Rede von
Jürgen
Egert
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der 7. Legislaturperiode hatte ich den Vorzug, Berichterstatter für die Psychiatrie-Enquete zu sein. Dieses Thema hat mich seit dem nicht mehr losgelassen. Die fachliche Zuständigkeit ist da geblieben, wo ich früher tätig war. Aber auch die Probleme in der Psychiatrie sind an vielen Punkten die gleichen, die uns damals beschäftigt haben.
Ich würde mir wünschen, daß sich die Betroffenheit, die ein sorgfältiges Studium der PsychiatrieEnquete, die die Sachverständigenkommission entworfen hat, aus diesem Raum über die veröffentlichte Meinung bis zu einer kontinuierlichen Berichterstattung über den psychiatrischen Alltag überträgt; nicht über die Sensationen, die Tagesaufmacher, wenn da einmal etwas schiefgeht oder wenn dort vielleicht auch einmal etwas Neues passiert. Ich glaube, daß dieser Punkt eine kontinuierliche Aufmerksamkeit verdienen würde.
Das Thema, das heute den Deutschen Bundestag beschäftigt, gehört sicherlich nicht zu denjenigen, die auf der Sonnenseite unserer gesellschaftspolitischen Wirklichkeit angesiedelt sind. Die Psychiatrie und die Behandlung und Betreuung unserer psychisch kranken Mitbürger — auf dieses Substantiv lege ich dabei besonderen Wert — führt ein Schattendasein in unserer Wohlstandsgesellschaft. Der Anspruch der Deutschen, ein Kulturstaat, eine Kulturnation zu sein, wird auf diesem Feld nicht eingelöst. Es reicht nicht aus, verpflichtende Namen zu Trägern von Instituten zu machen, die das Kulturbild von den Deutschen im Ausland prägen sollen, wenn man im sozialkulturellen Bereich auf dem Feld der Psychiatrie einen erheblichen Nachholbedarf — um das so vornehm zu sagen — hat.
Die Auseinandersetzung mit diesem Thema verlangt Ernst, Aufrichtigkeit und Einsicht, und sie muß uns an manchem Punkt zur Selbstkritik fähig und bereit finden. Dabei ist politische Polemik fehl am Platz.
Gestatten Sie mir eine Fußnote, Herr Kollege Picard. Sie haben hier den Bund beleuchtet. Man könnte — ich will es mir versagen — die gleiche Rechnung hinsichtlich der Situation der Länder aufmachen. Wenn wir uns die Gewichtung der Aufgaben angucken, sage auch ich: Egal, ob sie
blaugelbrot oder blaugelbschwarz, gestreift oder nur rot sind, sie sind da alle nicht viel besser. Der Bundestag sollte die Chance dieser Debatte nutzen, den Schub, der von seiner Anregungskompetenz ausgehen kann, nicht zu verschütten. Denn die gemeinsame Verantwortung der Politiker aller Fraktionen und auf allen politischen Ebenen im Bund und in den Ländern und in den Gemeinden ist groß.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Mit dieser feierlichen Proklamation beginnt unser Grundgesetz. Wir alle sind uns darin einig, daß dieser Satz die Grundlage unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens schlechthin ist.
Wenn wir uns in diesem Ziel einig sind und wenn wir alle diese Verpflichtungen ernst nehmen, müssen wir uns vor Augen führen, daß wir dieser Verpflichtung gegenüber unseren psychisch kranken Mitbürgern bisher nur sehr bedingt nachgekommen sind.
Die von diesem Haus eingesetzte Sachverständigenkommission zur Begutachtung der Lage der psychisch Kranken in der Bundesrepublik hat eine Menge Tatsachen zutage gefördert, die dies belegen. Dieser Vorwurf trifft uns alle, weil das Kernproblem der Psychiatrie ausschließlich von uns allen gemeinsam unabhängig von unserer jeweiligen Aufgabenstellung in Regierung und Opposition gelöst werden kann. Das Kernproblem, das die Voraussetzung für die Verbesserung des Loses der psychisch Kranken schlechthin bildet, liegt in der Einstellung der Bevölkerung zum psychisch Kranken. Zentrale Aufgabe ist es, diese Einstellung zu verändern. Es ist nur zu sehr einsichtig, daß diese Aufgabe weder die Regierung noch die Opposition allein bewältigen kann. Hier stehen wir gemeinsam in der Pflicht.
Sicher ist in den letzten Jahren — nicht zuletzt dank der Psychiatrie-Enquete — einiges verändert und verbessert worden. Anlaß zu selbstzufriedenem Schulterklopfen besteht dennoch nicht. Die Grundeinstellung unserer Bevölkerung zum psychisch Kranken hat sich nicht wesentlich verändert. Sie ist weiterhin durch Verdrängen, Verwahren, Verweigern gekennzeichnet. Auch mit noch so viel Geld werden wir nichts bewegen, wenn wir nicht die Gemüter der Bürger bewegen. Es ist einer ernsthaften Analyse wert, zu untersuchen, .warum sich die Haltung der Deutschen gegenüber psychisch Kranken grundlegend von der anderer Völkern unterscheidet.
Sicher gibt es auch dort hin und wieder Vorurteile gegenüber psychisch Kranken. Dies rührt zu einem großen Teil daher, daß psychische Erkrankungen dem einzelnen Bürger schwerer erklärt und erläutert werden können, daß sie für ihn schwerer begreifbar sind und seit jeher mit einer Aura des Geheimnisvollen umgeben sind. Wer sich mit einem Schizophrenen ganz fehlerfrei und logisch unterhält und eine Stunde später erleben muß, wie eben dieser Gesprächspartner völlig unkoordinierte, wirre und fehlerhafte Dinge tut, muß der nicht
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annehmen, sein Gesprächspartner sei gar nicht krank, sondern wirklich „verrückt"?
Jeder krankhafte Prozeß — sei es eine Blinddarmentzündung, ein Herzanfall oder eine Psychose — bedeutet eine Abweichung von der Norm, der Gesundheit, ist also anomal. Warum aber empfinden wir nur beim psychisch Kranken, er sei nicht normal?
Es gibt Vorurteile gegen psychisch Kranke. Es gibt sie in England wie in Spanien, in Frankreich wie in Polen. Aber warum hat man es dort geschafft, die Vorurteile durch Information und Aufklärung abzubauen? Warum ist das in der Bundesrepublik noch nicht gelungen?
Ich glaube, der entscheidende Unterschied liegt in der Behandlung der psychisch Kranken während der Zeit des Nationalsozialismus. Die unvorstellbare Pervertierung der Werte, und die verbrecherische Klassifizierung von Menschen in solche mit lebenswertem Leben und solche mit lebensunwertem Leben wirken unheilvoll bis in die heutige Zeit nach. In einer Zeit, in der in anderen Ländern die Psychiatrie humanisiert wurde und entscheidende Fortschritte erfahren hat, wurde sie in Deutschland enthumanisiert. Am Ende stand die Verneinung des menschlichen Lebens als unantastbarer Wert an sich. Hadamar ist insoweit die unvermeidliche Konsequenz einer schrecklichen Entwicklung gewesen.
Die Klassifizierung kranker Menschen in Normale und Nichtnormale, das Schüren vorhandener Vorurteile gegen die Nichtnormalen, ihre Zuordnung zu den Lebensunwerten und am Ende der Mord — dies ist der entscheidende Unterschied für die Entwicklung der Psychiatrie in Deutschland und in anderen Ländern. Dieser Unterschied wirkt verheerend bis in die heutige Zeit, und das, obwohl die Hälfte unserer Bürgerinnen und Bürger die Greuel der NS-Zeit auf Grund ihres Lebensalters nur noch aus Büchern und Erzählungen kennen können. Hinsichtlich der Einstellung der Gesellschaft zum psychisch Kranken stehen wir dort, wo wir — gemeinsam mit anderen Ländern — zu Beginn der 30er Jahre, vor der NS-Zeit, schon einmal gestanden haben.
Angesichts dieser schweren Hypotheken der Vergangenheit, die schrittweise abzutragen in der Bundesrepublik versucht worden ist, ist es bedauerlich, daß im Bereich der Psychiatrie größere Fortschritte noch nicht gelungen sind. Der Abbau der Vorurteile in der Bevölkerung gegenüber unserem psychisch kranken Mitbürger kann nur gelingen, wenn, ausgehend vom politischen Raum — und das ist mehr als dieser kleine, aber illustre Kreis von Zuhörern —, eine breite informierende und aufklärende öffentliche Diskussion in Gang gesetzt wird. Dies ist — ich betone es noch einmal — eine Voraussetzung dafür, daß die für die Verbesserung der Lage der psychisch Kranken erforderlichen Mittel wirklich mit Erfolg eingesetzt werden können.
Die Interessen der einzelnen Gruppen unserer Gesellschaft sind wohlorganisiert. Eine Vielzahl
von Interessenvertretern setzen sich jeweils für Rechte und Vorurteile ihrer Gruppen ein. Wo, frage ich, sind die Interessenvertreter der psychisch Kranken? Sicherlich, es gibt eine Vielzahl von Ärzten, Sozialarbeitern. und Krankenpflegekräften, die für die Interessen der ihnen anvertrauten Patienten streiten. Ihnen gebührt dafür unser Dank.
Trotzdem müssen wir erkennen, daß diese Bürger allein zu schwach sind, die Mauern gesellschaftlicher Vorurteile einzureißen. Ohne unsere Hilfe, ohne die Hilfe der Politiker kann der entscheidende Stoß, der diese Mauer zum Einsturz bringt, nicht gelingen.
Dabei ist nicht der große, alles überragende Wurf, die Lösung aus einem Guß gefragt, sondern gefragt sind zähe und harte Überzeugungsarbeit. Hier gilt einmal mehr die Erkenntnis des verstorbenen, unvergessenen Bundespräsidenten Gustav Heinemann:
Wir müssen uns bemühen um denjenigen kleinen Schritt, der zugleich ein strategischer Schritt ist, weil er die Tür für die weiteren kleinen Schritte zur wirksamen Umgestaltung öffnet.
Deshalb brauchen die psychisch Kranken die Abgeordneten als ihre Interessenvertreter, auch — lassen Sie mich das so provokativ sagen — wenn viele von ihnen keine Stimme haben, um es uns bei Wahlen zu danken. Unsere Verpflichtung auf das Gemeinwohl unseres Volkes ist zugleich unsere besondere Verpflichtung, Interessenvertreter für die Benachteiligten zu sein.
Ich habe dies deshalb so umfangreich ausgeführt, weil ich meine, daß die Diskussion der wichtigen Einzelheiten der Psychiatrie-Enquete uns in die Irre führen würde und wir uns dabei selbst verlieren würden, wenn wir nicht zugleich die Voraussetzungen angeben würden, die für einen Erfolg unserer Bemühungen erforderlich sind, bevor wir über Details reden können und Detailprobleme lösen können.
Lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen, den Sachverständigen der Enquete seitens meiner Fraktion nachhaltigen Dank für ihre umfangreiche Arbeit auszusprechen.
Diese Arbeit ist — im Sinne des Wortes — bisher beispiellos und für die Zukunft beispielhaft. Mit Fleiß und großer Sorgfalt sind hier Fakten zusammengetragen und Lösungsvorschläge aufgezeichnet worden.
Noch während die Kommission an der Arbeit war, konnte einer ihrer Vorschläge verwirklicht werden. Durch eine Änderung der Reichsversicherungsordnung konnte erreicht werden, daß psychiatrische Kiniken Patienten auch ambulant behandeln dürfen. Dies war sicherlich nur eine kleinere Verbesserung in Richtung auf die Beseitigung dessen, was man in der Kürzel-Sprache unserer Zeit
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,,Drehtür-Psychiatrie" nennt. Leider — ich sage dies ohne Polemik — hat diese Maßnahme damals nicht die Zustimmung des ganzen Hauses gefunden. Ich hoffe sehr, daß die weiteren notwendigen gesetzgeberischen Schritte zur Verbesserung der Psychiatrie in Zukunft in breiter Übereinstimmung in diesem Hause getan werden können.
Die Ziele der SPD-Bundestagsfraktion im Bereich der Versorgung der psychisch Kranken sind in Übereinstimmung mit den Ergebnissen der Enquete-Kommission festgeschrieben, de jure und vor allem de facto die Gleichstellung der psychisch Kranken mit den körperlich Kranken, dem Rechte nach und in der Praxis Gleichstellung, Aufbau einer orts- und patientennahen Therapie und Versorgungskette und Erprobung der vorliegenden Vorschläge in Modellversuchen, Verwirklichung des Grundsatzes, daß die ambulante Therapie gegenüber der stationären Therapie den Vorrang hat. Dies ist ein Stück weit auch eine Antwort auf die Fragen, die der Kollege Picard zu Recht über die weitere Entwicklung gestellt hat, wobei der Institutionenegoismus mit dem, was sozusagen Schubkraft aus den Vorstellungen der Enquete ist, die andere Bremse ist, die wir auch sehen müssen. Viele haben sich hinter den renovierten Fassaden häuslich eingerichtet. Auch die gilt es zu schubsen; ich würde das dick unterstreichen. Dazu gehört logisch der Abbau der psychiatrischen Großkrankenhäuser, die Einrichtung ortsnaher psychiatrischer Abteilungen in Allgemeinkrankenhäusern. Meine Kollegen werden zu den einzelnen Punkten noch detaillierter Stellung nehmen. Lassen Sie mich trotzdem bereits jetzt auf einige wenige Punkte eingehen.
Zur Frage der Gleichstellung von psychisch Kranken mit körperlich Kranken möchte ich für meine Fraktion folgendes feststellen. Der Erlaß des Reichsarbeitsministers und des Reichsinnenministers aus dem Jahre 1942, der nach einem Urteil des Bundessozialgerichtes als Rechtsverordnung weitergilt und der unter dem Kurztitel „Halbierungserlaß" die Übernahme der Kosten für stationäre psychiatrische Behandlung regelt, muß aufgehoben werden. Die SPD-Bundestagsfraktion wird dafür Sorge tragen, daß dieser diskriminierende Erlaß noch in dieser Legislaturperiode aufgehoben wird.
Meine Fraktion wird sich dafür einsetzen, daß diese Aufhebung durch eine gesetzliche Regelung abgesichert wird, die verhindert, daß Rechtsstreitigkeiten zwischen Krankenkassen und Sozialhilfeträger über die Frage Krankheitsfall/Pflegefall auf dem Rücken des Kranken ausgetragen werden. Eine solche Begleitregelung wird deshalb eine Übergangsregelung für psychisch Kranke sein, da die Klärung der Frage der Kostenträgerschaft bei Pflegebedürftigkeit ohnehin ansteht. Die Klärung dieser Frage wird die Abgrenzung der Krankheitsvon den Pflegefällen — und damit auch die Kostenübernahme — für körperlich und seelisch Kranke einheitlich regeln.
Die Bemühungen, den Halbierungserlaß aufzuheben, werden zur Zeit von einer seltsamen, zwar noch leisen, aber dennoch bereits hörbaren Musik begleitet. Bekanntlich wird in vielen Fällen der Halbierungserlaß derzeit von Kostenteilungsabkommen zwischen Krankenkassen und Trägern der Sozialhilfe überlagert. Diese Kostenteilungsabkommen gehen dem Halbierungserlaß vor. Es ist nun zu vernehmen, daß einige Beteiligte die Aufhebung des Halbierungserlasses dazu mißbrauchen wollen, auch die Kostenteilungsabkommen zu kündigen. Auf diesem Wege soll erreicht werden, die eigene Beteiligung an den finanziellen Lasten der psychiatrischen Versorgung zu mindern, mit unterschiedlichen Erwartungen. Ich möchte an die Adresse einiger Finanzbürokraten klar und deutlich sagen, sosehr solch ein Verfahren ihrem Interesse dienen mag, so unanständig wäre dies auch.
Hier würde auf dem Rücken der ohnehin unterprivilegierten psychisch Kranken versucht, politische Machtfragen mit finanziellen Auswirkungen in die eine oder andere Richtung zu beantworten. Wir wollen hier ganz ausdrücklich Neugierige warnen. Die SPD-Bundestagsfraktion würde solche krämerischen Machenschaften öffentlich ebenso deutlich wie schonungslos bloßstellen, egal, wen es trifft. Diejenigen, die mit solchen Gedanken spielen, sollen klar wissen, daß sie politischen Widerstand finden.
Im Zusammenhang mit der Aufhebung des Halbierungserlasses wird zur Zeit auch über die Beitragsstabilität in der gesetzlichen Krankenversicherung diskutiert. Hier und da ist das Argument zu hören, Maßnahmen in der Psychiatrie seien dem Gebot der Beitragssatzstabilität in der Krankenversicherung unterzuordnen. Im Klartext formuliert heißt dies doch: Weil wir die Beiträge nicht erhöhen wollen, müssen die psychisch Kranken weiter in der Situation leben, die von der Enquete beschrieben worden ist. Wir würden mit einem solchen Argument, sollten wir es akzeptieren, die psychisch Kranken ausdrücklich aus der Solidarität der angeblich Normalen ausschließen. Auch dies kann nicht angehen. Beitragsstabilität und Verbesserungen in der Psychiatrie sind keine alternativen Ziele. Wer so argumentiert, bietet eine Scheinalternative. Hier ist nicht ein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-Als-auch gefragt.
Wenn ich mir überlege, daß eine Kassenart die Begrenzung des Kassenzuschusses für Zahnersatz auf 80 % dadurch unterläuft, daß sie die gesetzlich vorgesehene Härtefallregelung so ausdehnt, daß durchweg 100 % der Kosten bezuschußt werden, oder etwa, daß versucht wird, über den Satzungsumweg die selbstverständliche familiäre Hilfe im Krankheitsfall — die sogenannte Oma auf Krankenschein —, die wir mit dem Kostendämpfungsgesetz abgeschafft haben, wieder einzuführen, so ist das angesichts dieser Diskussion bemerkenswert. Wie wollen wir es denn mit unserem Gewissen vereinbaren, auf der einen Seite zigtausend DM teuren Zahnersatz durch die Kassen erstatten zu lassen und auf der anderen Seite dem psychisch
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Kranken den Abbau von Diskriminierung zu verweigern?
Noch ein Wort zum Grundsatz des Vorrangs von ambulanter vor stationärer Therapie. Voraussetzung für einen solchen Grundsatz ist selbstverständlich ein entsprechendes qualitativ ausreichendes Therapieangebot im ambulanten Bereich. Dann gilt, daß die Aufrechterhaltung der häuslichen Umwelt und der familiären Bindung im ambulanten Bereich selbstverständlich einen besseren Therapieerfolg verspricht als im stationären Bereich. Dies ist auch einsichtig und unter Fachleuten wie unter Laien nicht mehr so strittig.
Vor einigen Wochen bin ich auf diese Tatsache mit der Bemerkung angesprochen worden, es sei an der Zeit, einmal deutlich zu machen, daß dies auch seine Grenzen habe. Die Tendenz unter Aufrechterhaltung der familiären Bindung eher ambulant denn stationär zu therapieren, nehme Überhand und drohe zu erheblichen persönlichen Belastungen zu führen. Man kann dies selbstverständlich im Einzelfall nicht ausschließen. Die tatsächliche Entwicklung ist nach meinem Eindruck jedoch eine andere.
Ich halte es für erforderlich, deutlich zu machen, daß nicht die Behandlung der Kranken in ihrer häuslichen Umwelt, in der Familie tendenziell an eine Grenze gestoßen ist, sondern umgekehrt das Abschieben von Kranken und Behinderten in Heime mittlerweile ein Ausmaß erreicht hat, daß dort gesagt werden muß, daß die Grenze erreicht ist. Dies ist das Problem.
Wir haben es in manchen Bereichen geradezu mit Abschiebeautomatiken bei Kranken und Behinderten zu tun. Dieser menschenunwürdigen Tendenz muß entgegengetreten werden. Das Heim oder das Krankenhaus muß die letzte Möglichkeit bleiben, einem Kranken oder Behinderten zu helfen. Dieses Bewußtsein von Solidarität muß neu geweckt werden.
Es wird sicherlich viel persönlicher Einsatz, aber auch einiges an Geld erforderlich sein, um die Situation der psychisch Kranken wirksam zu verbessern. Wir sind aufgefordert, dieses Problem im Dialog mit unseren Bürgerinnen und Bürgern offensiv aufzugreifen und dabei problembewußt zu machen. Dabei kommt der veröffentlichten Meinung eine besondere Bedeutung zu. Das setzt voraus, daß die Frau oder der Mann an der Kamera, in den Redaktionsstuben der Zeitungen und den Rundfunkanstalten — ich habe es vorhin schon gesagt — nicht nur an den Aufmacher des Tages, an die billige Sensation denkt, sondern daß er hilft, geduldig, beharrlich und kontinuierlich im Alltag über Probleme der psychisch Kranken zu berichten.
Für meine Fraktion will ich nicht versäumen, einem Kollegen zu danken, der auf Grund seiner Aufgabe kaum Dank erhält. Ich meine den Bundesfinanzminister, der wie selbstverständlich in der Frage der psychisch Kranken Engagement bewiesen hat. Sicherlich mag der eine oder andere sagen, die vom Finanzminister zur Verfügung gestellten Mittel reichten nicht aus, sie seien nur der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein. Dies ist wahrscheinlich so, aber die Millionen helfen weiter, und sie haben gezeigt, daß der Finanzminister unseren Sorgen nicht abweisend gegenübersteht. Dies läßt für die Zukunft hoffen, insbesondere dann, wenn das Geld sinnvoll und konzeptionell genutzt wird.