Rede:
ID0813109000

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Metadaten
  • insert_drive_fileAus Protokoll: 8131

  • date_rangeDatum: 24. Januar 1979

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    Plenarprotokoll 8/131 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 131. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1979 Inhalt: Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung . . 10267 A Fortsetzung der zweiten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1979 (Haushaltsgesetz 1979) — Drucksachen 8/2150, 8/2317 — Beschlußempfehlungen und Berichte des Haushaltsausschusses Einzelplan 04 Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes — Drucksache 8/2404 — Dr. Kohl CDU/CSU 10267 C Wehner SPD 10281 B Mischnick FDP 10290 B Dr. Althammer CDU/CSU 10296 C Dr. Ehmke SPD 10303 A, 10352 B Hoppe FDP 10305 A Schmidt, Bundeskanzler . . . 10306 C, 10342 B Dr. von Weizsäcker CDU/CSU 10320 D Genscher, Bundesminister AA 10327 B Dr. Barzel CDU/CSU . . . . . . . . 10334 C Dr. Marx CDU/CSU 10347 C Dr. Bangemann FDP 10359 A Namentliche Abstimmung 10366 C Einzelplan 05 Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts — Drucksachen 8/2405, 8/2470 — Picard CDU/CSU 10368 B Dr. Bußmann SPD 10371 B Schäfer (Mainz) FDP 10372 A Frau Dr. Hamm-Brücher, Staatsminister AA 10374 C Vizepräsident Frau Funcke 10369 C Einzelplan 27 Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen — Drucksache 8/2420 — 10376 B II Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 131. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1979 Einzelplan 14 Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung — Drucksachen 8/2414, 8/2470 — Hauser (Bonn-Bad Godesberg) CDU/CSU 10376 C Stöckl SPD 10378 D Weiskirch (Olpe) CDU/CSU . . . . . 10380 B Möllemann FDP 10383 A Dr. Apel, Bundesminister BMVg . . . 10386 D Namentliche Abstimmung . . . . . . 10389 A Einzelplan 35 Verteidigungslasten im Zusammenhang mit dem Aufenthalt ausländischer Streitkräfte — Drucksache 8/2425 — 10391 C Nächste Sitzung 10391 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 10393 A Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 131. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1979 10267 131. Sitzung Bonn, den 24. Januar 1979 Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordneter) entschuldigt bis einschließlich Adams * 26. 1. Dr. von Aerssen 26. 1. Dr. Aigner * 26. 1. Alber * 24. 1. Dr. Bayerl * 25. 1. Brandt 26. 1. Flämig * 26. 1. Gruhl 24. 1. Haase (Fürth) * 26. 1. Haberl 25. 1. Hoffmann (Saarbrücken) * 26. 1. Ibrügger * 26. 1. Dr. h. c. Kiesinger 24. 1. Klinker 26. 1. Koblitz 26. 1. Kroll-Schlüter 24. 1. Lange * 25. 1. Dr. Lenz (Bergstraße) 26. 1. Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Lücker * 24. 1. Luster * 26. 1. Müller (Bayreuth) 26. 1. Müller (Berlin) 26. 1. Müller (Mülheim) * 26. 1. Neuhaus 24. 1. Schmidt (München) * 26. 1. Schmidt (Wuppertal) 24. 1. Dr. Schmitt-Vockenhausen 26. 1. Schreiber * 26. 1. Dr. Schröder (Düsseldorf) 26. 1. Seefeld * 24. 1. Dr. Starke (Franken) * 24. 1. Frau Dr. Walz * 26. 1. Wawrzik * 25. 1. Dr. von Weizsäcker 25. 1. Würtz * 26. 1. Ziegler 26. 1. *für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Richard von Weizsäcker


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Ich weise darauf hin, daß es in unserem Gemeinwesen darauf ankommt, daß der Bürger sich auf die Aussagen ver-
    lassen kann, die ihm von den verantwortlichen Stellen nicht nur außerhalb, sondern auch während eines Wahlkampfs gemacht werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Ich stelle fest, daß das, was der Bundeskanzler im Wahlkampf zum Thema Renten gesagt hat, etwas ist, worauf sich der deutsche Bürger nicht verlassen kann.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU)

    Dann haben Sie gemeint, Herr Bundeskanzler, wir hätten Ihnen vorgeworfen, Sie hätten sich an dem Stahlstreik eingreifenderweise beteiligen sollen. Nein, das haben wir nicht gesagt. Wir haben nicht gesagt, Sie hätten eingreifen sollen. Was wir aber sagen, ist, daß Sie nicht teils durch Schweigen, teils durch gesundbeterische Äußerungen an dem hätten vorbeigehen sollen, was z. B. der Herr Farthmann, den Sie vorhin mit Recht gelobt haben, seinerseits öffentlich erklärt hat: daß nämlich dieser Stahlarbeiterstreik ein gefährliches Signal für eine Trendwende zum Schlechteren gewesen sei.
    Schließlich ein Wort zu der Frage der Einheitsgewerkschaft. Herr Bundeskanzler, selbstverständlich wendet sich kein Kollege in diesem Hause dagegen, daß Mitglieder von Gewerkschaften Bundestagsabgeordnete werden oder für das Europäische 'Parlament kandidieren. Darum geht es ja gar nicht. Aber wenn ich einmal den für beide Richtungen etwas unziemlichen Vergleich zwischen den Gewerkschaften und den Kirchen hier wählen darf: wenn einer Theologie studiert hat oder vielleicht auch Pfarrer geworden ist, besteht an sich kein grundsätzliches Bedenken dagegen, daß er auch für ein parlamentarisches Mandat kandidiert. Aber wenn er Bischof ist, dann sollte er das lieber bleiben lassen. Und wenn einer Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes oder Vorsitzender der größten Industriegewerkschaft in der Bundesrepublik Deutschland ist, dann sollte er sich doch dreimal überlegen, wie er die Tendenz zur Aufrechterhaltung der Einheitsgewerkschaft — die wir unterstützen — wirklich soll vereinbaren können mit der parteipolitischen Profiarbeit, die jeder von uns als Parlamentarier und Wahlkämpfer leisten muß.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Zum Schluß haben Sie sich mit einer großen Geste mit Recht dem Thema der Dritten Welt zugewandt. Ich frage mich bloß, was diejenigen Zuhörer dieser Debatte, die aus der Dritten Welt stammen, sich eigentlich von Ihren Äußerungen zur Dritten Welt kaufen können, die ausschließlich darin bestanden, einige Betrachtungen zur Frage der vierten Partei anzustellen.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

    Schließlich möchte ich zu dem, was Sie zum Thema der Extremisten gesagt haben, vorweg folgende Bemerkungen machen. Es ist in der Tat ein Thema, das uns schwere Sorgen macht und dem wir uns mit der ganzen Kraft unserer Verantwortung zu widmen haben. Der Bundespräsident hat bei seiner Rede über das Geburtsjubiläum von Lessing wieder einen schönen Satz gesagt, nämlich „Der zu bekämpfende



    Dr. von Weizsäcker
    Feind der Toleranz ist die Intoleranz. Das ist keine Toleranz, die die Intoleranz gewähren läßt." Ihr Parteikollege, der stellvertretende Landesvorsitzende der SPD in Berlin, Herr Riebschläger, hat neulich in einem Interview gesagt, es wäre pflichtwidrig, wenn eine Behörde vorhandene Erkenntnisse nicht benützen, sondern verdrängen würde, um an diesen verdrängten Erkenntnissen vorbei dann einem Extremisten die Chance zu geben, in den öffentlichen Dienst zu kommen. Herr Bundeskanzler, was Sie und Ihre Regierung hier jetzt in die Tat umzusetzen versuchen, ist in Wirklichkeit ein Schritt weg von den Prinzipien, die wir in unserem Rechtsstaat brauchen. Es ist ein Schritt weg von der vorher berechenbaren, nachprüfbaren Form des Schutzes unseres Rechtsstaates hin zu einer Willkür der einzelnen Behörde, über die niemand mehr eine Kontrolle hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Außerdem sollte jeder, der sich für den öffentlichen Dienst bewirbt, vorher wissen, woran er ist, und so schnell wie möglich, nicht aber gemäß Ihrem Beschluß vielleicht zunächst einmal ohne Verwertung der in einer Behörde vorhandenen Kenntnisse eingestellt werden, anschließend aber einer Kontrolle ausgesetzt werden, ob er sich im Dienst wirklich noch extremistenfreundlich betätigt. Wer soll eigentlich die Kontrolle ausüben? Ist das nicht eine Form des organisierten Schnüffeltums, von dem wir uns alle miteinander entfernen sollten?

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Aber dann, Herr Bundeskanzler, haben Sie Ihre Ausführungen damit begonnen, daß Sie gesagt haben, wir, die CDU/CSU, hätten kein Programm vorgelegt. Nun ja, es ist ja hier kein Programmparteitag der CDU oder der CSU, sondern eine Debatte über den Haushalt des Bundeskanzlers. Infolgedessen geht es um das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein Ihres Programms.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Ich möchte Sie einladen, da wir uns nun im letzten Jahr dieses Jahrzehnts, der 70er Jahre befinden, die Frage mit mir zusammen durchzugehen: Was ist denn nun aus dieser Dekade geworden, aus der Dekade der großen Ankündigungen, mit denen Sie die 70er Jahre eingeläutet haben? Damals hieß es: Wir brechen auf zu neuen Ufern; es' wird die Dekade der großen Reformen sein;

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Jeden Tag eine Reform!)

    mit der Demokratie fangen wir jetzt richtig an; der Weg ins glückliche Zeitalter des Sozialismus beginnt nunmehr. Am Ende steht, wie mir scheint, dreierlei.
    Der Sozialismus hat eine gigantische Steigerung des ohnehin schon gefährlichen Trends zu mehr Staat, mehr Demokratie, mehr Gesetzen, mehr Reglementierung des Menschen, mehr Unselbständigkeit und damit weniger Freiheit mit sich gebracht. Um die Reformexperimente, die mit soviel politischen Glockenklang angekündigt waren, ist es auffallend still geworden. Niemand schweigt dar-
    über so hörbar wie die Sozialisten selbst. In Berlin z. B. traut sich die SPD in ihrem großen Wahlprospekt überhaupt nicht mehr, mit einem Wort von den Schulen zu reden.

    (Zurufe)

    Dort aber, wo die 70er Jahre den Sozialismus wirklich vor große Herausforderungen gestellt haben, wo er nun wirklich von den eigenen Voraussetzungen her hätte zeigen sollen, daß er die große Alternative sei, für die er sich selbst hält, dort hatte er überhaupt keine Antworten, nämlich auf die große Wirtschaftskrise, die die ganze Welt geschüttelt hat und mit deren Folgen wir nach wie vor zu kämpfen haben.
    Nun steht heute und hier nicht der Etat der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zur Debatte, sondern der Haushalt des Bundeskanzlers. Da gilt es, genauer zu sagen, was die Bilanz des Sozialismus der 70er Jahre für die Bilanz des Bundeskanzlers und umgekehrt bedeutet. Hier möchte ich zunächst etwas anerkennen, ,Herr Bundeskanzler, falls Sie das interessiert, wenn wir etwas anzuerkennen haben. Sie haben, wie ich meine, Verschiedenes aus dem sich abzeichnenden Konkurs sozialistischer Experimente herausgerettet. Sie haben zwar nicht Ihre Partei, die SPD, in die Mitte zurückgeholt, aber Sie haben doch Teile der Regierungspolitik in die Mitte zurückgeholt. Sie sind uns zwar die Darlegung der Konzepte, der Leitlinien und der Ziele Ihrer Politik, nach denen wir, z. B. Rainer Barzel und ich, Sie schon gleich nach Ihrer allerersten Regierungserklärung gefragt haben, bis heute schuldig geblieben. Aber Ihre Politik ist doch immerhin eine Art Realismus, ein Realismus ohne Zukunftsperspektive, aber immerhin Realismus, der einige bewährte Erkenntnisse und Methoden nicht sozialistischer Art z. B. im Felde der Wirtschaftspolitik bewahrt hat, durchaus in Distanz zur eigenen Partei, und zwar in einer ständig wachsenden Distanz — siehe Klose.
    Einerseits ist das, Herr Ehmke, ein Glück im Unglück. Stellen wir uns einmal vor, Sie wären Bundeskanzler gewesen!

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU)

    Andererseits aber ist es eine Täuschung über die Mehrheitsverhältnisse; denn der Herr Bundeskanzler regiert nun einmal mit wechselnden Mehrheiten, obwohl Sie das ja immer nicht wollen.
    Drittens ist die verliebte Konzentration des Bundeskanzlers aufs Krisenmanagement natürlich auch eine sehr ernste Gefahr; denn es bleibt immer mehr an ungelösten Aufgaben liegen. Es verkümmern immer mehr Ansätze und Instrumente in der Politik, und die Schere zwischen dem Tagesgeschäft des Kanzlers und den Zielen seiner Partei öffnet sich immer gefährlicher. Dafür möchte ich Beispiele nennen.
    Herr Bundeskanzler, Sie haben zwar das Prinzip des Ökonomischen hochgehalten — gegen die Programme Ihrer Partei —, aber was bleibt denn heute in der Wirtschaft an Steuerung und Zielen noch übrig? Einerseits ist die Bundesbank mit ihrer Geldpolitik zu nennen. Freilich muß sie mit wachsenden Schwierigkeiten kämpfen, nicht zuletzt mit unge-



    Dr. von Weizsäcker
    rechtfertigten öffentlichen Angriffen durch die eigene Regierung.
    Andererseits sind die Tarifvertragsparteien zu nennen, deren Autonomie wir alle miteinander wollen und deren Kampfmittel wir auch alle miteinander respektieren, freilich in jenem Klima, worüber ich Ihnen das Zitat von Herrn Farthmann vorhin schon genannt habe. Die geschaffenen Instrumente wie das Stabilitätsgesetz oder die Konzertierte Aktion verkümmern oder verschwinden. Wie ist denn die Auswirkung dessen, was mitunter von den Tarifvertragsparteien ausgehandelt wird, nun wirklich und real für die Arbeitslosigkeit? Es werden Bedingungen erkämpft, mit denen man den Arbeitslosen zuwinkt. Man sagt ihnen: Zu diesen fabelhaften Bedingungen werdet ihr arbeiten dürfen, wenn ihr eines Tages wieder hereinkommt. Es wird aber nicht gesagt, daß es oft die Bedingungen selbst sind, die das Wiederhereinkommen der Arbeitslosen erschweren.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrem „Spiegel"-Interview von Anfang Januar beklagt, daß die Bereitschaft zum Risiko geringer geworden sei. Es fehle, wie Sie sagten, an dynamischen Unternehmern. Sie haben dann zunächst mit Recht hinzugefügt, daß es natürlich leichter ist, etwas zu riskieren, wenn man nichts hat, als nach 30 Jahren, wenn sich einiges angesammelt hat. Aber den wichtigsten Grund für das, was Sie beklagen, haben Sie doch verschwiegen. Es war doch gerade eines der Hauptergebnisse der 70er Jahre, daß die sozialdemokratische Politik die Voraussetzungen für den Sinn einer selbständigen unternehmerischen Existenz Schritt für Schritt zerstört hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Da war die Ausweitung des öffentlichen Korridors. Da sollte der private Reichtum zugunsten der öffentlichen Armut beseitigt werden. Da sollte die Wirtschaft einem Test der Belastbarkeit ausgesetzt werden. Da kam die Aktion „Gelber Punkt". Die Last von Verordnungen, Überwachungen, Bürokratien, Reglementierungen, Abgaben — das alles hat doch den Einsatz eigener Mittel, eigener Kraft, eigener Nerven immer sinnloser gemacht. Mancher Mittelständler braucht heute geradezu die Hartnäckigkeit eines bürgerinitiativenähnlichen Protestes gegen die von Ihnen gutgeheißenen Verhältnisse, um seiner Selbständigkeit treu bleiben zu können.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Herr Bundeskanzler, ich denke, Sie kennen die Zahlen, die uns doch allen zu denken geben sollten. In der zweiten Hälfte der 60er Jahre waren noch 15 % der Beschäftigen selbständig, und weitere 17 % hatten das berufliche Ziel, eines Tages selbständig zu werden. Am Ende der von Ihnen bestimmten Dekade ist die Zahl der Selbständigen von 15 % auf 8 % und die Zahl derer, die in ihrem Beruf selbständig werden wollen, von 17 % auf 7 % zurückgegangen. Ich denke, diese Zahlen sprechen für sich selbst. Es geht uns doch nicht darum, einen bestimmten Berufsstand besonders zu begünstigen oder gar die Unternehmer reicher zu machen.
    Was Sie über die Vertretung der verschiedenen Abgeordneten aus den verschiedenen Berufszweigen gesagt haben, war doch mehr als komisch. Wie wollen Sie sich eigentlich in Ihrer eigenen Regierung mit den Aussagen sehen lassen, die Sie vorhin hier gemacht haben?

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Worum es uns geht, ist zweierlei. Erstens. Die Soziale Marktwirtschaft funktioniert nur, wenn die Leistung eine lohnende Zukunft findet. Wachstum, Ertrag, den man verteilen kann, also Wohlstand — das alles fließt doch nicht aus öffentlichen Kassen, sondern es fließt aus der privaten Kraft, der privaten Energie und der privaten Initiative des Menschen. Wenn diese Quelle nicht mehr sprudelt, weil das politische Regierungswetter, das die SPD erzeugt, sie zum Versiegen bringt, dann ist die öffentliche Riesenhand nicht mehr leistungsfähig, dann kann sie auf die Dauer ihr Versprechen nicht mehr halten. Dann enttäuschen Sie Erwartungen, dann untergraben Sie das Vertrauen.
    Nun kommt der zweite Grund, der eng damit zusammenhängt und der, wie ich meine, noch wichtiger ist: Sie haben nicht nur die Selbständigen in der Wirtschaft entmutigt, auch die ständige Zunahme staatlicher Funktionen auf allen Lebensgebieten, von der Wissenschaft über die Umwelt, den Verkehr, die sozialen Einrichtungen bis in alle Phasen der Erziehung, hat tiefgreifende Folgen für die Lebensführung und Lebensauffassung des Menschen selbst.
    Natürlich ist das ein ganz langfristiger Vorgang, und wir alle haben unseren Anteil daran. Die Zunahme staatlicher und gesellschaftlicher Leistungen war auf vielen Gebieten notwendig, vor allem dort, wo es um die soziale Gerechtigkeit geht. Auf diesem Weg haben wir miteinander alte Probleme gelöst. Aber nun sind wir unter Ihrer Führung in diesen 70er Jahren weit über das Ziel hinausgeschossen.

    (Beifall bei der CDU/CSU) Neue Probleme haben Sie geschaffen.

    Herr Bundeskanzler, Sie kennen doch die oft zitierten Worte in den 70er Jahren, die Erziehung sei nur Sache der Gesamtgesellschaft oder: die Kinder müßten vor der Fremdbestimmung durch die Eltern geschützt werden. Diese Texte sind wegen ihrer Torheit und Angreifbarkeit allmählich in den Hintergrund geschoben worden; aber die Folgen leben bis heute fort.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Lassen Sie mich nur ein Beispiel dafür nennen. Unter der Führung Ihrer famosen Senatorin für Familie in Berlin, die in Wahrheit eine Senatorin gegen die Familie ist, —

    (Beifall bei der CDU/CSU — Löffler Unfaire Art und Weise! Machen Sie doch in Berlin Wahlkampf und nicht in Bonn!)

    — Wenn Sie in Übereinstimmung mit Ihrem Organ „Vorwärts" Berlin für ein Abstellgleis halten, dann können Sie es natürlich auch nicht ertragen, daß hier über Berlin gesprochen wird.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der SPD)




    Dr. von Weizsäcker
    Aber ich finde, daß Berlin eine nationale Aufgabe ist und daß wir in Berlin in ganz typischer Weise erkennen können, wohin die Fehlentwicklungen, die von den Ideologen aus Ihrer Partei verursacht wurden, führen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Das will ich jetzt fortsetzen: Demnächst wird in Berlin für 75 °/o aller Neugeborenen von der siebenten Lebenswoche an ein Krippenplatz zur Verfügung stehen. Was heißt das? Es ist für viele Neugeborene ein Segen, daß für sie ein Krippenplatz da ist, wenn ihr Elternhaus nämlich nicht verfügbar oder nicht handlungsfähig ist und wenn eine materielle Not vorliegt. Aber aus solchen Notfällen machen Sie den Normalfall. Die eindeutigen wissenschaftlichen Erkenntnisse, daß es für die Neugeborenen ein Segen im Leben ist, wenn sie, soweit es geht, durch die eigene Familie, die eigenen Eltern, die eigene Mutter betreut werden, die ignorieren Sie. Die Erziehung des Kindes wird bei Ihnen praktisch von Geburt an sozialisiert und verstaatlicht.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Die bürokratische Ersatzvornahme tritt an die Stelle der menschlichen Aufgabe.

    (Zuruf des Abg. Dr. Ehmke [SPD])

    Die Elternschaft verkümmert zur biologischen Funktion, anstatt als natürliche, als innerfüllende und mitmenschliche Verantwortung verstanden und erlebt zu werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Am Ende dieses Jahrzehnts,

    (Wehner [SPD] : Möchte ich Sie mal sehen!)

    Herr Bundeskanzler, ist festzuhalten: Ihre Bildungsreformer haben den Schülern mehr Theorie und Einsamkeit verschafft als das, was sie wirklich brauchen, nämlich allgemeine Bildung, Charakterbildung und Vorbereitung für die berufliche Welt.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Mit der Vernachlässigung der beruflichen Bildung haben Sie die Zukunftschancen so manches Jugendlichen nachhaltig beeinträchtigt. Mit der Axt an die Wurzel der Familie, einer Axt, die von den sozialistischen Ideologen gekommen ist und die noch bis in den „Orientierungsrahmen '85" Ihrer Partei hineinreicht, haben Sie buchstäblich in den Kernbestand unserer Kultur einzugreifen versucht.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Sie persönlich, Herr Bundeskanzler, haben sich zwar
    oft mit besseren Erkenntnissen zu Wort gemeldet.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Er hört gar nicht zu!)

    Ich meine damit weniger Ihre Äußerungen über oder gegen Professoren und Intellektuelle, sondern z. B. auch den Satz, den Helmut Kohl heute morgen zitiert hat, nämlich den Satz von der allzu flachen Reideologisierung, hinter der nicht genügend eigene geistige Arbeit steckt. Aber es hat sich ja nun einmal alles in der Dekade der 70er Jahre zugetragen,

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Er liest den „Stern" !)

    und Sie, Herr Bundeskanzler, tragen die Hauptverantwortung für diese Zeit. Sie haben uns Ihre Perspektiven verschwiegen, zu allermeist zum Thema Geburten und Familie, wie man soeben hören konnte. Deswegen sind Sie der Adressat für unsere Sorgen.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Seiters [CDU/ CSU] : Der liest doch den „Stern"!)

    Aber auch am Übergang von der Innen- zur Außenpolitik, Herr Wehner, haben wir dasselbe Bild. Ihr Mittel zur Politik, Herr Bundeskanzler, im Felde Europas ist wiederum das Geldsystem. Ich will nun zum Europäischen Währungssystem auch meinerseits nicht allzu viel sagen, nachdem Sie selber, obwohl Sie darauf angesprochen worden sind, darauf überhaupt nicht zurückgekommen sind.

    (Dr. Jenninger [CDU/CSU] : Er schweigt sich aus!)

    Das Europäische Währungssystem ist ja das von Ihnen am meisten empfohlene und versprochene Gericht. Es steht gewissermaßen auf Ihrer Karte als die besondere Empfehlung des Chefs. Freilich schicken Sie alle fünf Minuten einen Kellner herein und lassen den Gast damit trösten, daß die Zwiebeln aus dem Garten noch nicht da seien, und inzwischen riecht es aus dieser Küche schon ziemlich angebrannt.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) Aber wichtiger ist mir etwas anderes.


    (Wehner [SPD]: Hört! Hört!)

    Sie stützen Ihre Europapolitik auf die Währungszusammenarbeit mit Frankreich und darauf, daß Sie sich, wie eine englische Zeitung neulich schrieb, mit dem französischen Präsidenten auf englisch duzen, soweit man so etwas auf englisch kann.

    (Erneute Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

    — Adenauer und de Gaulle haben sich weder auf englisch noch auf deutsch noch auf französisch geduzt, aber die deutsch-französischen Beziehungen waren damals im Kern besser.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Ich beschwere mich ja überhaupt nicht, im Gegenteil, ich begrüße Ihre Zusammenarbeit mit dem französischen Präsidenten. Aber während Sie diesen Weg gehen, macht Ihre Partei ein Europaprogramm, daß hier mehrfach zutreffend als ein Rückfall in die Zeit des Klassenkampfes charakterisiert worden ist. Die Folge davon kann auf die Dauer nur die sein, daß alle Beteiligten das Vertrauen zur Regierung und der sie tragenden SPD verlieren, deren Verhältnis in diesem Punkt von Schizophrenie geprägt ist.

    (V o r s i tz : Präsident Carstens)

    Am Ende steht dann die Renationalisierung, Herr Wehner, weil den Sozialisten aller Länder

    (Friedrich [Würzburg] [SPD]: Wo steht denn das im Programm?)




    Dr. von Weizsäcker
    ihre Parteiprogramme wichtiger sind als die europäische Zukunft. — Herr Friedrich, daß Sie schreien können, wissen wir alle miteinander.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Aber besser wäre es, wenn Sie etwas gegen den folgenden, von Ihnen ja mit herbeigeführten Zustand tun würden, daß nämlich Ihre Freunde, die Labour Party, ihren radikalsten Antieuropäer, den Energieminister Tony Benn, in das Präsidium des Bundes der sozialdemokratischen Parteien der Europäischen Gemeinschaft schicken, daß der Franzose Mitterrand, Ihr Freund, nach wie vor davon spricht, er wolle lieber kein Europa, wenn es nicht sozialistisch sei, daß Ihr stellvertretender Parteivorsitzender Koschnick die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft zur politischen Union für nicht erstrebenswert erklärt, und zwar wegen der Ost-West-Beziehungen.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Friedrich?

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Richard von Weizsäcker


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Nein, ich möchte gern weitersprechen. — Die Berliner SPD schließlich — das wird Sie dann wieder freuen — nominiert ihren eigenen Landesvorsitzenden als Kandidaten für das Europa-Parlament, damit sie ihn auf diese Weise aus Berlin los wird.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Eine ähnlich gefährliche Zuspitzung eines Widerspruchs innerhalb Ihres eigenen politischen Lagers, Herr Bundeskanzler, zeigt sich immer von neuem auf dem so zentralen und bedeutungsvollen Gebiet der Sicherheits- und der Entspannungspolitik.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Sehr wahr!)

    Der Bundesverteidigungsminister hat angekündigt, nach seiner Überzeugung werde es in der Frage des Truppenabbaus Konflikte zwischen der Opposition und der Koalition geben. Nun, Konflikte gibt es und wird es geben; die Frage ist nur zwischen wem. Es war ja nicht von ungefähr, daß Herr Wehner heute früh seine Stimme überhaupt nur an einer einzigen Stelle wirklich gehoben hat; das war an der Stelle, wo er uns offenbar erklären wollte, was er mit seinem Artikel in der „Neuen Gesellschaft" zum Thema Sicherheit und Entspannungspolitik wirklich gemeint habe.
    Das Kernstück unserer Aufgabe ist, Rüstungskontrolle, Rüstungsbegrenzung und Abrüstung auf dem Boden von Sicherheit zu erreichen, aber nicht unter Preisgabe von Sicherheit.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Das ist unser vitales Friedensinteresse. Die be-
    sorgten Fragen, die man in Washington hören kann
    ich habe sie gerade vor wenigen Tagen gehört —,
    beziehen sich nicht auf das, was Sie, Herr Bundeskanzler, gesagt haben, aber auf eine Kette von Stellungnahmen aus Ihrer hiesigen Fraktion, von dem
    Kollegen Pawelczyk über Herrn von Bülow, über
    Herrn Bahr bis hin zu dem Artikel von Ihnen, Herr Wehner. Ihr Artikel in der „Neuen Gesellschaft" mit seinen sehr genau überlegten Zitaten und Zitatabbrüchen und -auslassungen ist in der Tat ein Lesens- und bemerkenswertes Dokument. Sie sagen, die Notwendigkeit neuer Waffen sei nur vorgeblich, während der Rüstungsabbau tatsächlich notwendig sei. Damit halbieren Sie die Fragestellung. Damit führen Sie in der Tat auf einen Weg, der zur Preisgabe von Sicherheit führen kann. Das wird in Washington und in Moskau alles sorgfältig gelesen. In Washington weiß man sehr gut, daß nach einem möglicherweise bald bevorstehenden Abschluß der SALT II-Verhandlungen und ihrer Ratifizierung zu-.nächst im westlichen Lager Klarheit über die Voraussetzungen einer Entspannung hergestellt werden muß. Man kann nicht gleich anfangen, mit dem Osten über die Grauzone zu verhandeln. Man muß erst einmal bei sich selbst die Sache durchgedacht und in bezug auf ihre möglichen Implikationen im Bereich der Produktion und der Dislozierung einigermaßen klarhaben. Da ist nun die Frage: Was gilt? Gilt das, was Herr Apel sagt, daß nur dann Rüstungskontrollverhandlungen geführt werden können, wenn sie aus der Position der gesicherten Verteidigungsfähigkeit erfolgen, und zwar auch im konventionellen Bereich und im Grauzonenbereich? Oder gilt das, was Herr Wehner mit diesem von mir zitierten Satz mindestens als Möglichkeit wieder andeutet — in Erinnerung an das, was wir vor einem Jahr vor allem von Herrn Bahr gehört haben?

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Wehner, ,der große Nebelwerfer!)

    Soll auf diese Weise die Modernisierung und die Dislozierung wiederum durch eine frühzeitig eröffnete öffentliche Debatte erschwert oder unmöglich gemacht werden?

    (Löffler [SPD] : Ist sie denn schon einmal unmöglich gemacht worden?)

    Man liest das natürlich auch in Moskau. Meine Damen und Herren, wer wollte denn leugnen, daß die gesicherte Entspannung für uns alle lebensnotwendig ist. Aber wer will glauben, daß wir sie mit den Signalen Ihres Artikels, Herr Wehner, wirklich erreichen? Nein! Ich bin gerade gestern abend aus Moskau wiedergekommen und habe dort an. einem Gespräch teilgenommen, wo sehr ernst und sehr offen gerade über diese Fragen ein Gedankenaustausch gepflogen wurde. Da haben wir uns, ganz ohne uns dem Verdacht der Entspannungsgegnerschaft auszusetzen, an unsere Gastgeber mit den Fragen gewandt, die auch, wie ich meine, gestellt werden müssen. Wie soll es zu einer gesicherten Entspannung angesichts mancher Widersprüche kommen, denen wir bei der Sowjetunion nach wie vor gegenüberstehen? Einerseits sollen wir uns nach ihrem Wunsch vor den bösen Absichten der fernen Chinesen fürchten, andererseits aber sollen wir vergessen, daß im konventionellen Bereich ,die Panzerüberlegenheit und im eurostrategischen Bereich die atomare Überlegenheit der SS 20 zunimmt. Einerseits sollen wir die Annahme von SALT II bei unseren Verbündeten unterstützen, was wir ja auch wollen,



    Dr. von Weizsäcker
    aber andererseits sollen wir dazu beitragen, daß unsere Verbündeten vergessen, daß es militärische Interventionen der Sowjetunion und ihrer Verbündeten in allen möglichen Teilen Afrikas und Asiens gibt.

    (Dr. Ehmke [SPD] : Wer soll das vergessen?)

    Einerseits will die Sowjetunion mit ihrer — wie sie es versteht — Friedenspolitik in der ganzen Dritten Welt Respekt finden, andererseits liegt die Entwicklungshilfe der Sowjetunion nur bei der Hälfte der unsrigen, und sie geht nur an Länder, die an der strategischen Interessenlinie Moskaus liegen.
    Das alles muß gefragt werden, und deswegen ist die Kette jener Äußerungen — Pawelczyk, Bahr, Wehner usw. — so zweideutig, so geeignet, Nebel zu verbreiten, statt Klarheit zu schaffen, und somit im Ergebnis so gefährlich.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Eindeutige Zweideutigkeiten!)

    Herr Bundeskanzler, ich bezweifle ja gar nicht, daß Sie es mit unseren NATO-Verpflichtungen und mit einer Suche nach einem integrierten Programm von Sicherheit und Abrüstung ernst meinen, aber dann müssen Sie auch imstande sein, endlich die eigenen Reihen bei der Stange zu halten. Es genügt nicht, daß Herr Wehner, nachdem die Sache über dpa in der „Welt" aufgefallen ist, erklärt, er bezweifle Ihren Sachverstand nicht,

    (Wehner [SPD] : „Darf nicht gedruckt werden" !)

    sondern bringen Sie Ihre Fraktion hinter sich, bringen Sie sie nachhaltig hinter sich, und bringen Sie uns nicht immer wieder in die Lage,

    (Wehner [SPD] : Sie Armer!)

    daß wir alle drei Monate ein neues Anbohren unserer Sicherheit mit anschließendem öffentlichen Dementi erleben müssen!

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Solange Ihnen das immer wieder mißlingt wie
    nun schon seit zwei Jahren —, schaffen Sie den Zustand, von dem ich eingangs gesprochen habe. Sie regieren mit wechselnden Mehrheiten. Nebel, Unsicherheit im Westen und auch manche nicht ungefährliche Illusion im Osten können die Folge sein.
    Herr Bundeskanzler, lassen Sie mich schließlich noch ein paar Bemerkungen über Berlin, Deutschland und die Nation machen. Ich habe da einige ganz erstaunliche Sätze in Ihrem „Spiegel"-Interview gelesen. Sie haben dort gesagt: Das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit hat keinen Schaden gelitten. Die geistigen Führungsschichten heute orientieren sich mehr am geschichtlichen Bestand der Nation als Goethe vor 150 Jahren. — Weiter haben Sie gesagt, das gegenwärtige Verhältnis zwischen den beiden deutschen Teilstaaten sei nicht so schlecht wie früher das Verhältnis zwischen deutschen Teilstaaten.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Wie bitte?)

    Als Beweis dafür haben Sie darauf hingewiesen, daß es früher innerdeutsche Kriege gegeben habe, heute dagegen nicht.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Merkwürdige Argumentation!)

    Zunächst klingt das wie ein Vorwurf an die Adresse von Goethe. Natürlich kann man sagen, Goethe war, national gesehen, ein Versager; er hat sich mehr für Napoleon als für die Befreiungskriege interessiert. In Wirklichkeit aber gibt es doch keinen Vorwurf an Goethe; er lebte in einer Zeit, in der es einen übergreifenden europäischen Geist gab, der viel wichtiger war als die ziemlich fließenden offenen Grenzen. Heute aber leiden wir unter Grenzen, zumal dann, wenn sie künstlich, wenn sie widernatürlich und daher durch Minen, durch Stacheldraht und durch Mauern gekennzeichnet sind. Davon war aber in Ihrer Betrachtung über die Nation nicht die Rede.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Eine Pseudoargumentation!)

    Natürlich sind wir dankbar dafür, daß es keinen Krieg zwischen den beiden deutschen Teilstaaten gibt. Aber ist das denn etwa eine Folge politischen Fortschritts, ist es nicht vielmehr eine Folge einerseits des atomaren Zeitalters und andererseits der Sowjetmacht? Oder wollen Sie vielleicht auch so weit gehen wie Ihr Parteifreund und EuropaparlamentsKandidat Eugen Loderer, der neulich die Ost-West-Polarisierung in den letzten drei Jahrzehnten in
    einer Zeitung beschrieben und gesagt hat:
    Beide Teile Deutschlands konnten ihren eigenen Weg gehen, der eine nach Westen, der andere nach Osten,

    (Dr. Barzel [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

    und beide Teilstaaten konnten den anderen Jahrzehnte vergessen.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Unglaublich!)

    Nein, treten Sie lieber diesen unglaublichen Verharmlosungen der Ursachen entgegen, Herr Bundeskanzler. Konnten denn die Deutschen ihren Weg nach Osten wirklich freiwillig gehen, oder wurden sie dazu durch sowjetische Panzer gezwungen?

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Helfen Sie lieber mit, daß den vielen Deutschen, die täglich unter der Teilung leiden, nicht der Verdacht aufsteigt, daß sie mit Loderers ebenso geschichtsblinder wie hoffnungsloser Behauptung gleichgesetzt werden.
    Es wäre besser, Herr Bundeskanzler, die Lage der Nation nicht mit Goethe zu verharmlosen, sondern den unverantwortlichen Äußerungen entgegenzutreten und die Lage beim Namen zu nennen. Sie sollten auch den Äußerungen entgegentreten, die Ihr Genosse Loderer zu Berlin machte, als er sagte: Berlin ist ein für allemal politische Provinz.

    (Hört! Hört! bei der CDU/CSU — Dr. Jenninger [CDU/CSU] : Unglaublich!)




    Dr. von Weizsäcker