Rede von
Walter
Picard
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor neuneinhalb Jahren, im April 1970, hat der Deutsche Bundestag auf Grund eines Antrages meiner Fraktion zum erstenmal über die psychiatrische Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland debattiert. Auf Grund dieses Antrages gab es dann zwei Anhörungen im Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit. Eine davon fand in einem Landeskrankenhaus statt, wo wir uns sehr beeindruckt mit dem Problem direkt konfrontiert sahen. Dies hat dann zu einer einstimmigen Beschlußempfehlung des Hohen Hauses an die 'Regierung geführt, eine eingehende Untersuchung über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland anstellen zu lassen. Diese sogenannte Psychiatrie-Enquete wurde der Regierung vor fast genau vier Jahren zugeleitet, die dann ihrerseits dreieinhalb Jahre brauchte, um dem Parlament eine Stellungnahme zu überreichen, auf Grund deren wir heute endlich sowohl über die Enquete als auch die Stellungnahme debattieren können.
Natürlich ist es unmöglich, auf die Vielzahl der einzelnen Punkte, insbesondere auf die Empfehlungen, einzugehen. Ich muß mich nicht nur aus Zeitgründen auf einige wenige Bemerkungen beschränken, von denen ich meine, daß sie die wesentlichen Punkte berühren. Wir haben bisher das Thema der psychiatrischen Versorgung und alles, was damit zusammenhängt, in diesem Hause, in seinen Ausschüssen und auch in der Offentlichkeit als Mitglieder des Hohen Hauses im wesentlichen ohne kontroverse Diskussionen, ohne Spannungen und Auseinandersetzungen behandelt. Ich denke, daß wir dabei auch bleiben werden. Dennoch muß ich einige Kritik aussprechen. Ich denke, daß meine Fraktion recht hat, wenn sie bedauert, daß die Bundesregierung dieses so dringende gesundheits-und allgemeinpolitische Problem so zögerlich behandelt hat. Daraus kann man nicht schließen, daß das Interesse der Bundesregierung übermäßig groß ist. Es ist der Verdacht entstanden und geäußert worden, daß sich die Bundesregierung in die Reihe derer einreihe, die die Psychiatrie nach wie vor als ein Randproblem behandeln und es gar zu verdrängen suchen.
Im Zusammenhang mit der Arbeit der Sachverständigenkommission, mit der Psychiatrie-Enquete selbst, ihrer Veröffentlichung und einer Reihe von Tagungen, Berichten in Presse, Rundfunk und Fernsehen, für die man dankbar sein muß, auch wenn sie manchmal sehr kritisch und schockierend gewesen sind, ist das Problembewußtsein der Öffentlichkeit bei Politikern, Trägern und Verbänden erstaunlich gewachsen. Das ist gut so; denn wir müssen uns verdeutlichen, um welche Gruppe von Menschen es sich handelt. Es ist keineswegs, wie häufig angenommen wird, eine kleine Minderheit, sondern eine relativ große Gruppe von Menschen, die als Stiefkinder unserer Gesellschaft häufig in noch viel zu großen Krankenhäusern, weit entfernt von Familien und Freunden, mangelhaft versorgt,
gegenüber körperlich Kranken stark benachteiligt, unter immer noch menschenunwürdigen Umständen — das ist ein Zitat aus der Stellungnahme der Psychiatriereferenten der Bundesländer — und von der Umwelt diskriminiert leben müssen. Dieses sind sehr klare, nüchterne und einfache Feststellungen im Blick auf einen für unseren Staat äußerst betrüblichen Tatbestand, wobei wir davon überzeugt sind, daß unser Staat ein sozialer Rechtsstaat ist. Die Wahrscheinlichkeit, an seelischen Störungen zu erkranken, ist weitaus größer, als allgemein 'angenommen wird. Die Sachverständigenkommission hat u. a. festgestellt, daß 9 % der Bevölkerung wegen psychisch bedingter oder seelisch mitbedingter Störungen einen praktischen Arzt aufsuchen. Diese Gruppe umfaßt somit fast 6 Millionen Menschen jährlich.
Das bedeutet, meine Damen und Herren, daß der Hausarzt, der Allgemeinpraktiker traditoneller Art, viel stärker als bisher in das Gesamtsystem der Versorgung integriert werden muß. Bei einem internationalen Vergleich schneiden wir als Bundesrepublik, die wir sonst mit Recht stolz darauf sind, im sozialen Bereich eine führende Position einzunehmen, schlecht ab. Wir liegen — verglichen mit einigen Nachbarländern — um 10 bis 15 Jahre in der Entwicklung der deutschen psychiatrischen Versorgung zurück. Das hat vielerlei Gründe, auf die ich nicht eingehen will. Aber es darf uns nicht daran hindern, eine etwas schnellere Gangart einzuschlagen.
Immer noch muß man zu Recht — wie kürzlich im Deutschen Fernsehen geschehen — die Psychiatrie als sozialen Notstand Nummer eins bezeichnen. In Fragen der psychiatrischen Versorgung ist die Bundesrepublik so etwas wie ein Entwicklungsland.
Die am 31. August 1971 konstituierte Sachverständigenkommission hat schon im Oktober 1973 einen Zwischenbericht vorgelegt, in dem auf die brutale Realität in der stationären Versorgung psychisch Kranker und Behinderter hingewiesen wird. Es wurden Sofortmaßnahmen zur Befriedigung humaner Grundbedürfnisse gefordert, und im Anschluß an den damaligen Zwischenbericht wurden auch überall Sofortprogramme aufgestellt, die in einigen Bereichen — besonders in dem der stationären Versorgung — sichtbare Veränderungen bewirkt haben. Dennoch können wir uns damit nicht zufriedengeben, meine Damen und Herren, daß sich in unseren großen psychiatrischen Einrichtungen die äußeren Verhältnisse gebessert haben. Inzwischen schreiben wir das Jahr 1979. Die eingetretene Verzögerung bei der Behandlung der Enquete führte dazu, daß sich Enttäuschung und Resignation breitgemacht haben bei den Betroffenen, bei deren Angehörigen und bei dem Personenkreis, der im Bereich der psychiatrischen Versorgung eine nicht leichte verantwortungsvolle Aufgabe zu erfüllen hat. Die an die Stellungnahme der Bundesregierung zum Psychiatrie-Bericht geknüpften hohen Erwartungen sind enttäuscht worden. Das liegt auch an dieser Stellungnahme und nicht nur an einer gewissen Zwangssituation. Unter Hinweis auf mangelnde Kompetenz in einem weit überzogenen
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Maße läßt die Stellungnahme der Bundesregierung einen hinreichenden Mut zu einer klaren zukunftweisenden gesundheitspolitischen Aussage vermissen. Vergeblich sucht man nach eindeutigen Schwerpunkten und Akzenten und nach einer konkreten Bekundung des Willens, die notwendige Reform der Versorgung psychisch Kranker und Behinderter in entscheidenden Punkten voranzutreiben. Vielmehr erfahren die Empfehlungen der Sachverständigenkommission eine durchgehende Relativierung, wenn das Augenmerk beständig auf mangelnde Ressourcen, auf langfristige komplikationsreiche Realisierung, auf Überprüfung der Empfehlungen, Berücksichtigung regionaler Strukturen usw. gelenkt wird.
Folgt man der Stellungnahme der Bundesregierung, so stellt man fest, daß ihr eindeutiger und klarer politischer Wille, was jetzt zu geschehen hat, geschehen könnte, weitgehend unkenntlich bleibt. Die Stellungnahme der. Bundesregierung — so scheint es nach einer eingehenden Lektüre tatsächlich zu sein — ist eher ein Kommentar zu der Stellungnahme der elf Bundesländer.
Lassen Sie mich hierzu eine Bemerkung machen. Natürlich wissen wir, daß der Bund im Bereich der Psychiatrie oder, allgemeiner gesagt, im Bereich des Gesundheitswesens keine Alleinzuständigkeit, sondern nur eine sehr reduzierte Zuständigkeit hat. Das darf uns aber nicht daran hindern, ein allgemein drängendes und bedrückendes Problem in diesem Hohen Hause zu erörtern und die Bundesregierung zu veranlassen, dazu eindeutig ihre Meinung zu sagen.
Welche geringe gesundheitspolitische Bedeutung und welch geringen gesundheitspolitischen Stellenwert muß wohl die Ministerin der Versorgung psychisch Kranker zumessen, wenn es bei der Kabinettsberatung schließlich zu einer Aktion des Bundesfinanzministers kommen mußte, um einen finanziellen Beitrag der Bundesregierung von einiger Bedeutung für die Reform auf die Beine zu stellen? Mit welchem Kleinmut muß eine Ressortministerin in diese Kabinettssitzung gegangen sein — ohne sich vorher entsprechende Vorstellungen gebildet zu haben und diese begründen zu können?
Zwar ist es zu begrüßen — und wir tun das —, daß sich die Bundesregierung die vier Prinzipien der Sachverständigenkommission zur Reform der psychiatrischen Versorgung zu eigen macht, die überall in der Welt als verbindlich anerkannt sind, nämlich die gemeindenahe Versorgung, die Gleichstellung von psychisch und somatisch Kranken, eine bedarfsgerechte und umfassende Versorgung und die Koordination aller Versorgungsgebiete. Dennoch sind die Ausführungen der Bundesregierung zu den einzelnen Punkten dürftig. Besonders unbefriedigend erweist sich die Stellungnahme hinsichtlich der Verwirklichung einer gemeindenahen psychiatrischen Versorgung; denn bedenkenlos wird die Auffassung der Psychiatriereferenten der Bundesländer übernommen, die psychiatrischen Krankenhäuser müßten Kernstück der Versorgung bleiben. Ich verweise auf die Seiten 7 und 15 der
Stellungnahme, wo diese Prioritätensetzung der Psychiatriereferenten der Bundesländer vermerkt ist.
Niemand hat je bestritten oder bestreitet es heute, daß die stationäre Versorgung psychisch Kranker auch zukünftig auf bestehende psychiatrische Krankenhäuser angewiesen ist. Jedoch zeigt sich in der Stellungnahme der Bundesregierung — und nicht nur darin, sondern auch in der öffentlichen Diskussion — eine Tendenz zur reformwidrigen Festschreibung des Status quo. Es wird nicht zur Kenntnis genommen, daß eine Entwicklung zu fördern ist, welche dem angemessen dimensionierten psychiatrischen Krankenhaus, d. h. nicht einer übergroßen Einrichtung, den ihm zukommenden Platz zuweist, nämlich ein Glied in dem vielfältigen System von Versorgungsangeboten zu sein, das definierte Aufgaben zu erfüllen hat.
Darüber hinaus hat die Bundesregierung hierbei, so scheint mir, einen gesundheitspolitisch wichtigen Faktor außer acht gelassen. In der von ihr veranlaßten Planungsstudie zur Psychiatrie-Enquete wird nachgewiesen, daß die stationäre Versorgung mit weitem Abstand die teuerste Versorgung ist. Das heißt mit anderen Worten: Auch wenn wir wirtschaftlich denken — wir sind ja wohl dabei, im Gesundheitswesen wirtschaftlich zu denken —, muß man einen stärkeren Akzent auf die gemeindenahe Versorgung legen. Eine Gegenüberstellung des Versorgungsaufwandes für Wohnheimpatienten einerseits und Krankenhauspatienten andererseits zeigt deutlich, daß die Betreuung von Wohnheimpatienten bei einer sogar besseren personellen Ausstattung, als wir sie normalerweise in der Pflegeabteilung eines Krankenhauses haben, nicht nur humaner, sondern auch finanziell wirtschaftlicher ist. So ist eine Reduzierung der Kosten, die in diesem Bereich von großer Bedeutung ist, um bis zu 50 % erreichbar.
Eine entscheidende Rolle 'bei der gemeindenahen psychiatrischen Versorgung spielt der Ausbau der ambulanten Dienste. Dort fehlen in hohem Maße niedergelassene ärztliche und nichtärztliche Psychotherapeuten. Wir müssen uns in absehbarer Zeit dennoch, auch wenn das schwierig ist, mit der Verabschiedung eines Psychotherapeutengesetzes beschäftigen. Es fehlen Beratungsstellen für Kinder, Jugendliche und Eltern, es fehlen niedergelassene Psychagogen, psychosoziale Versorgungseinrichtungen, ambulante Dienste im Krankenhaus.
Ich sage das deshalb, weil die Mehrzahl aller psychisch Kranken, etwa 600 000 im Jahr, wie ich vorhin schon ausführte, ambulant versorgt wird und nur etwa ein Drittel, nämlich 200 000, in unserem jetzigen Versorgungssystem stationär versorgt werden muß. Bei einer Veränderung läßt sich diese Zahl der stationären Aufnahmen reduzieren und zumindest die Verweildauer für eine Vielzahl von ihnen noch verkürzen. Deshalb bedeutet die Fortsetzung der bisherigen Politik mit dem Hauptakzent auf dem psychiatrischen Krankenhaus eine nicht zu verantwortende und allen Erkenntnissen widersprechende Zementierung des stationären Bereichs.
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Wir sollten uns nicht scheuen, hier die Akzente anders zu setzen, und zwar merklich anders, als sie in der Stellungnahme der Bundesregierung gesetzt werden. Nicht umsonst hat der Enquete-Bericht in seinem Prioritätenkatalog nach dem Auf- und Ausbau der komplementären und ambulanten Dienste den Aufbau psychiatrischer Abteilungen in Allgemeinkrankenhäusern gefordert. Eine gemeindenahe Psychiatrie ist ohne psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern nicht möglich. Eine Reintegration der Psychiatrie in die Allgemeinmedizin, ein Abbau von Vorurteilen, eine Eingliederung des psychisch Kranken in die Allgemeinmedizin und eine Gleichstellung des psychisch Kranken mit dem somatisch Kranken werden ohne Allgemeinkrankenhäuser mit Fachabteilungen nicht möglich sein.
Seit der Veröffentlichung des Zwischenberichts 1973 ist entgegen vielen Vermutungen im Bereich der psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern kaum etwas geschehen. Eine noch gegenwärtig laufende, nicht abgeschlossene Untersuchung macht aber deutlich, daß die Zahl der inzwischen entstandenen Fachabteilungen an Allgemeinkrankenhäusern viel zu niedrig ist, als daß man von einer Tendenzwende sprechen könnte; in der Zwischenzeit ist fast die gleiche Zahl an neuen Krankenhäusern entstanden. Auch die Planung für die Zukunft weist die gleiche Tendenz aus. Das ist eine gefährliche Entwicklung! Es geht aus dieser Untersuchung ganz eindeutig hervor, daß die deutsche psychiatrische Versorgung nicht nur am psychiatrischen Krankenhaus als einem Glied der Versorgungskette festhält — was notwendig ist —, sondern daß dessen Prädominanz auch für die Zukunft erhalten bleiben soll. Dies wäre ein gefährlicher, ein falscher Weg!
Meine Fraktion wäre der Bundesregierung außerordentlich dankbar, wenn sie die gemeindenahe Versorgung und damit die verstärkte Einrichtung von Fachabteilungen zum Ziele ihrer Bemühungen auch bei der beabsichtigten Modellfinanzierung machte.
Wir halten die Einführung des § 368 n Abs. 6 in die Reichsversicherungsordnung für einen großen Fortschritt; doch erfordern die bei der Umsetzung in die Praxis — nämlich bei der Ermöglichung von ambulanter Betreuung durch psychiatrische Krankenhäuser — auftretenden Finanzierungsschwierigkeiten ein weiteres energisches Bemühen und eine entsprechende Verbesserung des Leistungsrechts. Ich bin mir klar darüber, daß das eine sehr schwierige Aufgabe ist; aber wir sind auf dem richtigen Wege gewesen, als wir diesen Paragraphen entsprechend geändert haben.
Ich will. es mir ersparen, über die komplementären Dienste im einzelnen zu sprechen. Ich mache nur darauf aufmerksam, daß die komplementären Dienste, d. h., all die vielfältigen Einrichtungen der Vor- und Nachsorge und die Übergangseinrichtungen unerläßlich sind. Dazu wird mein Kollege Burger eingehend Stellung nehmen.
Seit den 70er Jahren haben sich die Landeskrankenhäuser zunehmend zu klinischen Behandlungszentren gewandelt. Man spricht von einer Klinifizierung der Psychiatrie. Dieser Prozeß ist uneingeschränkt zu begrüßen. Dennoch haben wir erfahren müssen, daß Tausende nicht mehr krankenhauspflegebedürftiger Patienten in Heime verlegt worden sind, die ihrerseits leider oft für die Betreuung dieser Personen weder vom Raumangebot noch von der Personalausstattung noch von der geographischen Lage her geeignet sind. Von einer gezielten und ausreichenden Therapie kann ebenfalls weithin keine Rede sein.
So ist eine zwar zu begrüßende Entwicklung innerhalb der Reform der Psychiatrie auf Kosten und zu Lasten der Langzeitkranken und -behinderten eingeleitet worden. Auch der Bundesregierung ist bekannt, daß die Situation auf dem Heimsektor besorgniserregend und eine Herausforderung für die Psychiatrie ist. Bei einer Verlegung aus dem Landeskrankenhaus und anderen stationären Einrichtungen in Heime konnten oft die medizinischen und sozialen Bedürfnisse der Bewohner nicht hinreichend berücksichtigt werden. Das ist eine eklatante Benachteiligung der Gruppe der psychisch und sozial Schwerbehinderten. Letzten Endes bedeutet das eine Herausnahme einer großen Gruppe aus der Verantwortung der Psychiatrie. Wir dürfen das nicht zulassen!
Als unbefriedigend und wenig überzeugend ist die Auskunft der Bundesregierung anzusehen, wenn sie zwar die Reform des Vormundschafts-
und Pflegschaftsrechts für erforderlich hält, dabei aber nicht erkennen läßt, auf welche Weise bis jetzt auch nur Vorarbeiten eingeleitet worden sind. Es scheint, als ob es hier bei einer verbalen positiven Äußerung geblieben ist — ohne den Willen, auch wirklich tätig zu werden.
Ein sehr trauriges Schauspiel bietet die seit Jahren immer wieder angekündigte und dann doch verschobene Beseitigung des sogenannten Halbierungserlasses; nicht deshalb, weil dieser sogenannte Halbierungserlaß aus dem Jahre 1942, aus der Nazizeit stammend und vom Geiste der damaligen Behandlung psychisch Kranker geprägt, heute noch angewandt würde. Aber da dieser Erlaß nicht mehr angewandt wird, könnte er längst beseitigt sein. Warum wird er nicht beseitigt? — Weil es bis jetzt keine adäquate, ihn auffangende Kostenregelung gibt, so daß es dann doch wohl bei demselben Zustand bleibt, den wir haben, nämlich daß der psychisch Kranke im Grunde einer Regelung unterworfen ist, wonach die Hälfte der durch ihn entstehenden Kosten der Sozialhilfe aufgebürdet wird. Wenn man einen solchen Erlaß wieder in Kraft setzte, könnten die Kosten für die Behandlung und Betreuung psychisch Kranker letzten Endes von dem zu Behandelnden selbst getragen werden. Daß dieser Erlaß noch nicht aufgehoben ist, erweckt den Verdacht, daß man aus finanziellen Gründen eine Gleichstellung der psychisch Kranken mit den körperlich Kranken vermeidet. Wir er-
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warten dringend, daß dieser Erlaß ersatzlos gestrichen wird, weil er ein Hinderungsgrund für die Gleichstellung der psychisch Kranken mit den somatisch Kranken ist.
Seit den ersten Anfragen im Deutschen Bundestag Ende der 60er Jahre sind zehn Jahre vergangen, seit der Vorlage des Zwischenberichts sechs Jahre, seit der Vorlage des Endberichts vier Jahre. Was hat die Bundesregierung in der Zwischenzeit getan, um für die dringend notwendige Reform der Versorgung psychisch Kranker gerüstet zu sein? Welche Vorstellungen hat sie auf der Basis des Sachverständigenberichts entwickelt, welche Konzeptionen? Welche Fachleute hat sie für die Durchführung, wenn es eine solche Konzeption geben sollte, ins Auge gefaßt? Dabei spreche ich nicht von den seit 1976 laufenden zehn kleineren Modellversuchen, die, was Planung und Koordination angeht, mehr schlecht als recht laufen. Ich spreche von den Millionenbeträgen, die für die nächsten Jahre vorgesehen sind. Darüber gibt es, glaube ich, in diesem Hause keinen Streit. Wir werden den vorgesehenen Beträgen zustimmen; wir begrüßen es.
Nur: Es ist bis heute nicht zu erkennen, daß seit der Übergabe des Sachverständigenberichts 1975 eine Konzeption erarbeitet wurde, um jetzt eine sinnvolle Planung vorlegen zu können. Dies ist betrüblich. Wir werden bei den Haushaltsberatungen darauf noch zu sprechen kommen, daß nach jahrelangem Vorliegen der Empfehlungen, die von einer breiten Zustimmung im Kreise der Betroffenen getragen sind, im zuständigen Ministerium nicht frühzeitig für das vorgesorgt wurde, was man tun könnte, wenn man entsprechende Mittel hätte. Nun kann es passieren, daß wir die Mittel haben, aber nicht in der Lage sind, sie gezielt auszugeben. Es wäre falsch, große Beträge in die Reform der Psychiatrie zu investieren, ohne die damit verbundenen Gefahren zu vermeiden.
Wir haben in den Vereinigten Staaten ein Beispiel dafür, was passieren kann, wenn man über mehrere Jahre hinweg sehr großzügig finanziert, diese Finanzierung dann aber nicht fortgesetzt werden kann. Dann treten eine Krise und ein Rückschlag ein, die uns um mehr Jahre zurückwerfen, als vorher zu befürchten war.
Ich hoffe deshalb, meine Damen und Herren, daß die Bundesregierung sehr rasch eine solche Konzeption entwickelt, die realisierbar ist. Wir haben es nämlich mit hohen Beträgen zu tun, und es wäre nicht zu verantworten, diese Beträge auszugeben, ohne der Gefahr hinreichend vorgebeugt zu haben, daß damit Fehlentwicklungen finanziert werden.
Ich komme in diesem Zusammenhang auf eine weitere Empfehlung der Sachverständigenkommission, die nicht die Gegenliebe der Bundesregierung gefunden hat, jedenfalls nicht die Unterstützung der Bundesregierung. Die Sachverständigenkommission schlägt vor, eine Institution auf der Ebene der Bundesländer zu gründen, um die Entwicklung in der Versorgung der psychisch Kranken verfolgen zu können. Wir haben seit 1973 schon nicht mehr die Möglichkeit, die seither laufende Entwicklung zu überblicken. Das bringt die Gefahr mit sich, daß wir zu Fehlschlüssen kommen. Die Sachverständigenkommission hat damals gemeint, daß die Reformvorhaben so angelegt sein müßten, daß sich aus der konkreten Versorgungssituation heraus eine empirische Überprüfung vornehmen ließe. Jeder Schritt bedarf der sorgfältigen Vorbereitung und Kontrolle, Mängel oder Fehlentwicklungen bedürfen einer raschen Korrektur; dazu diese Institution auf Bundesebene zwischen Bund und Ländern. Über die Notwendigkeit dieser Institution sind sich interessanterweise alle Fachleute einig, alle Verbände und alle Betroffenen; lediglich ist dies natürlich ein Punkt, der zwischen Bund und Ländern nur im Einvernehmen zu regeln ist. Ich denke, daß man dazu keinen Staatsvertrag braucht, sondern daß man da fortfahren kann, wo die Arbeit in der Sachverständigenkommission geendet hat, nämlich in einer vertrauensvollen und erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern. Auch die Erarbeitung der Psychiatrie-Enquete war ja nur deshalb möglich, weil sich Bund und Länder dieses Problems gemeinsam angenommen haben.
Meine Fraktion fordert die Regierung dringend auf, folgende drei Bereiche in der Versorgung psychisch Kranker und Behinderter vorrangig im Benehmen mit den Ländern durch Modelle zu fördern und zu erproben: Erstens. Den ambulanten Sektor, der die Mehrzahl aller psychisch Kranken versorgt und dessen Ausbau im Vergleich zur Krankenhausversorgung in der Zwischenzeit nicht den Erfordernissen angepaßt werden konnte.
Zweitens. Weiterhin muß vorrangig der komplementäre Bereich gefördert werden; denn diese Versorgungsform hat Schlüsselbedeutung für die Neuordnung der psychiatrischen Versorgung. Sie entlastet den stationären Bereich und gewährleistet zusammen mit ihm eine bedarfsgerechte Versorgung und ist wesentlich wirtschaftlicher und humaner als der reine Krankenhausaufenthalt.
Als drittes komme ich auf die genannte Institution auf Bundesebene zurück, weil wir mit dieser Institution eine ständige enge Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern gewährleistet sehen und eine kontrollierende und wissenschaftliche Begleitung der Modelle als möglich und als notwendig erachten.
Wir möchten an dieser Stelle der Sachverständigenkommission, über deren Bericht wir, obwohl er seit vier Jahren vorliegt, noch nicht sprechen konnten, für das große Maß an Verantwortungsbereitschaft und Sachkenntnis herzlich danken.
Wir möchten auch für die Mitarbeit der Länder danken, die sich bewährt hat. Auch wenn wir nur eine geringe Zuständigkeit haben, sollten wir uns auch in Zukunft mit diesem Thema beschäftigen. Übrigens hat auch das Parlament im Rahmen der Interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft eine solche Zusammenarbeit mit den Ländern schon bisher mit Erfolg praktiziert.
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Wir hätten uns in der Stellungnahme der Bundesregierung mehr Klarheit und Mut gewünscht. Ich hoffe, daß die Unterstützung des ganzen Hauses der Bundesregierung diesen Mut und diese Klarheit noch verschaffen wird.
Meine Fraktion ist auch weiterhin bereit, meine Damen und Herren — damit greife ich auf, was ich eingangs gesagt habe —, und hält es für notwendig und für erfolgreich, sich diesem Thema in vertrauensvoller Zusammenarbeit zwischen den drei Fraktionen eingehend zu widmen.