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ID0816601000

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    Plenarprotokoll 8/166 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 166. Sitzung Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 Inhalt: Abweichung von § 60 Abs. 2 GO bei der Beratung der Verjährungsvorlagen . . . 13233 A Eintritt des Abg. Besch in den Deutschen Bundestag für den ausgeschiedenen Abg Carstens (Fehmarn) 13290 A Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung . 13233 B Beratung des Bericht des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gradl, Katzer, Blumenfeld, Dr. Mikat, Dr. Biedenkopf, Josten, Dr. Müller-Hermann, Gerster (Mainz), Wohlrabe, Frau Dr. Riede (Oeffingen), Kittelmann, Breidbach, Frau Pieser, Luster, Reddemann, Schröder (Lüneburg), Dr. Pfennig, Frau Berger (Berlin), Stommel, Conrad (Riegelsberg), Dr. Stercken, Russe, Frau Dr. Wisniewski, Schartz (Trier) und Genossen Unverjährbarkeit von Mord zu der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Unverjährbarkeit von Völkermord und Mord zu dem von den Abgeordneten Wehner, Ahlers, Dr. Ahrens, Amling, Dr. Apel und Genossen und den Abgeordneten Dr. Wendig, Gattermann, Frau Dr. Hamm-Brücher und Genossen eingebrachten Entwurf eines Achtzehnten Strafrechtsänderungsgesetzes — Drucksachen 8/2539, 8/2616, 8/2653 (neu), 8/3032 — in Verbindung mit Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wehner, Ahlers, Dr. Ahrens, Amling, Dr. Apel und Genossen und den Abgeordneten Dr. Wendig, Gattermann, Frau Dr. Hamm-Brücher und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Achtzehnten Strafrechtsänderungsgesetzes — Drucksache 8/2653 (neu) — in Verbindung mit Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gradl, Katzer, Blumenfeld, Dr. Mikat, Dr. Biedenkopf, Josten, Dr. Müller-Her- II Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 mann, Gerster (Mainz), Wohlrabe, Frau Dr. Riede (Oeffingen), Kittelmann, Breidbach, Frau Pieser, Luster, Reddemann, Schröder (Lüneburg), Dr. Pfennig, Frau Berger (Berlin), Stommel, Conrad (Riegelsberg), Dr. Stercken, Russe, Frau Dr. Wisniewski, Schartz (Trier) und Genossen Unverjährbarkeit von Mord — Drucksache 8/2539 — in Verbindung mit Beratung der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Unverjährbarkeit von Völkermord und Mord — Drucksache 8/2616 — Dr. Mertes (Gerolstein) CDU/CSU . . . . 13234 A Frau Dr. Däubler-Gmelin SPD . . . . 13239 B Kleinert FDP 13243 C Hartmann CDU/CSU 13247 C Dr. Vogel (München) SPD . . . . . . 13252 A Gattermann FDP . . . . . . . . . 13254 C Gerster (Mainz) CDU/CSU . . . . . . 13257 B Dr. Dr. h. c. Maihofer FDP . . . 13260 A, 13292 A Dr. Emmerlich SPD . . . . . . . 13265 B Helmrich CDU/CSU 13268 A Sieglerschmidt SPD 13269 C Frau Matthäus-Maier FDP . . . . . . 13272 B Dr. Lenz (Bergstraße) CDU/CSU 13274 D Dr. Weber (Köln) SPD 13277 D Ey CDU/CSU 13281 C Frau Dr. Hamm-Brücher FDP 13282 B Blumenfeld CDU/CSU 13285 C Cronenberg FDP 13287 B Dr. Bötsch CDU/CSU . . . . . . . . . 13288 A Erhard (Bad Schwalbach) CDU/CSU . . . 13294 B Dürr SPD 13296 C Engelhard FDP 13298 D Dr. Gradl CDU/CSU 13301 A Thüsing SPD 13303 A Dr. Wendig FDP 13305 D Namentliche Abstimmungen . . 13290 A, 13292 B, 13308 A, 13311 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Sechsten Gesetz zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes — Drucksache 8/3027 — Pfeifer CDU/CSU . . . . . . . . . . 13308 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Gesetz zur Neufassung des Umsatzsteuergesetzes und zur Änderung anderer Gesetze — Drucksache 8/3028 Westphal SPD 13309 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Gesetz zur Änderung des Gesetzes über technische Arbeitsmittel und der Gewerbeordnung — Drucksache 8/3029 — Jahn (Marburg) SPD 13313 B Nächste Sitzung 13313 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 13315* A Anlage 2 Erklärung des Abg. Dr. Penner (SPD) nach § 59 GO zu Punkt 1 der Tagesordnung . . 13315*A Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 13233 166. Sitzung Bonn, den 3. Juli 1979 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordneter) entschuldigt bis einschließlich Dr. Arnold 4. 7. Bayha 4. 7. Dr. Böhme (Freiburg) 4. 7. Büchner (Speyer) * 4. 7. Dr. Dübber 3. 7. Dr. h. c. Kiesinger 4. 7. Koblitz 4. 7. Dr. Müller ** 4. 7. Picard 4. 7. Scheffler ** 4. 7. Frau Schlei 4. 7. Dr. Schmitt-Vockenhausen 4. 7. Spilker 4. 7. Volmer 4. 7. Walkhoff 4. 7. Dr. Wulff 4. 7. Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Dr. Penner (SPD) nach § 59 GO zu Punkt 1 der Tagesordnung Ich stimme einer angestrebten Aufhebung der Verjährungsfrist für Mord nicht zu. Ich bin der Meinung, daß sich das abgestufte System der Verjährungsfristen im Strafgesetzbuch, in das auch schwerste Straftaten wie Mord einbezogen sind, bei allen eingeräumten Unzulänglichkeiten bewährt hat. Die zeitliche Begrenzung der staatlichen Verfolgungspflicht für Straftaten beruht auch auf der Erkenntnis, daß die Möglichkeiten der Wahrheitsfindung im Strafprozeß um so brüchiger und fragwürdiger werden, je mehr Zeit zwischen Tat und Ahndung verstrichen ist. Ich halte es daher für richtig und auch geboten, wenn der Gesetzgeber diese Regelerfahrung gesetzlich absichert und damit den Strafverfolgungsorganen eine Pflicht abnimmt, der sie auch bei bestem Wollen und Können nicht gerecht werden können. Hinweise auf ausländische Rechtsordnungen und frühere deutsche und romanische Rechtsinstitute halte ich für bemerkenswert, aber für nur bedingt aussagekräftig, da bei einem Vergleich die gesamten Verfahrensordnungen mit allen Möglichkeiten und Hemmnissen besonders des Beweisrechts gegenüber gestellt werden müssen. Der Anlaß für die Initiative ist ebenso beklemmend wie säkulär. Es geht nicht einfach um eine Neufassung des Verjährungssystems, es geht um die Frage, ob besonders Mordtaten der NS-Zeit über gesetzliche Verjährungsvorschriften einer Strafverfolgung entzogen sein können oder nicht. Das Für und Wider ist in den bewegenden Debatten der 60er * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Anlagen zum Stenographischen Bericht Jahre und in den Diskussionen aus jüngster Zeit engagiert, behutsam und sorgfältig beleuchtet worden. Ich bin aber der Meinung, daß es statthaft sein darf, bei der Entscheidung auch berufsbedingte Erfahrungen miteinzubeziehen, die mehr die praktische Auswirkung der Gesetzesänderung betreffen. Ich neige mehr und mehr zu der Auffassung, daß der in den 60er Jahren beschrittene Weg der Ausdehnung der Verjährungsfristen nicht richtig gewesen ist. Dabei will ich nicht verschweigen, daß ich dies seinerzeit anders gesehen habe. Aber im Verlaufe einer beruflichen Tätigkeit, bei der ich mit der Verfolgung von NS-Gewaltverbrechen zu tun hatte, sind mir zunehmend Zweifel gekommen. Und das, obwohl die nazistische Wirklichkeit mit Genozid, mit Vernichtungs- und Konzentrationslagern, mit Massen- und Einzelmorden durch Akten und Zeugenaussagen erdrückend bestätigt wurde. Aber im Strafprozeß geht es nicht allein um Tatgeschehen, sondern auch um persönliche Verantwortung, um Schuld. Der Nachweis individueller Schuld war schon früher aus vielerlei Gründen kaum oder gar nicht möglich. Das ist auch nach der Erweiterung der Verjährungsfrist auf 30 Jahre noch problematischer geworden. Nicht nur statistische Hinweise geben darüber Aufschluß. Selbst das deutsch-französische Rechtshilfeabkommen des Jahres 1971, das die Verfolgungssperren des Überleitungsvertrages für deutsche Behörden lockerte, hat die strafrechtliche Bewältigung der Judendeportationen aus Frankreich nicht unterstützen können, wie man hört. Ich bin der Meinung, daß unter den gegebenen Umständen die Beibehaltung des geltenden Verjährungsrechts verantwortet werden kann. Nach meiner Erfahrung dürfte die Entdeckung neuer Sachverhalte mit der Folge strafrechtlicher Verurteilung zwar nicht ausschließbar, aber nahezu ausgeschlossen sein. Aller Voraussicht nach wird ein berechtigtes Sühnebedürfnis nicht mehr gestillt werden können. Daher halte ich es aus meiner Sicht nicht für erträglich, Zeugen, die Schwerstes erlitten und durchlitten haben, den Lasten und Beschwernissen, ja den Qualen von Vernehmungen über die gegebenen Unumgänglichkeiten hinaus auszusetzen. Daß nach Eintritt der Verjährungsfrist unentdeckte NS-Mörder sich ihrer Untaten öffentlich rühmen könnten, ist eine theoretische Möglichkeit, hat aber mit der Verjährungsproblematik nichts zu tun. Für schon Abgeurteilte oder außer Verfolgung gesetzte NS-Täter sind eher Stichworte wie „Leugnen", „Verkleinern", „Es war eben Krieg" und in Einzelfällen auch Reue kennzeichnend. Eine Neigung zu öffentlicher Erörterung dieser Vergangenheit besteht bei diesem Tätertyp nach den bisherigen Erfahrungen hingegen kaum. Für die Zukunft muß eine stetig zunehmende Zahl von Fehlbeurteilungen der Strafverfolgungsorgane befürchtet werden. Das wird für die schon anhängigen Verfahren unumgänglich sein. Die Gründe lie- 13316* .Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 gen durchweg in der Beweisnot der Gerichte und Staatsanwaltschaften. Die Aufhebung der Verjährungsfrist hätte zur Folge, daß zu allen neuen Vorgängen materielle Entscheidungen über Schuld oder Unschuld erforderlich würden. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß diese durchweg Einstellungsverfügungen und Freisprüche sein werden. Ich hielte das für bedrückend, weil mit diesen staatlichen Akten, deren Qualität nicht anders ausfallen kann und wird, Geschichtslegenden gebildet und unterstützt werden können. Aus meiner Sicht ist daher das aus dem geltenden Recht folgende Offenhalten der strafrechtlichen Schuldfrage nach Ablauf der Verjährungsfrist auch der politische richtige Weg. Ich weiß, daß diese Überlegungen nur einen Teil der Fragen und Bedrängungen ausmachen. Für mich sind sie entscheidend. Eine neue gesetzliche Regelung muß sich auch an ihren Möglichkeiten und Grenzen messen lassen. Dem Anspruch der Opfer, der Betroffenen auf sühnende Gerechtigkeit kann nicht über eine Ausweitung des Verjährungsrechts Genüge geschehen. Ich meine, daß dies auszusprechen auch zur parlamentarischen Verantwortlichkeit gehört. Ich wage es daher, nein zu sagen.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Klaus Hartmann


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)

    Unsere Antwort auf das Unrechtssystem des Nationalsozialismus ist der freiheitliche, demokratische Rechtsstaat, und wir dürfen den fatalen Eindruck erst gar nicht aufkommen lassen, daß auch in diesem Rechtsstaat gewachsene Rechtsinstitute zur Disposition gestellt werden können, wenn die Zwänge — welche auch immer — nur stark und signifikant genug sind.
    Können wir es überhaupt der Justiz überbürden, über juridische Feststellungen und Ahndungen individueller Schuld hinaus, über die biologisch-zeitliche Grenze der Wahrheitsfindung hinaus mittels des justitiellen Instrumentariums historische Schuld aufzuarbeiten? Es wäre Hybris — das hat schon Adolf Arndt gesagt —, dem Staat die Aufgabe der gerechten Vergeltung allen Unrechts zuzuschreiben. Soweit der Staat nicht um der Vergeltung, sondern um der Aufrechterhaltung der Rechtsordnung willen straft, muß er sich um Gerechtigkeit bemühen. Spezial- und Generalprävention, d. h. die Wirkung der Strafe auf das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft bzw. die Wirkung der Strafe für die Verteidigung der Rechtsordnung und für die Erhaltung der Rechtstreue der Bevölkerung, bilden in diesem Rahmen die begrenzten Zwecke menschlicher Strafe.
    Die Notwendigkeit der Spezialprävention gegenüber einem zur Zeit der Aburteilung vielleicht 80jährigen Täter aus der NS-Zeit ist entfallen. Nur mit einem außerordentlich weit gefaßten Begriff von Generalprävention ließe sich die Notwendigkeit der Strafe nach Ablauf der Verjährungsfrist nach geltendem Recht noch begründen. Der Strafrechtslehrer Professor Schünemann hat es als eine bemerkenswerte Inkonsequenz bezeichnet, daß sich gerade diejenigen, die in ihrem Rechtsdenken eine Affinität zu einem modernen Präventionsstrafrecht
    bewiesen haben, gleichzeitig für die Aufhebung der Verjährung auszusprechen vermögen. Ich halte es auch für ein Zeichen dieser Inkonsequenz, wenn gleichzeitig von unserer Bundesregierung ein Gesetzentwurf beschlossen wird, nach welchem Straftäter, die zu lebenslanger Haft verurteilt sind, künftig bereits nach 15 Jahren wieder auf freien Fuß gesetzt werden können, so daß dann ein Täter für einen im Alter von beispielsweise 30 Jahren begangenen Mord noch als 80jähriger belangt werden könnte, während ein anderer, gleichaltriger Täter, dessen gleichzeitig begangener Mord, da die Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe auf dem Fuße folgte, schon seit 35 Jahren wieder auf freiem Fuß und resozialisiert sein würde.
    Mit einer durchgängigen Beachtung des Resozialisierungsgedankens und des Spezial- und Generalpräventionsprinzips hat dies wohl nicht mehr sehr viel zu tun; diese modernen Rechtsprinzipien sprechen auch für eine Beibehaltung der Verjährung für Mord.
    Wir alle wissen, das Problem der Aufhebung der Mordverjährung wurzelt tief im Grundsätzlichen. Es ist kein rechtspolitisches Problem, um welches es letztlich geht, auch wenn es rechtspolitisch abgehandelt, wenn rechtspolitisch dafür und dagegen argumentiert wird.
    Herr Kollege Mertes hat die innen- und außenpolitischen Involvierungen dargelegt. Ich möchte dem folgendes Zitat hinzufügen. Es lautet:
    Manche Mahnung, manche Kritik aus dem Ausland wäre glaubhafter, wenn sie weniger selbstgerecht wäre.
    So sprach der ehemalige Bundesjustizminister Professor Horst Ehmke in der Verjährungsdebatte des Bundestages am 11. Juni 1969. Man muß nicht auf • die tabuisierten, an Deutschen begangenen Vertreibungsverbrechen zurückgreifen, um ohne jede Aufrechnung den Ruf nach der Urteilbarkeit des Rechts und der Unteilbarkeit der Verantwortung für das Leben zu erheben, wie es Süsterhenn bereits 1965 von dieser Stelle aus getan hat. Die Welt ist voll von menschenverachtenden, lebensverachtenden Massenverbrechen, die im Namen von Staaten und von Regierungen heute noch begangen werden. Müssen erst 30 Jahre vergehen, um die Sensibilität der Weltöffentlichkeit auch für diese Untaten zu schärfen?

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Eine sehr berechtigte Frage!)

    Zum Schluß, meine Damen und Herren, nochmals: Unsere Antwort auf das Unrechtssystem ist der strikte Rechtsstaat.

    (V o r s i t z : Vizepräsident Frau Renger)

    Begnügen wir uns mit den Antworten, die er und seine Gerichtsbarkeit nach geltendem Recht zu geben vermögen!

    (Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von Dr. Annemarie Renger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Vogel (München).




  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Hans-Jochen Vogel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Geschichte ist nicht arm an Beispielen für Konflikte zwischen der Macht und dem Recht, zwischen der Gewalt und der ethisch fundierten Norm. Selten indes sind Macht und Recht, Gewalt und Norm, Willkür und Wert so elementar aufeinandergeprallt wie in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. In diesen zwölf Jahren hat die Macht, hat willkürliche Macht dem Recht immer wieder Gewalt angetan und es auch pervertiert, jedenfalls das positive Recht, die in die äußeren Formen des Gesetzes und der Verordnung gekleideten Regeln und Vorschriften.
    Aus diesem Geschehen hat unsere Rechtsordnung seit Gründung der Bundesrepublik vielfältige Folgerungen gezogen. Unser Grundgesetz und zahlreiche andere wichtige Rechtsnormen hätten nicht den Inhalt, den sie heute haben, wenn in unser Recht nicht die geschichtliche Erfahrung jener Schreckenszeit eingegangen wäre.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU] : Sehr richtig!)

    Und das ist gut so. Denn Rechtspolitik wird nicht im luftleeren Raum betrieben, Rechtspolitik muß sich auch mit der Geschichte auseinandersetzen.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Da sind wir uns alle einig!)

    Die Diskussion, in der wir heute miteinander beraten und miteinander ringen, gehört in diesen Zusammenhang.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Das ist wahr!)

    Auch hier geht es darum, ob ein schrecklicher Machtmißbrauch, nein, der schrecklichste Mißbrauch während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, nämlich die massenhaften Tötungsverbrechen, eine Rechtsänderung, nämlich die Änderung unseres Verjährungsrechts, erforderlich macht.
    Diese Diskussion hat vor ziemlich genau 20 Jahren, im Jahre 1960, begonnen. Damals verlangte die SPD-Fraktion, die drohende Verjährung der Totschlagsverbrechen abzuwenden. In diesem Zusammenhang, also vor fast zwei Jahrzehnten, tauchte auch bereits die Frage auf, ob nicht die Verjährung der Strafverfolgung von Morden überhaupt aufgehoben werden müsse. Heute sind wir am Ende dieser Diskussion angelangt. Heute müssen wir die Frage, die Adolf Arndt und Ernst Benda 1965 übereinstimmend formulierten und übereinstimmend mit Ja beantworteten, endgültig entscheiden.
    Die Entscheidungen der Jahre 1965 und 1969, die Verjährungsfristen um viereinhalb und dann noch einmal um zehn Jahre zu verlängern, waren — das hat sich heute herausgestellt — nur Zwischenbescheide, Bescheide, die das Problem vertagten, die es nicht lösten. Wir müssen endgültig auch in dem
    Sinn antworten, daß uns eine abermalige Korrektur nicht erlaubt sein wird.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

    Die Antwort, um die wir heute in Ernst und Verantwortung ringen, muß Ja oder Nein lauten. Eine erneute Verlängerung der Frist läge zwischen Ja und Nein. Sie wird von niemand befürwortet. Zwischen Ja und Nein läge aber auch jede Lösung, die nur einen Teil der Morde von der Verjährung ausnehmen wollte. Solche Vorschläge gibt es. Ich respektiere die Motive solcher Vorschläge; ja, ich danke den Kollegen Maihofer und Erhard dafür, daß sie diese Vorschläge gemacht haben. Sie haben uns dadurch Anlaß gegeben, die ernsten und schwierigen Fragen, die hier zu erwägen sind, noch einmal mit großem Ernst zu bedenken.
    Ich trete ausdrücklich einzelnen ausländischen — und in dieser Minute muß ich hinzufügen: auch inländischen — Stimmen entgegen, die aus der Haltung. gegenüber der Verjährungsfrage oder gar aus den zur Debatte stehenden Vorschlägen Schlüsse auf die Haltung gegenüber den nationalsozialistischen Verbrechen ziehen wollen. Das ist unzulässig und unbegründet.

    (Beifall bei allen Fraktionen)

    Genauso unzulässig und unbegründet ist es allerdings, auch nur andeutungsweise Parallelen zwischen der Freislerschen Verordnung über die Durchbrechung eingetretener Verjährung und der heute zur Beratung stehenden Vorlage zu ziehen.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

    Ich wiederhole es in großem Ernst: Ich respektiere die Motive des Antrags, den Kollege Maihofer schon gestellt hat, und auch die des Antrags, den Kollege Erhard bei den Beratungen des Rechtsausschusses zur Erwägung gegeben hat. Aber ich warne vor der Annahme dieser Anträge. Nach meinem Urteil bedeutet jeder dieser Vorschläge im Ergebnis Sonderrecht. Jeder läuft darauf hinaus, daß Morde unverfolgbar werden, und zwar gerade auch Morde aus der Schreckenszeit. Jeder der beiden Vorschläge löst in jedem einzelnen Strafverfahren eine neue Verjährungsdebatte aus, trägt der Justiz das zur Entscheidung auf, was hier bei Annahme des einen oder anderen Antrags nicht entschieden würde. Jeder dieser Vorschläge bewirkt oder beschwört dort nach Anhörung der Sachverständigen die ernste Gefahr herauf, daß auch schon wegen Mordes Angeklagte, ja, sogar wegen Mordes in erster Instanz Verurteilte außer Verfolgung gesetzt werden müssen. Das in § 2 Abs. 3 des Strafgesetzbuches und in Art. 15 des UN-Menschenrechtspaktes normierte rechtsstaatliche Prinzip, demzufolge bei Rechtsänderungen zwischen der Tat und der Aburteilung das mildeste Gesetz anzuwenden ist, führt dorthin. Wer, so frage ich, könnte auch nur die ernste Gefahr, daß solche Entscheidungen getroffen werden, den Opfern und ihren Angehörigen wirklich zumuten, zudem noch mit einem Entwurf, der ja — und da besteht



    Dr. Vogel (München)

    Übereinstimmung — die Aufhebung der Verjährung zum Ziel hat?
    Dennoch haben diese Vorschläge ihr Gutes. Sie zeigen nämlich, daß auch Kolleginnen und Kollegen, die zunächst die Beibehaltung der Verjährung als ein zwingendes Gebot der Rechtsstaatlichkeit bezeichnet haben, nunmehr Ausnahmen von einem solchen Gebot anerkennen. Damit ist der Gegensatz zwischen diesen Kolleginnen und Kollegen und denen, die wie ich die Verjährung für Mord insgesamt aufheben wollen, kein prinzipieller, kein qualitativer mehr — da stimme ich dem Kollegen Hartmann zu —, sondern nur noch ein gradueller, nämlich ein Meinungsunterschied darüber, wie weit die Ausnahmen von der Verjährbarkeit reichen müssen, um den furchtbaren Erfahrungen unserer jüngeren Geschichte gerecht zu werden.

    (Zustimmung bei der SPD)

    Es ist nicht mehr die Frage des Ob, sondern die Frage des Inwieweit. Ich appelliere an diese Kolleginnen und Kollegen und bitte sie, nicht auf halbem Weg stehenzubleiben. Ich bitte sie, die Frage, ob die Verjährung für Mord aufgehoben werden soll, mit Ja zu beantworten und dieser Antwort so zu einer breiten, nicht nur zu einer knappen Mehrheit zu verhelfen.
    Mord soll, nein, Mord darf in unserer Republik nicht mehr verjähren. Von der Richtigkeit dieses Satzes bin ich jetzt, nach den sorgfältigen Beratungen der letzten Wochen und Monate, tief überzeugt. Folgendes sind meine beiden Gründe.
    Ich halte erstens dafür, daß jeder Mord, der nach dem 31. Dezember 1979 bekannt wird und dann nicht mehr verfolgt werden kann, den Rechtsfrieden auf das schwerste erschüttern würde, auch dann, wenn der Mörder still nach Deutschland zurückkehrt und selbst über seine Taten schweigt.
    Der Fall des stellvertretenden KZ-Kommandanten Gustav Wagner, der dem Haftbefehl nach für einen Zeitraum von knapp 18 Monaten, nämlich für die kurze Spanne zwischen dem Frühjahr 1942 und dem Herbst 1943, 150 000fachen Mord im Lager Sobibor zu verantworten haben soll, hat uns erschreckend vor Augen geführt, was es für die Opfer und darüber hinaus für alle menschlich Denkenden bedeutet, wenn ein solcher Mann infolge des Eintritts der Verjährung — und sei es auch nur nach fremdem Recht — nicht mehr verfolgt werden kann und dann seinerseits durch seinen Anwalt sogar noch Schadenersatzansprüche gegen die Bundesrepublik geltend macht!

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

    Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich möchte fast beschwörend sagen: Sage doch bitte keiner, ein solcher Fall sei nach unserem Recht nicht denkbar, die Verjährung sei in allen vergleichbaren Fällen unterbrochen! Wer will denn schon im Ernst die Hand dafür ins Feuer legen, daß alle angeblich toten Massenmörder, die nach den Bekundungen in den Akten tot sein sollen, wirklich tot sind? Was dann, so frage ich, wenn der erste dieser „Toten" in seine Heimat zurückkehrt?

    (Mattick [SPD]: Sehr wahr!)

    Überhaupt mißtraue ich allen Vorhersagen, daß dieses oder jenes nicht mehr eintreten werde, daß alles bekannt sei, daß alle Fälle bestimmter Verbrechen bereits restlos abgeurteilt seien. Dreimal schon, 1960, 1965 und 1969, haben sich solche Voraussagen durch die amtierenden Justizminister, die sicher subjektiv im besten und ehrlichsten Glauben ausgesprochen wurden, als falsch und durch die Tatsachen überholt erwiesen.
    Ich halte zum zweiten dafür, daß wir nach den millionenfachen Morden Zeichen aufrichten müssen, Zeichen, die der Furchtbarkeit des Geschehens entsprechen. Wir wissen heute, daß nicht der Himmel, wohl aber die Hölle, von Menschen bereitet, auf Erden möglich ist. Papst Johannes Paul II., der heute schon zitiert wurde, hat vor knapp einem Monat Auschwitz das „Golgatha unserer Zeit", das „Golgatha der Gegenwart" genannt.

    (Zuruf des Abg. Dr. Lenz [Bergstraße] [CDU/CSU])

    Daran — dies ist meine Überzeugung — kann unser Recht nicht vorübergehen.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

    Die Abschaffung der Todesstrafe im Grundgesetz war ein solches Zeichen; übrigens: die völlige Abschaffung der Todesstrafe, nicht nur ihre Abschaffung für den Bereich, in dem sie mißbraucht wurde.
    Die Aufhebung der Verjährung für Mord würde ein zweites Zeichen sein — auch hier die völlige Aufhebung, nicht nur die Aufhebung für einzelne, genau ausgezirkelte Bereiche des Mordes. Sie würde ein Zeichen für die radikale Absage an das Verwerflichste der Schreckensherrschaft sein, nämlich an das Mörderische, das Lebensvernichtende am Nationalsozialismus, ein Zeichen auch für den Ernst, mit dem wir den ersten Sätzen unseres Grundgesetzes gerecht werden sollen, die unter dem nahen Eindruck der Schreckensherrschaft geschrieben wurden, den Sätzen, die da lauten: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." — Auch der Gesetzgebung.
    Sie würde schließlich auch ein Zeichen für die junge Generation setzen, der wir doch verstärkt nahebringen wollen, was damals an Furchtbarem geschehen ist. Wie eigentlich könnten wir der jungen Generation erklären, daß es sich um Verbrechen handelt, die in unserer Geschichte ihresgleichen suchen, wenn wir gleichzeitig darauf verzichten, solche zur Verantwortung zu ziehen, die diese Verbrechen begangen zu haben im dringenden Verdacht stehen?

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

    Diese beiden Gründe als Resümee aus einer langen Diskussion wiegen für mich schwerer als alle



    Dr. Vogel (München)

    Bedenken, vor denen ich die Augen nicht verschließe und die ich durchaus respektiere.
    Adorno hat nach dem Kriege einmal gesagt, daß nach Auschwitz nie wieder ein Gedicht geschrieben werden könne. Wer schon einmal dort war — viele von uns waren es —, wer dort an der schwarzen Wand gestanden, wer in dem Bunker gewesen ist, in dem Maximilian Kolbe verhungert ist, wer in Birkenau die Rampe gesehen hat, kann diesen Gedanken nachempfinden. Das Leben hat diesen Satz widerlegt.
    Ein anderer Satz aber ist, so meine ich, auch um unserer eigenen Selbstachtung willen notwendig, der Satz nämlich, daß nach Auschwitz in Deutschland kein Mord mehr verjähren darf. Wir haben doch in der Mehrheit dieses Hauses diesem Satz bis jetzt durch zwei Gesetzesänderungen — 1965 und 1969 — Geltung verschafft, wohl auch aus dem Gefühl, ja, aus dem sicheren Instinkt heraus, daß es anders nicht sein dürfe. Lassen Sie uns diesen Satz heute ausdrücklich und endgültig in unser Recht aufnehmen!
    Ich komme zum Schluß. In dieser Debatte ist — auch heute — immer wieder und zu Recht Adolf Arndt zitiert worden. Er ist besonders häufig auch von denen zitiert worden, die sich mit ihren Gründen für die Verjährung aussprechen. Ich bitte gerade diese Kolleginnen und Kollegen, noch einmal zu bedenken, was Adolf Arndt am Ende seiner denkwürdigen Rede von dieser Stelle aus am 10. März 1965 gesagt hat, am Ende der Rede, in der er sich für die Aufhebung der Verjährung für Mord aussprach. Er schloß mit den Worten:
    Was haben wir zu tun? Wir haben nicht nur daran zu denken, daß der Gerechtigkeit wegen, auf die wir uns berufen, die überführten Mörder abgeurteilt werden sollen, sondern wir haben auch den Opfern Recht zuteil werden zu lassen schon allein durch den richterlichen Ausspruch, daß das ... ein Mord war. Schon dieser Ausspruch ist ein Tropfen, ein winziger Tropfen Gerechtigkeit, der doch zu erwarten ist zur Ehre aller derer, die in unbekannten Massengräbern draußen in der Welt liegen.
    Und er fuhr fort:
    Nicht daß wir Jüngstes Gericht spielen wollen; das steht uns nicht zu. Nicht daß es hier eine justitia triumphans
    — eine triumphierende Justiz —
    gäbe! Es geht darum, eine sehr schwere ... Last und Bürde auf uns zu nehmen. Es geht darum, daß wir dem Gebirge an Schuld und Unheil, das hinter uns liegt, nicht den Rücken kehren, sondern daß wir uns als das zusammenfinden, was wir sein sollen: kleine, demütige Kärrner, Kärrner der Gerechtigkeit, nicht mehr.
    Meine sehr verehrten Damen und Herren, anderes, geschweige Besseres wüßte ich zum Schluß meiner Darlegungen nicht zu sagen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)