Rede von
Karsten D.
Voigt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf den Tischen des Bundestages liegt heute ein mehr als 60 Seiten umfassendes Vertragswerk über den Beitritt Griechenlands zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, zur Europäischen Atomgemeinschaft und zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. In diesem Vertragswerk sind umfangreiche und ins einzelne gehende Bestimmungen enthalten, z. B. über die gemeinsame Marktorganisation für Obst und Gemüse, Hopfen, Eier, Erbsen, Puffbohnen, Ackerbohnen und Seidenraupen.
Dieses Vertragswerk ist Ausdruck eines komplizierten Verhandlungsprozesses und Interessenausgleichs zwischen Griechenland und der EG der Neun. Diese Paragraphen wären aber nicht denkbar ohne politische Zielsetzung und ohne einen politischen Willen: Diese Paragraphen sind Ausdruck unserer politischen Ideen und unseres Interesses an Fortschritten im westeuropäischen Einigungsprozeß.
So sehr wir darauf achten müssen, daß diese europäische Idee, dieses europäische Interesse sich weiterhin in Paragraphen und Vertragswerken — z. B. mit Portugal und Spanien — konkretisiert, so sehr müssen wir als Politiker auch darauf achten, daß der westeuropäische Einigungsprozeß nicht in Paragraphen und Marktordnungen erstarrt, weil er dann seines politischen Impulses und seines Charakters als politischer Bewegung beraubt würde. Ich erinnere daran, daß Jean Monnet seine Bewegung „Europäische Bewegung" genannt hat. Wir sollten dies auch als Auftrag für die Art und Weise verstehen, wie wir unsere Diskussionen über das Beitrittsersuchen Griechenlands und den ausgehandelten Kompromiß hier führen.
Unsere Unterstützung des Beitritts Griechenlands zur Europäischen Gemeinschaft ist Ausdruck unserer politischen Zielsetzung: Wir wollen, daß die Europäische Gemeinschaft für alle europäischen Demokratien, die Mitglied werden wollen, offen ist und offenbleibt. Das heißt: Wir hoffen auch auf einen baldigen erfolgreichen Abschluß der Beitrittsverhandlungen mit Spanien und Portugal. Wir denken darüber hinaus aber auch nach wie vor an andere europäische Staaten. Wir hoffen, daß insbesondere in Skandinavien das letzte Wort über die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft noch nicht gesprochen ist.
Aus dem Griechischen stammt unser Wort für „Demokratie". In der kritischen Auseinandersetzung mit den Demokratien des griechischen Altertums und in der krititschen Auseinandersetzung mit den Staatstheorien, z. B. Platons, haben sich die modernen Demokratietheorien in Europa entwikkelt. Die griechische Kultur und Griechenland sel-
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 177. Sitzung. — Bonn, Donnerstag, den 11. Oktober 1979 13927
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ber sind untrennbarer Bestandteil unserer eigenen Geschichte und Kultur. Die griechische Demokratie heißen wir als Mitglied der Europäischen Gemeinschaft innerhalb der Neun und durch die Neun herzlich willkommen.
Wir heißen die griechische Demokratie nach 1974 genauso herzlich willkommen, wie wir die Militärdiktatur von 1967 bis 1974 zurückgewiesen haben. Ich möchte hier jetzt nicht auf manches zwiedeutige, manchmal auch sehr eindeutige Verhalten mancher Unionspolitiker in der Zeit von 1967 bis 1974 anspielen.
Dazu wird an anderem Ort Gelegenheit sein. Ich freue mich aber über das eindeutige Ja zum Beitritt des demokratischen Griechenlands jetzt. Es war richtig, das Assoziierungsabkommen der Europäischen Gemeinschaft von 1961 mit Griechenland für die Dauer der Militärdiktatur einzufrieren. Heute zeigt sich: Unsere Solidarität mit dem demokratischen Widerstand und der demokratischen Emigration zur Zeit der Militärdikdatur verbindet uns mit dem heutigen Griechenland.
Mit dem Beitritt Griechenlands und später Portugals und Spaniens werden die wirtschaftlichen Unterschiede und — wenn man realistisch ist, muß man das hier auch sagen — Spannungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft zunehmen. Die Zahl der strukturschwachen Regionen und wirtschaftlichen Krisengebiete, auch die Zahl der Arbeitssuchenden innerhalb der Europäischen Gemeinschaft wird wachsen. Sowohl der Vertreter der Regierung, Herr Staatsminister von Dohnanyi, als auch Herr Narjes haben darauf zu Recht hingewiesen. Es wäre unredlich, wenn wir diese Probleme, die auf die Neun und auch auf Griechenland, Spanien und Portugal selber zukommen werden, leugnen würden. Es wäre unverantwortlich, wenn wir diese Länder hinsichtlich dieser Probleme, die nicht nur die Anpassung an die Bedingungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft, sondern die wirtschaftliche Struktur in diesen Ländern betreffen, sich selber überlassen würden, ohne daß wir über Problemlösungen und Hilfsmöglichkeiten nachdenken würden.
Dies ist der Kerngedanke des von uns Sozialdemokraten entwickelten Solidaritätsprogramms mit Südeuropa. Wie immer man dieses Problem beurteilen oder nennen mag: Die Verantwortung und die Aufgabe der Solidarität der hochentwickelten Industriestaaten Zentral- und Nordeuropas mit den wirtschaftlichen Problemregionen Südeuropas bleiben bestehen. Das Beispiel der Türkei zeigt, daß wir uns aus allgemeinpolitischen und insbesondere sicherheitspolitischen Gründen um diese Verantwortung nicht drücken können und nicht drücken wollen. Unsere Hilfsaktion für die Türkei zeigt auch, daß wir mit dem Beitritt Griechenlands zur Europäischen Gemeinschaft gleichzeitig die Beziehungen zur Türkei beibehalten, festigen und fortentwickeln
wollen. Wir wollen alles, was die Frontstellung zwischen Griechenland und der Türkei begünstigt, abbauen und den Brückenschlag ermöglichen helfen. Aus meiner eigenen engeren Heimat in Schleswig-Holstein weiß ich, daß dort in den 20er Jahren ein Buch auf dänisch erschien mit dem Titel: „Front eller Bro", „Front oder Brücke". Damals war das eine Alternative, heute ist der Brückenschlag garantiert. Für uns ist es eine Aufgabe, das gleiche für das Verhältnis zwischen Griechenland und der Türkei zu erreichen und durch die Mitgliedschaft innerhalb der Europäischen Gemeinschaft auch zu begünstigen.
Griechenland bringt nicht nur sich selber ein, es bringt auch seine Beziehungen zu seinen Nachbarn in die Europäische Gemeinschaft mit ein. Das gilt insbesondere für seine nachbarschaftlichen Beziehungen zur arabischen Welt. Das gilt auch für seine nicht immer konfliktfreien, aber trotzdem nach- barlichen Beziehungen zur islamischen Welt.
Ich darf darauf hinweisen, daß mit der Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft durch Portugal und Spanien auch ganz neue Bezüge zu anderen Regionen der Welt auf uns zukommen, insbesondere z. B. zu Süd- und Mittelamerika, aber auch zu einigen Regionen Afrikas.
Aber Griechenland hat noch mehr einzubringen. In der bisherigen Diskussion ist unbeachtet geblieben, daß das griechisch-orthodoxe Griechenland besondere kulturelle und religiöse Beziehungen nach Osteuropa hin entwickelte. Zwar hat es immer Spannungen zwischen den Griechisch-Orthodoxen und z. B. den Russisch-Orthodoxen gegeben. Trotzdem ist die gemeinsame Verankerung und die Orientierung auf die orthodoxe Tradition noch ein bindendes Element. Ich glaube, daß wir mit dem Beitritt Griechenlands auch diese Klammer nicht nur zur arabischen und islamischen Welt als Brükkenschlag begrüßen und nutzen sollten, sondern daß wir uns auch dieses Brückenschlages und dieser Möglichkeit des Brückenschlages hin zu den kulturellen Wurzeln Osteuropas bewußt sein sollten..
Der Beitritt Griechenlands ist für uns auch eine wichtige Aufgabe und eine wichtige Zielsetzung in bezug auf die Stabilität und die Sicherheit in der gesamten Region. Es ist zu Recht gesagt worden, daß die Europäische Gemeinschaft für uns die Zielsetzung hat, auch als Friedensmacht zu wirken. Dies ist die Aufgabe, die durch diesen Beitritt erleichtert wird. Dies ist aber auch die Aufgabe, der wir uns insbesondere in dieser Region und im Verhältnis zu den Südanrainern des Mittelmeers stellen müssen.
Wir nehmen Griechenland als Demokratie auf. Wir erhoffen uns durch den Beitritt Griechenlands Impulse für die Demokratisierung der Europäischen Gemeinschaft. Deshalb ist in den letzten Monaten auch im Europäischen Parlament — ich möchte diese Idee ausdrücklich aufgreifen — mehrfach die Frage gestellt worden, ob man jetzt nicht auch die Gelegenheit nutzen sollte, so etwas wie eine Charta der Bürgerrechte für die Europäisch Gemeinschaft zu formulieren. Ich glaube, daß dieser Ge-
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danke richtig ist und daß man weiter an ihm arbeiten sollte. Richtig ist auch der Gedanke, daß man weiter daran arbeiten sollte, dem Europäischen Parlament mehr Rechte zu geben oder es, soweit es möglich ist — an uns Deutschen wird das ja bestimmt nicht scheitern —, an diesem Prozeß der Ratifizierung zu beteiligen.
Wir müssen durch die Art der Behandlung des; Beitrittsgesuchs oder des fertigen Vertragswerke$ jetzt mit Griechenland — das gilt nachher auch für die anderen Staaten, für Portugal und für Spanien — sehr darauf achten, daß diejenigen, die in ihren Ländern für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft eingetreten sind, nicht enttäuscht werden. Viel Hoffnung ist mit diesen Beitrittsanträgen verbunden. Durch die manchmal bürokratische Behandlung von einzelnen Problembereichen könnte es geschehen, daß diese Hoffnung in Enttäuschung umschlägt. Wir müssen sehr darauf achten, daß diese politische Basis des Beitrittswunsches nicht weggezogen oder verkleinert wird. Das ist unsere große Aufgabe.
Gleichzeitig möchte ich an diejenigen appellieren, die bisher in Griechenland dem Beitritt kritisch gegenüberstehen — und diese Kritik zum Teil auch mit ernsthaften Sorgen und von uns auch ernst zu nehmenden Sorgen begründen —, daß sie jetzt, nachdem die Entscheidung für den Beitritt Griechenlands gefallen ist und bald auch rechtlich endgültig vollzogen sein wird, die Mitgliedschaft innerhalb der Europäischen Gemeinschaft als Chance nutzen sollten, ihre Kritik in einem konstruktiven Sinne einzubringen, daß sie mithelfen, die Europäische Gemeinschaft noch demokratischer und sozialer zu gestalten.
Die europäische Gemeinschaft hat durch den Vertragsabschluß mit Griechenland ihre Handlungsfähigkeit bewiesen, so wie sie jenseits allen Gemunkels und Krisengeredes mit der Direktwahl zum Europäischen Parlament, mit dem Europäischen Währungssystem, auch mit dem neuen Lomé-Abkommen und der europäischen politischen Zusammenarbeit ihre Handlungsfähigkeit bewiesen hat.
Ich glaube, daß wir am 1. Januar 1981 nicht nur ein Land mehr als Mitglied der Europäischen Gemeinschaft haben werden, sondern daß die Europäische Gemeinschaft in ihrer weiteren Entwicklung aus der Mitgliedschaft jetzt Griechenlands, dann Spaniens und Portugals Gewinn und Nutzen ziehen wird.
Ich möchte noch einmal sagen: Herzlich willkommen für das demokratische Griechenland, herzlich willkommen auch später für Spanien und Portugal.