Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Vor wenigen Wochen gedachte die Öffentlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland des 40. Jahrestages des 1. Septembers 1939. Damals löste Hitler mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg aus. Der gleiche Termin betrifft auch das Thema unserer heutigen Debatte. Bezeichnenderweise war es am gleichen Tag, an dem Hitler durch die Unterzeichnung des sogenannten Euthanasie-Erlasses mit einem einzigen Satz den Weg für den Tod von über 100 000 Geisteskranken freimachte.
Ich glaube, wir können heute in diesem Hause eine Debatte über die Lage der Psychiatrie nicht führen, ohne auf diese dunkle Vergangenheit der Psychiatrie in Deutschland einzugehen. Es konnte ja auch nicht ohne Duldung — mit belastetem Gewissen oder ohne — von Psychiatern und Pflegern geschehen, daß all diese Geisteskranken in den deutschen Irrenanstalten ausgesondert und ausgeliefert wurden. Der Euthanasie-Erlaß ermöglichte es gerade, die Befugnisse der verantwortlichen Ärzte zur Freigabe für den, wie es hieß, Gnadentod zu erweitern, d. h. für die systematische Vernichtung angeblich lebensunwerten Lebens.
Wenn wir uns heute in der Bundesrepublik Deutschland an Hand der Psychiatrie-Enquete und der Regierungsstellungnahme mit den ernsten Rückständen in der psychiatrischen Versorgung befassen müssen, so hängt das auch mit jenen unzähligen Verbrechen an schutzbefohlenen Wehrlosen zusammen. Es hängt auch damit zusammen, daß die deutsche Psychiatrie damals erzwungenermaßen und zum Teil willfährig ihrer humanitären Aufgabe, Geisteskranke zu behandeln, zu pflegen und möglichst zu heilen, im wesentlichen nicht nachkam. Gravierende Rückstände unserer psychiatrischen Versorgung gegenüber anderen westlichen Länder sind daher bis heute mit darauf zurückzuführen.
Es gibt aber noch einen zweiten Grund für den Rückstand, der mit dem ersten sehr eng zusammenhängt. Die Nationalsozialisten diffamierten theoretische Wissenschaften und auch die Psychologie als Judenwissenschaften. Es war kein Freiraum auf diesem Gebiet. Es gab keine Sensibilität für die Probleme jener Kranken. Sie lebten in einer anderen und sie waren eine andere . Welt. Diese Trennung der psychisch Kranken von den Gesunden
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und anderen Kranken wirkt auch nach dem Krieg noch lange weiter.
Das enorm weite Echo der Betroffenheit, das die Fernsehserie „Holocaust" vor Monaten in der Bevölkerung gefunden hat, zeigt, daß in der Bundesrepublik Deutschland heute die Mehrzahl der Menschen zur inneren Bewältigung der Vergangenheit bereit ist. Sie scheint mir auch deshalb für eine Auseinandersetzung mit dem Problem der Geisteskranken in unserer Gesellschaft bis zu einem gewissen Grad bereit zu sein. Beides hängt miteinander zusammen.
Der außerordentliche Aufschwung, den die Rehabilitation Behinderter im Nachkriegsdeutschland genommen hat, zeigt .die innere Aufgeschlossenheit des Bürgers gegenüber dem behinderten Menschen ebenso wie die beträchtliche Spendenbereitschaft für soziale Zwecke dieser Art, nicht zuletzt der erstaunliche Aufbauerfolg etwa der „Lebenshilfe für geistig Behinderte". Dieser positive Trend in der Bewußtseinslage unserer Bevölkerung scheint mir eine hoffnungsvolle Voraussetzung für die in der Bundesrepublik noch zu leistende Reform der psychiatrischen Versorgung zu sein.
Eine der wesentlichen Forderungen der Sachverständigen nach einer Dezentralisation und Integration der psychischen Versorgung in die ärztliche Allgemeinversorgung ist auf Dauer nur mit dem weitgehenden Einverständnis der Bevölkerung zu verwirklichen. Eine allmähliche Auflösung der großen Landeskrankenhäuser, in denen psychisch Kranke von körperlich Kranken separiert werden, setzt den Aufbau psychiatrischer Abteilungen an den allgemeinen Krankenhäusern mit stationärer, halbstationärer und ambulanter Behandlung voraus. In jedem Fall kommen bei einer dezentralisierten Versorgung dieser Art seelisch Kranke und körperlich Kranke sowie Gesunde viel mehr als bisher miteinander in Berührung. Diese Berührung schafft Probleme und fordert Toleranz. Daher ist die innere Vorbereitung der Bevölkerung auf ein begrenztes Miteinander mit psychisch Kranken so wichtig.
Wir debattieren heute unmittelbar nur die Stellungnahme der Bundesregierung vom Februar dieses Jahres zum Psychiatrie-Bericht. Dieser selbst ist von der Sachverständigenkommission bereits 1975 erarbeitet und veröffentlicht worden. Ich finde es bedauerlich, daß auf diese Weise das Parlament erst nach so langer Zeit dazu kommt, die Lage der Psychiatrie zu debattieren und sich über die zu ziehenden notwendigen Konsequenzen klarzuwerden.
Die FDP hat im übrigen bereits im November 1976 mit der Vorlage ihres Gesundheitsprogramms, das eine ausführliche These zur psychiatrischen Versorgung enthält, auf den Bericht der Sachverständigenkommission geantwortet. Diese These 10 unseres Programms bezeichnete die Reform der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung als vorrangig. Als Hauptforderung für die zu leistende Reform stellten wir damals heraus: mehr ambulante Versorgung, insbesondere Abbau der großen Landeskrankenhäuser zugunsten vor allem ambulanter und halbambulanter Versorgung durch niedergelassene Ärzte und Psychologen sowie poliklinische und stationäre Behandlung in allgemeinen Krankenhäusern.
Wir wollen mehr bürgernahe Versorgung: so weit wie möglich Betreuung und Versorgung in räumlicher Nähe zur Wohnung des Patienten und durch ein möglichst engmaschiges Netz von niedergelassenen Ärzten und Psychologen, von Sozialstationen und Krankenhäusern der Grund- und Regelversorgung. Wir wollen mehr integrierte Versorgung: möglichst weitgehende Einbeziehung der psychiatrischen Versorgung in die allgemeine Medizin, insbesondere Aufbau von mehr psychiatrischen Fachabteilungen an den allgemeinen Krankenhäusern. Wir wollen mehr kooperative Versorgung: gezielte Zusammenarbeit niedergelassener Fachärzte, Psychologen, Sozialstationen, Krankenhäuser sowie freier Gruppen und Träger in einem Versorgungsnetz. Und wir wollen mehr psychotherapeutische Versorgung: Behandlung nicht nur durch Fachärzte, sondern verstärkt auch durch Diplompsychologen oder klinische Psychologen; ich komme auf diesen Punkt nachher noch im einzelnen zurück.
Die FDP begrüßt im wesentlichen die Grundsätze und Prioritäten der Bundesregierung, die zum großen Teil auch die der Sachverständigenkommission sind. Nehmen wir die Stärkung der Eigenverantwortung. Geistig-seelische Gesundheit ist zum großen Teil von der Bereitschaft und der Fähigkeit zu individueller Verantwortung abhängig, weshalb gerade in der Psychiatrie die Hilfe zur Selbsthilfe besondere Bedeutung hat.
Ein weiterer Punkt in dieser Reihe ist der Vorrang der ambulanten Versorgung: Förderung hauptsächlich des ambulanten, vorstationären, komplementären und rehabilitativen Bereiches, also der Betreuung durch Fachärzte und weitere Angehörige der Gesundheits- und Sozialberufe. Richtig wird gesagt, jeder Ansatz der Reform bei der stationären Versorgung müsse die Gesamtreform lähmen.
Das Prinzip der gemeindenahen Versorgung wird betont: Beschränkung der Großkrankenhäuser auf die Behandlung schwer geschädigter, nicht heilbarer .Dauerpatienten, mehr Fachabteilungen an örtlichen allgemeinen Krankenhäusern, insgesamt Rückführung zum Leben in der Gemeinschaft. Das sind die Kernforderungen der Reform.
Das Prinzip der Gleichstellung psychisch Kranker wird von der Regierung als ein weiterer Kernpunkt bezeichnet. Es geht um die chancengleiche Beteiligung der seelisch Kranken und Behinderten, insbesondere um ihre Gleichbehandlung mit körperlich Kranken. Die von den Sachverständigen und der Bundesregierung aufgeworfenen Fragen sind außerordentlich vielschichtig, so daß ich hier unmöglich auf alle Punkte eingehen kann. Ich möchte jedoch eine Reihe von Fragen herausgreifen, die uns besonders wichtig erscheinen.
Da ist erstens die Gleichstellung von seelisch und körperlich Kranken. Die soeben erwähnte For-
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derung nach einer Gleichstellung seelisch und körperlich Kranker ist zu einem großen Teil durch eine Reihe von Gesetzesänderungen im Sozialgesetzbuch, im Bundessozialhilfegesetz, im Schwerbehindertengesetz, im Arbeitsförderungsgesetz sowie im Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter in den vergangenen Jahren schon weitgehend erfüllt worden, und zwar durch die Einführung der Gruppe seelisch Behinderter neben den schon bisher geförderten Gruppen der körperlich und der geistig Behinderten.
Eine leider seit Jahren nicht erfüllte Forderung ist es, eine in ihren Wurzeln noch in das Dritte Reich zurückgreifende Ungleichbehandlung seelisch und körperlich Kranker zu beseitigen. Ich meine den sogenannten Halbierungserlaß aus dem Jahre 1942, der freilich in den Bundesländern durch eine Reihe von Folgevereinbarungen abgelöst worden ist. Eine Ungleichbehandlung blieb jedoch im Prinzip insofern bestehen, als heute zwar keine Halbierung der Kosten für seelisch Kranke zwischen den gesetzlichen Krankenversicherungen und den Sozialhilfeträgern praktiziert wird, jedoch noch immer eine gewisse Teilungsquote vorhanden ist. In dieser Frage kann es rechtlich eigentlich keinen Zweifel geben: Wer als Versicherter körperlich oder seelisch krank ist, hat den vollen Anspruch auf Leistungen . seiner Krankenversicherung.
Wer durch körperliche oder seelische Krankheit Pflegefall ist, erhält allerdings bis heute in der Regel Leistungen nicht der Krankenversicherung, sondern im Bedarfsfall der Sozialhilfe. Beide Fragen, die einer körperlichen oder seelischen Krankheit und die andere der Abgrenzung von Krankheit und Pflege, dürfen nicht, wie dies die Teilungsabkommen tun, miteinander verquickt werden. Ich bin froh darüber, daß wir wohl demnächst durch ausdrückliche gesetzliche Regelung den Halbierungserlaß und die sich an ihn anschließende Praxis der Kostenteilung aufheben werden.
Ein zweiter Schwerpunkt sind die Förderungsmittel des Bundes. Meines Erachtens hat die Bundesregierung einen ganz wesentlichen Akzent innerhalb der Bemühungen um eine Psychiatriereform im Frühjahr dieses Jahres durch eine drastische Erhöhung der Modellförderungsmittel von 6,4 auf 81,3 Millionen DM — das ist eine Steigerung von weit über 1 000 % — gesetzt. Damit eröffnet sich für die Regierung eine einmalige Chance, aufbauend auf den Forderungen und Erfahrungen der PsychiatrieEnquete und gemäß ihren Grundsätzen in der Stellungnahme hierzu ein vorbildliches Förderungskonzept vorzulegen und durchzuführen. Die Bundesregierung kann dabei den in erster Linie für die Psychiatrie zuständigen Ländern wesentliche Impulse geben und für die dort zu leistenden Reformmaßnahmen Akzente setzen. Ich halte es für notwendig, daß sich die zuständigen Ausschüsse des Bundestages möglichst bald von der Regierung über
die Grundsätze ihres Modellförderungsprogramms berichten lassen.
Dabei scheint es mir wesentlich zu sein, daß die Möglichkeiten einer Dezentralisierung und weitgehenden Überführung in ambulante Versorgung durch praktische Modelle erprobt werden. Es wird auch darauf ankommen, Modelle zur angemessenen Betreuung und Versorgung Suchtgeschädigter und seelisch Kranker zu entwickeln, zu denen leider mehr und mehr Jugendliche zählen.
Ich komme zum dritten Punkt, zum Psychotherapeutengesetz. Unsere Fraktion bedauert, daß es trotz unserer jahrelangen Bemühungen bis jetzt noch nicht möglich war, das unseres Erachtens dringend erforderliche Gesetz zur Regelung des Berufsbildes eines nicht-ärztlichen Psychotherapeuten vorzulegen. Wir glauben, daß eine ausreichende psychotherapeutische und psychologische Versorgung der Bevölkerung nur möglich ist, wenn neben den hierfür geeigneten Ärzten auch entsprechend andere, von Studium und Ausbildung her besonders geeignete Berufsgruppen mit in die Versorgung einbezogen werden. Ich meine hiermit insbesondere die Psychologen mit klinischer Spezialisierung. Zwar kennen wir die außerordentlichen Schwierigkeiten, die bei der Abgrenzung der Berufsgruppen und der zuzulassenden Tätigkeitsbereiche sowie bei den Konsequenzen für eine mögliche Kostentragung für solche Leistungen durch die Krankenkassen bestehen, aber trotzdem sollte man dieses Problem, wie ich meine, nicht von Jahr zu Jahr weiter vor sich herschieben. Jedenfalls ist die gegenwärtige Regelung außerordentlich unbefriedigend, nach der die Krankenkassen eine früher wesentlich weitergehende Praxis der Zulassung von Diplompsychologen im Delegationsverfahren aufgegeben haben. Es geht nicht länger an, daß es sich nur einkommensstärkere Selbstzahler leisten können, notwendige psychotherapeutische Beratungen und Betreuungen von nichtärztlichen Therapeuten zu erhalten.
Als vierten Punkt möchte ich das Krankenhausfinanzierungsgesetz ansprechen. Eine, wenn auch nur geringe, Möglichkeit des Bundesgesetzgebers, auf Grund seiner Zuständigkeit zur Psychiatriereform beizutragen, besteht schließlich auf dem Gebiet der Krankenhausfinanzierung. Der Regierungsentwurf ist allerdings von vornherein durch die abweisende Haltung der Bundesländer beeinträchtigt, die vor allem beim ersten Durchgang im Bundesrat deutlich wurde. Das war fast eine totale Ablehnung jeglicher bundesweiter Vorgaben für die Krankenhausbedarfsplanung der Länder. Dabei wäre es gerade auf dem Gebiet der Psychiatrie dringend notwendig, die Versorgung stärker und in den Ländern einigermaßen gleichlaufend mit der allgemeinen Krankenhausversorgung zu verzahnen und mit der ambulanten Versorgung zur Gesamtkonzeption abzustimmen. Ich kann nur hoffen, daß sich die Länder im zweiten Durchgang nicht endgültig gegen das erforderliche Minimum an bundesweiter und bundeseinheitlicher Ausgestaltung
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und Abstimmung der Bedarfsplanung sträuben. Der Sache der Psychiatrie wäre es dienlich, wenn diesbezüglich die wesentlichen Vorgaben in das Gesetz aufgenommen werden könnten.
Lassen Sie mich noch nach den Folgen dieser Debatte fragen. Was bringt diese Debatte für die Betroffenen? Wir reden, tauschen Meinungen und Ansichten aus und sind uns, wie die heutige Debatte jedenfalls bisher zeigt, ziemlich einig darin, was und vielleicht auch wie es getan werden muß. Dann gehen wir möglicherweise zum nächsten Tagesordnungspunkt über und überlassen das Handeln der Regierung. Ich meine, das darf nicht das Ergebnis dieses Tages sein.,
Wir dürfen gerade auf diesem Gebiet das Handeln nicht allein der Regierung überlassen, sondern diese Debatte muß für uns der Ansatz zu neuem Handeln und neuen Aktivitäten sein. Ich bin mir darüber bewußt, daß der Bund und damit die Regierung und wir als Gesetzgeber hier nur einen sehr engen Spielraum haben, weil das Grundgesetz andere Zuständigkeiten festsetzt. Aber wir können durch Modellversuche Anregungen geben und damit die Länder veranlassen, erfolgreiche Modelle weiterzuführen. Wir müssen als Gesetzgeber durch unser Interesse dafür Sorge tragen, daß die fast 75 Millionen DM, die wir im Etat 1980 mehr haben, sinnvoll und zweckmäßig ausgegeben werden. Diese Debatte muß Anstoß zur Meinungsbildung in der Bevölkerung und auch bei den Kollegen in den Landtagen geben, die die Hauptzuständigkeit haben. Diese Meinungsbildung sollte auch bei jenen Kollegen erfolgen, die mit diesem Problembereich nur am Rande oder nichts zu tun haben. Ich meine, wir sind dabei, durch den Stil dieser Debatte für diese Arbeit einen guten Grundstein zu legen.