Rede von
Dr.
Stephan
Reimers
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unsere Fraktion mißt dem Problem der Kinder- und Jugendpsychiatrie besondere Bedeutung bei. Sie werden sicherlich alle Kenntnis genommen haben von einem Großversuch, der von der Gesamthochschule Essen durchgeführt wurde und bei dem 1 200 Kinder aus Normalfamilien von ihrem fünften Lebensjahr bis zu ihrem vierten Schuljahr beobachtet worden sind. Dieser Großversuch kommt zu einem Ergebnis, das man mit zwei Sätzen zusammenfassen kann. Ich zitiere:
Für die geistige Entwicklung von Kindern ist bis zum zehnten Lebensjahr die Familie wichtiger als Kindergarten, Vorklasse und Grundschule.
Schon bei fünfjährigen Kindern zeigen sich Unterschiede in Sprache, Umgang mit Menschen und Intelligenz, die kein Außenstehender mehr ausgleichen kann.
Meine Damen und Herren, das ist eine Feststellung, die für den Bereich der Bildungspolitik sicher genauso wie für den Bereich der Familienpolitik von Interesse und Belang ist und die darüber hinaus auch für unser Thema etwas beizutragen vermag. Denn wenn es stimmt, daß für die normale Entwicklung eines Kindes die ersten Lebensjahre von grundlegender Bedeutung sind — dies ist ein Ergebnis, das nicht nur von der Untersuchung in Essen bestätigt wird, sondern es gibt darüber hinaus eine Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen, die zu demselben Ergebnis gekommen sind; man kann hier schon von einer gesicherten anthropologischen Erkenntnis sprechen —, dann ist es sicherlich auch so, daß die psychische Fehlentwicklung von Kindern in den ersten Lebensjahren eine Festigkeit gewinnt, die später nur schwer verändert und abgebaut werden kann.
Mit anderen Worten: Mit jedem Jahr, in dem die psychische Störung unerkannt und unbehandelt andauert, werden die Chancen einer vollständigen Gesundung des Kindes schlechter, und das war schon immer so!
Meine Damen und Herren, die Kinder- und Jugendpsychiatrie hat aus unserer Sicht einen herausragenden Stellenwert. Von dieser Einschätzung her ergibt sich für uns die Frage, wie der Arbeitsanfall gegenwärtig aussieht. Nach den Daten, die die Enquete-Kommission geliefert hat, werden jedes Jahr bei der Einschulung von Kindern in erheblichem Umfange Auffälligkeiten festgestellt. Ich darf Ihnen die Zahlen nennen. Bei jedem Schulanfängerjahrgang sind es im Durchschnitt 25 % der Kinder, die Auffälligkeiten aufweisen, die Aufklärung notwendig machen. In Großstädten steigt diese Zahl sogar auf 31 %. Das heißt: rund 150 000 Kinder in unserem Lande allein bei den Schulanfängen weisen Auffälligkeiten auf, die aufgeklärt und behandelt werden müßten.
Die Enquete bringt noch einige weitere Zahlen, die ich ebenfalls nennen darf. Innerhalb des ersten Schuljahres werden 16,3 % der Kinder erheblich auffällig, 6 % werden vom Schulbesuch zurückgestellt und 8,7 % werden einer Sondereinrichtung zugeleitet.
Meine Damen und Herren, ein Schulanfängerjahrgang ist sicherlich ein Bereich, den man anführen kann, um den Bedarf zu kennzeichnen. Es gibt aber auch noch andere Zahlen, auf die sich hinweisen läßt. Ich darf nur die erschreckend hohe Zahl von Selbstmorden ansprechen. Diese Zahl ist in den letzten Jahren stark angestiegen. 1965 waren es 360, 1977 schon 600 Selbstmorde. In der Altersgruppe 16 bis 20 Jahre ist der Selbstmord nach dem Unfall die häufigste Todesursache.
Um zwei weitere Beispiele zu nennen, darf ich kurz verweisen auf das Thema der Drogenabhängigkeit und das Thema der Alkoholabhängigkeit.
13942 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 177. Sitzung. — Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979
Dr. Reimers
Auch hier gibt es Zahlen, die in den letzten Jahren drastisch angestiegen sind.
Das Urteil, das die Enquete über die Frage spricht, welches Therapieangebot diesem Bedarf gegenübersteht, ist schlichtweg vernichtend. Ich darf einmal aus der Enquete zitieren:
Ein einigermaßen strukturiertes Versorgungssystem ist auch in Ansätzen nicht zu erkennen. Der Nachholbedarf ist hier besonders gravierend.
Dies gilt nicht nur für die stationäre Versorgung, dies gilt erst recht für die Zahl der niedergelassenen Ärzte. Die Zahl, die in der Enquete genannt wird, lautet für das Jahr 1975 bzw. für den Erhebungszeitraum der Enquete 28 Praxen in der gesamten Bundesrepublik — 28 niedergelassene Fachärzte!
Wo liegen die Ursachen für den katastrophalen Ärztemangel in diesem Bereich? Wir. hatten bereits im letzten Jahr, als wir hier einen Antrag zum Thema eines Modellversuchs gestellt hatten, auf dieses Problem hingewiesen. Es ist vor allem das Problem der Weiterbildung zum Facharzt. Gegenwärtig besteht die Hauptschwierigkeit darin, daß die Institute für Kinder- und Jugendpsychiatrie relativ klein sind, d. h. nur wenige Stellen für Weiterbildung zur Verfügung haben. Wenn diese Institute einen jungen Arzt ausgebildet haben, dann sind sie froh, wenn sie ihn haben; sie sind auch daran interessiert, ihn im Interesse der Versorgungsaufgaben im Institut festzuhalten. Also die Stellen für die Weiterbildung werden nicht so frei gemacht und bereitgestellt, wie dies erforderlich wäre, um eine größere Zahl auszubilden.
Wir haben deshalb bereits im letzten Jahr angeregt, den Vorschlag der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie aufzugreifen, nämlich Ausbildungsstipendien zur Verfügung zu stellen, die an die Stelle der nicht vorhandenen Planstellen treten könnten. Ich habe erfahren, daß sich die Psychiatriereferenten der Länder in ihrer nächsten Sitzung mit diesem Vorschlag beschäftigen werden. Ich hoffe, daß diese Besprechung ein konkretes Ergebnis haben wird.
Im Zusammenhang mit der Weiterbildung darf ich noch ein anderes Problem ansprechen. Die gegenwärtige Weiterbildungsordnung sieht so aus, daß der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie als Assistent zwei Jahre lang das Fach Kinder-und Jugendpsychiatrie durchlaufen muß, zusätzlich aber ein Jahr das Fach Kinderheilkunde und ein Jahr das Fach Erwachsenenpsychiatrie. Hier liegt ein weiteres Problem, daß nämlich sowohl die pädiatrischen Einrichtungen als auch die psychiatrischen Kliniken nur ungern Assistentenstellen für ein Jahr zur Verfügung stellen. Auch in diesem Fall würde sicherlich über einen Stipendienpool, der die Finanzprobleme regelt, die Bereitschaft wachsen, Weiterbildungsplätze zur Verfügung zu stellen.
Ich hatte eingangs auf den Zusammenhang von kindlicher Entwicklung und Familie hingewiesen.
Von daher liegt es auch auf der Hand, daß die Behandlung eines psychisch kranken Kindes sinnvollerweise nur auf dem Wege einer umfassenden Familiendiagnose und -beratung durchgeführt werden kann; denn die psychische Erkrankung des Kindes wird sicherlich häufig ihre Ursachen in Problemen der Familie haben.
Hier taucht nun ein Problem auf, das auf die vorhin genannte Zahl von 28 Praxen abzielt. Es ist klar, daß eine solche Beratungsarbeit, eine solche Familientherapie, nur sehr schwer im Rahmen der bisher vorhandenen Liquidationsmöglichkeiten niedergelassener Ärzte abzuwickeln ist. Wir müssen feststellen, daß heute Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie draußen in der Praxis nicht existenzfähig sind, wenn sie ihren Beruf, ihr Amt ernst nehmen. Das ist ein Problem, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen, über das wir gemeinsam nachzudenken haben.
Mein Fraktionskollege Picard hat auf die Notwendigkeit der Zusammenarbeit von Bund und Ländern hingewiesen. Ich glaube, es ist wichtig, daß wir gerade auch im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht den Schwarzen Peter hin- und herschieben. Es liegt bei den Defiziten, die die Enquete nachgewiesen hat und die ich eben noch einmal mit Beispielen belegt habe, auf der Hand, daß man in dieser Situation die Länder vor den Aufgaben der Heranbildung einer ausreichenden Zahl von Kinder- und Jugendpsychiatern nicht alleinlassen kann. Jedenfalls ist die CDU/CSU-Fraktion nicht bereit, einer solchen Fehlentwicklung tatenlos zuzusehen.