Bundesregierung auf diese Weise selbst aus der Verantwortung stehlen will, übersieht, daß diese Regierung den Empfehlungen der Sachverständigen nicht nur in der großen Linie zustimmt, sondern in ihrer Stellungnahme ganz besondere Schwerpunkte hervorgehoben hat, indem sie — anders als die Länder, meine Damen und Herren — Vorschläge zur Prävention aufgenommen und hier auch konkrete Ansätze formuliert hat.
Hilfreicher als Diskussionsstrohfeuer sind Reformansätze, die den täglichen Bedürfnissen der Bürger entsprechen. Deshalb will die Bundesregierung außer den zwölf schon seit Jahren mit kommunalen, staatlichen, privaten und gemeinnützigen Trägern laufenden Modellvorhaben zu besonderen Einzelfragen jetzt zusammen mit den Ländern Modelle umfassender Vollversorgung in dafür geeigneten und entsprechend entwickelten Standardregionen durchführen.
Wenn Sie gesagt haben, die Ministerin sei kleinmütig in die Kabinettsitzung gegangen und habe sich nicht engagiert genug gezeigt, muß ich Ihnen sagen: Ich freue mich, daß wir die Mittel — jetzt 70 Millionen und vom nächsten Jahr ab jährlich 100 Millionen DM. — für diesen Zweck bekommen haben.
Aber, Herr Picard, es handelt sich um genau die Mittel, die wir ein halbes Jahr vor der Kabinettsitzung verlangt und beantragt hatten. Es war lediglich so, daß der Finanzminister selbst den Ausschlag für die Bewilligung dieser Mittel gab, und er hatte sich mit der Materie erst in der Nacht vor der Kabinettsitzung beschäftigt. Für diesen Zeitablauf war ich nicht verantwortlich. Wie dem auch immer sei: Wir haben die Mittel bekommen, und wir sollten alle froh sein, daß der Bund hier einen guten Beitrag leisten kann.
Nun sollen die neuen, umfassenderen Modelle auch — wie die Enquete verlangt — gemeindenah, vorrangig ambulant und teilstationär sein, und die Kranken sollen wieder mehr in die Nähe ihrer alten Umgebung kommen. Sie sollen ein möglichst normales Leben führen und dadurch günstigere Heilungsaussichten haben. Die Modelle werden zur Zeit von uns mit den Ländern erörtert. Sinn dieser Modelle ist es vor allem, den Anteil der stationär behandelten Patienten zu reduzieren. Meine Damen und Herren, es handelt sich hier um Bereiche, in denen bis jetzt keine oder ganz wenig Erfahrung vorliegt, besonders im komplementären rehabilitativen Bereich. Dies wird daher ein schwieriger Erfahrungsprozeß werden. Wir sind durchaus für konstruktive Kritik offen und dankbar.
Der Bund hat seine Mitwirkung aber nicht nur auf Modelle beschränkt. Seit es die Gemeinschaftsaufgabe „Krankenhausfinanzierung" gibt, sind nicht unerhebliche Bundesmittel in diesen Sektor geflossen, über deren Verwendung die Länder selbst bestimmen. Mit Sondermitteln in Höhe von 127 Millionen DM sind seit 1975 Anreize geschaf-
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fen worden für beondere Verbesserungen in der Psychiatrie. Leistungsverbesserungen in der Sozialhilfe haben wir hier in diesem Hause auch beschlossen, die ebenfalls den psychisch Kranken und Behinderten zugute kommen.
Die richtige und humane Versorgung psychisch Kranker hängt aber auch von einer ausreichenden Zahl von Fachkräften und von deren Aus-, Weiter-und Fortbildung ab. Nur in eng begrenzten Aufgabenbereichen können Laienhelfer Betreuungsfunktionen übernehmen. Um durch Ausbau der ambulanten, komplementären und rehabilitativen Einrichtungen und Dienste psychisch Kranke und Behinderte bei adäquater Versorgung im Verband der Familie, also im Verband der Gesellschaft, zu haben und Schritt für Schritt die komplementäre Versorgung zu reduzieren und auf das unbedingt notwendige Maß zu beschränken, bedarf es nicht nur einer zusätzlichen Anzahl an Therapeuten, sondern darüber hinaus an Fachpersonal ganz unterschiedlicher Qualifikationsstufen. Hier weise ich auf den Entwurf eines Hebammen- und Krankenpflegergesetzes hin, der sich zur Zeit in der Parlamentsberatung befindet. In den neuen Ausbildungsvorschriften findet sich auch der Bereich der Psychiatrie. Es wird verlangt, daß sich die Krankenschwestern auch Kenntnisse im Bereich der Psychiatrie erwerben. Die Betreuung der psychisch Kranken soll in den theoretischen und praktischen Unterricht, in die Ausbildung aller dieser Pflegekräfte einbezogen werden.
Eine staatliche Regelung zur Weiterbildung für Krankenschwestern und Krankenpfleger und Fachkrankenschwestern und Fachkrankenpfleger in der Psychiatrie gibt es derzeit in drei Ländern: Hamburg, Hessen und Niedersachsen. Wir streben an, daß diese Entwicklung bundesweit erfolgt, um die erforderliche personellen Kapazitäten für die Versorgung der psychisch Kranken und Behinderten zu bekommen; denn das Ganze ist ja nicht nur ein Problem der Gebäude oder des guten Willens, man muß auch die Fachkenntnisse haben.
Zur Sicherstellung der gemeindenahen Versorgung psychisch Kranker und Behinderter ist es nach allgemeiner Auffassung erforderlich, die Zahl der niedergelassenen Fachärzte zu vermehren und die an der Versorgung der psychisch Kranken beteiligten Allgemeinärzte mehr für die anstehenden Probleme zu interessieren und besser für die angesprochenen Bedürfnisse zu qualifizieren.
Darüber hinaus müssen wir aber auch — das betone ich — andere qualifizierte Therapeuten haben. So sagt es auch die Enquete. Wir müssen ihnen die Möglichkeit geben, in diesem Felde tätig zu werden.
In der Praxis hat sich in den letzten Jahren ein neuer Berufsstand entwickelt, zu dem insbesondere Diplompsychologen mit einer Zusatzausbildung auf dem Gebiet der Psychotherapie gehören. Um im . Bereich der Psychotherapie tätig sein zu können, bedarf es allerdings der Zulassung zur Ausübung der Heilkunde. Die Psychiatrie-Enquete hat darauf hingewiesen, daß ein nicht unbeträchtlicher Bedarf an Psychotherapeuten besteht. Daher muß eine gesetzliche Regelung gefunden werden, die die Grundlagen für eine angemessene Ausübung dieser Berufstätigkeit darstellt und ihre Einordnung in das Gefüge der Heilberufe ermöglicht.
Zur Vorbereitung eines solchen Gesetzes wurde ein Referentenentwurf seit Herbst 1978, also seit einem Jahr, mit den Ländern, den Verbänden und Fachgesellschaften eingehend erörtert. Dieser Referentenentwurf wird jetzt überarbeitet. Demnächst wird er den Beteiligten zugesandt und nochmals mit ihnen erörtert werden. Wenn das Gesetz auch wegen seiner Kompliziertheit in dieser Periode hier nicht mehr über die Runden gehen kann — das Parlament und der Fachausschuß haben im Moment ja auch sehr viel Arbeit —, so gehen die Arbeiten an der Materie doch zügig weiter. Wir sagen ausdrücklich: Wir sind daran sehr interessiert.
In dieser ganzen Diskussion, meine Damen und Herren, geht es jedoch nicht nur um Krankenhaus, ambulante Dienste, Ausbildung. Bei der Frage der Finanzierung dreht es sich nicht allein um das Wieviel, sondern auch um das Wie. Die Bundesregierung ist sich darüber im klaren, daß der in der Nazizeit eingeführte Halbierungserlaß, von dem heute schon die Rede war, der die Kosten für die psychisch Kranken je zur Hälfte den Krankenkassen und den Sozialhilfeträgern anlastet, in der Praxis überwiegend zwar schon durch andere Regelungen abgelöst ist, aber dennoch durch sein Fortbestehen eine Diskriminierung der psychisch Kranken darstellt. Die Bundesregierung hat deshalb in ihrer Stellungnahme zur Enquete zugesichert, daß der Deutsche Bundestag in dieser Legislaturperiode im Rahmen des Gesetzentwurfes die Abschaffung des Halbierungserlasses vorschlagen wird.
Hierzu sind nun detaillierte Finanzierungsregelungen erforderlich, zu deren Erarbeitung der Bundesarbeitsminister mit den beteiligten Institutionen in Gespräche eingetreten ist. Aber der Halbierungserlaß muß und wird fallen.
Die Bundesregierung hat ebenfalls ihre Absicht bekundet, den § 13 des Bundeszentralregistergesetzes zu streichen und darauf zu achten, daß ähnliche diskriminierende Regelungen sich in Zukunft nicht mehr ausbilden. Auch die versteckten Diskriminierungen bedürfen weiterhin unserer besonderen Aufmerksamkeit. Nachdem die Arbeit an der Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge nunmehr abgeschlossen ist, sind gesetzliche Schritte zur Reform des Vormundschafts- und Pflegschaftsrechts eingeleitet worden. Die Materie ist sehr schwierig. Deshalb hat es sich als erforderlich erwiesen, sowohl ein rechtsvergleichendes als auch ein medizinisches Gutachten darüber einzuholen. Das Rechtsgutachten liegt bereits vor, das medizinische wird in absehbarer Zeit erwartet. Wir hoffen auf diese Weise das von uns angestrebte abgestufte System von Betreuungsmaßnahmen in Ergänzung oder an Stelle der bisherigen Vormundschaft oder Pflegschaft alsbald zu erreichen. Auch das ist ein wichtiger Schritt zur Befriedigung der speziellen Betreuungsbedürfnisse dieses Personenkreises.
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Aus all diesen Bemühungen, meine Damen und Herren, wird deutlich, daß die Bundesregierung in diesem reformbedürftigen Bereich alle Anstrengungen unternimmt und künftig unternehmen wird, den psychisch Kranken endlich so zu stellen wie andere Kranke auch, jede Diskriminierung zu beseitigen und ihm die Behandlungsmöglichkeiten und Chancen zu geben, die bei der Natur seines Leidens zweierlei versprechen: Mehr Humanität, aber auch mehr Erfolg.
Mit den aufgezeigten neuen Wegen — ich betone: neuen Wegen —, die die Bundesregierung für das Kernstück der Reform hält, sollen auch Möglichkeiten eröffnet werden für jene Familien, die dadurch, daß sie ihre Angehörigen bei sich zu Hause pflegen, oft schwere Last tragen und durchaus der Hilfe solcher Einrichtungen bedürfen, die als Tages- oder Nachtkliniken oder als ambulante Dienste wohnungsnah in Anspruch genommen werden können. So stimmen wir, Herr Picard, Ihren beiden ersten Forderungen durchaus zu. Der dritten stimmen wir auch zu, aber auf die komme ich in einem anderen Zusammenhang.
Wenn das Ziel, die stationäre Behandlung zu reduzieren, erreicht wird, dann wird aber auch mehr Fürsorge und Humanität von Menschen verlangt werden müssen, deren Angehörige bislang, weil so entfernt von ihrem alten Lebenskreis, wichtiger Heilungschancen beraubt waren, denen sie nun wieder näherkommen sollen. .
Bei all dem können wir nicht davon ausgehen, daß Krankenhäuser, bei denen wir uns kleinere Einheiten wünschen, künftig ganz entbehrlich sind. Indem wir aber Konzepte mit mehr ambulanten Einrichtungen erarbeiten und modellhaft erproben wollen, erhoffen wir uns auch Erleichterungen für die Krankenhäuser mit Blick auf ihre Möglichkeiten, die Patienten besser unterzubringen und individueller zu betreuen.
Hier liegt eine große Aufgabe der Gesellschaft, die sich daran messen lassen muß, daß alle staatlichen Ebenen das Ihre und mehr tun als in der Vergangenheit; denn die Gemeinden sind auch gefordert, z. B. bei der Schaffung von Begegnungszentren.
Die staatlichen Ebenen allein, meine Damen und Herren, werden aber nicht genug bewirken, wenn es nicht Menschen gibt, die in den Einrichtungen, in Familien und Verbänden sich in ehrenamtlicher Arbeit um ihre kranken Mitmenschen kümmern, deren Schicksal früher grauenvoll war und auch heute noch nicht sehr chancenreich ist.
Die Bundesregierung hätte nichts gegen eine Bund-Länder-Institution, Herr Picard, das war ja Ihre dritte Forderung, zur besseren Information aller, wie Sie sagten. Leider ist diese Einrichtung von den Ländern als nicht notwendig abgelehnt worden, nicht von der Bunderegierung.
Den Erstellern der Enquete möchte ich heute ausdrücklich danken für den Beitrag, den sie in zweierlei Weise geleistet haben: erstens durch die Schaffung von mehr Problembewußtsein, das auch in den Medien einen kräftigen Niederschlag gefunden hat, zweitens und am meisten durch die Erarbeitung konzeptioneller Vorstellungen, wie eine bessere Zukunft aussehen könnte.
John F. Kennedy hat 1963 in einer Sonderbotschaft an den Kongreß der Vereinigten Staaten festgestellt:
Die Zeit ist jetzt für ein neues und mutiges Vorgehen gekommen. Neue medizinische, wissenschaftliche und soziale Mittel und Erkenntnisse sind nunmehr vorhanden. Die Regierung dieses Landes und die einzelnen Staatsbürger müssen sich ihrer Verpflichtung auf diesem Gebiet bewußt sein.
Auch die Bundesregierung hält die Zeit für ein neues mutiges Vorgehen für gekommen und bietet dazu im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihre Hilfen an. Eine freiheitliche demokratische Gesellschaft in einem sozialen Rechtsstaat muß sich daran messen lassen, wie bereit sie ist, sich um die Schwachen solidarisch zu kümmern. Und zu diesen gehören auch und ganz besonders die psychisch Kranken.