Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jede Gesellschaftsordnung ist in ihrer Identität durch einige grundlegende Elemente geprägt. Dazu gehören die Werte, denen sich die Gesellschaft verpflichtet weiß, Werte wie die Menschenwürde, die Freiheit und die Gerechtigkeit. Dazu gehören einige zentrale Rechtsinstitute wie die Privatautonomie und das Eigentum. Dazu gehören aber vor allem auch die elementaren Institutionen wie der Staat, die Gemeinde, die Familie und die Ehe. Der Gesetzentwurf, den wir heute behandeln, ist schon deshalb kein Alltagsgegenstand. Seine Regelungen gehören vielmehr zum engeren Bestand unserer gesellschaftlichen Grundnormen.
Dem entspricht, daß der Entwurf das Lebensschicksal, das Glück und die Persönlichkeitsentfaltung von Millionen Mitbürgern unmittelbar berührt. Am stärksten gilt dies für die Zehntausende, ja wahrscheinlich sogar über hunderttausend Mitbürger, die das geltende Recht seit Jahren und Jahrzehnten in einer toten, schon längst zerbrochenen Ehe festhält, und die das Fortbestehen einer sinnentleerten rechtlichen Bindung als Unheil und als tägliche Bestrafung und Brandmarkung empfin-
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den. Jeder von uns kennt die Not und die innere Auflehnung dieser Menschen, und jeder von uns weiß, mit welcher inneren Spannung gerade diese Menschen den heutigen Tag erwartet haben. Es gilt aber auch für diejenigen, deren Ehen in Zukunft scheitern und denen es keineswegs gleichgültig ist, welche Verfahren und welche Lösungen das Recht für sie und ihre Kinder zur Überwindung einer solchen Lebenskrise zur Verfügung stellt.
Der Bedeutung des Entwurfs entspricht schließlich auch die Sorgfalt und Gründlichkeit, mit der er vorbereitet worden ist. 1967 hat der Deutsche Bundestag auf Antrag der SPD-Fraktion die Einsetzung einer Eherechtskommission gefordert. 1968 hat Gustav Heinemann in die Kommission Männer und Frauen aller weltanschaulichen und politischen Richtungen, Wissenschaftler, Praktiker und Politiker berufen. Mein Amtsvorgänger Gerhard Jahn hat dann den auf den Vorarbeiten der Kommission be- ruhenden Text einer umfassenden öffentlichen Diskussion unterbreitet. Zahlreiche betroffene oder interessierte Bürger, die Kirchen, die Medien, die Frauenorganisationen, die Gewerkschaften, der Deutsche Juristentag und viele andere — sie alle haben mit ihren Anregungen und Vorschlägen den endgültigen Entwurf mitgeformt, der jetzt nach ganz besonders intensiven parlamentarischen Beratungen verabschiedungsreif vor uns liegt.
Aus all dem folgt, meine Damen und Herren: Wir müssen diesen Entwurf engagiert, aber mit Würde behandeln. Wir sollten auf alle vordergründigen Effekte verzichten. Und wir sollten uns unserer besonderen Verantwortung bewußt sein. Hier kann und darf es nicht um ein paar parteipolitische Tagesvorteile gehen. Hier geht es um Kernstücke unserer Rechtsordnung.
Deshalb, Herr Mikat, bedaure ich ein wenig, daß Sie Ihre sonst durchaus ernst zu nehmende und bedenkenswerte Rede durch das banale Zitat von der Ehe, die leichter kündbar sei als ein Mietvertrag, nicht bereichert, sondern eher entwertet haben.
Schon die bisherige Debatte hat gezeigt, daß wir uns nicht über alle Einzelheiten des Entwurfs werden einigen können. Um so wichtiger erscheint mir, daß wir unsere Ausgangspunkte gegenseitig mit Respekt zur Kenntnis nehmen und uns so verdeutlichen, wo eigentlich Gegensätze bestehen und wo nicht. Dann nämlich werden die Schreckenstafeln, die einzelne Kritiker im Laufe der Zeit aufgerichtet haben, wie Kartenhäuser zusammenfallen.
Zunächst einmal: Wer will denn im Ernst leugnen, daß die Familie in allen Industriestaaten einen tiefgreifenden Funktions- und Strukturwandel durchgemacht hat? Die Familie, in der nur Eltern und Kinder zusammenleben, ist heute die Regel — nicht mehr die Großfamilie der früheren vorindustriellen Jahrhunderte. Ebenso ist die Familie heute normalerweise nicht mehr Produktionsgemeinschaft, sondern eben in starkem Maße Konsumgemeinschaft.
Die seit der beginnenden Industrialisierung fortschreitende Trennung der Produktion von der Familie, die Verlagerung der Produktionstätigkeit in den außerfamiliären Bereich, hat sicher die Möglichkeiten familiären Erlebens vermindert und der Familie Funktionen genommen. Aber zugleich hat diese Veränderung die Hoffnung und den Anspruch der Menschen auf Chancengleichheit, auf Selbstverwirklichung, auf personale Liebesgemeinschaft gesteigert. Sie bietet auch neue Chancen, diesen Anspruch in Ehe und Familie zu verwirklichen. Diese Anforderungen an eine Ehe, nicht mehr die Ansprüche einer — etwa der bäuerlichen — Produktionsgemeinschaft, stehen heute üblicherweise im Vordergrund, und dies — nämlich die stärkere Orientierung der ehelichen Lebensgemeinschaft auf den Innenbereich und die Gefühlswelt — hat eben Folgen für die Frage, wann eine Ehe ihren Sinn verfehlt hat und deshalb gelöst werden darf. Sie hat — darin stimme ich Ihnen, Herr Kollege Mikat, zu — auch Folgen für den Bedarf an staatlichen Regelungen, insbesondere für die Gebiete, auf denen Regelungen getroffen werden müssen. Zu diesen Gebieten kann aber gerade der eheliche Intimbereich mit Sicherheit nicht gehören.
Zwei Funktionen vor allem haben Ehe und Familie in unserer Zeit zu erfüllen. Da ist einmal ihre Mittlerfunktion zwischen Individuum und Gesamtgesellschaft. Die Familie verklammert den einzelnen mit allen übergreifenden sozialen Strukturen. Für die Entwicklung der nachfolgenden Generation, für ihre Sozialisation leistet die Familie Unersetzliches und Unverzichtbares. Denn die Verhaltensweisen, ohne die eine offene demokratische Gesellschaft auf Dauer nicht bestehen kann, müssen zuallererst in den entscheidenden frühkindlichen Phasen in der Familie vermittelt, erlernt, ja, eingeübt werden.
In der Familie erfahren das Kind und der junge Mensch, wie Spannungen abgebaut und Meinungsverschiedenheiten bereinigt werden. Es prägt das Kind, ob dies durch patriarchalischen Machtspruch oder durch den ständigen Dialog der Eheleute geschieht, durch das Gespräch, in das die Kinder — ihrem Alter entsprechend — allmählich mit einbezogen werden.
Zum anderen steht neben dieser die Generationen umfassenden Vermittlungsfunktion die individuelle, auf das Individuum bezogene Stabilisierungsfunktion. Die Familie steht auch in einer dialektischen Spannung zur Gesellschaft und namentlich zum Arbeitsleben. Gerade daraus zieht sie ein Gutteil ihrer Lebenskraft. Sie befriedigt Bedürfnisse, die in einer durch Technisierung, Rationalisierung, ständigen Wandel und wachsende Vielfalt der Kontakte geprägten Umwelt sonst zu kurz kommen. Die Stabilität der Innenbeziehungen, die Liebesgemeinschaft in der Familie geben dem einzelnen Halt und
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Zuflucht. Sie sichern dem einzelnen die festen Bezugspunkte und die Identität seiner Person in dem unaufhörlichen, sich eher noch beschleunigenden Wandel seines gesellschaftlichen Umfeldes.
Wer dies erkennt, hat keine Ursache, den Funktionswandel der Familie als Funktionsverlust auszugeben. Die pessimistische Feststellung des berühmten Zivilrechtlers Martin Wolff, die Rechtsgeschichte der Familie sei die Geschichte ihrer Zersetzung, ist aus der Gegenwart nicht zu belegen.
Die Diagnose, die Familie sei tot oder leide an einer Krankheit zum Tode, ist eine Fehldiagnose. Im Gegenteil: Ehe und Familie sind höchst lebendig; ihre Vitalität ist ungebrochen.
Wir brauchen nur daran zu erinnern, welch ungeheure Belastungsprobe die Familie in den Notjahren des Krieges und der ersten Nachkriegszeit glänzend bestanden hat. Andere Sozialverbände wie der Staat, die Länder, ja selbst die Gemeinden zerbrachen damals; die Familie hielt stand und gab den Menschen Halt und Zuflucht. Brüchig geworden ist etwas ganz anderes, nämlich die patriarchalische Ordnung der Familie, das einseitig an der Herrschaft des Ehemannes und Vaters orientierte Familienleitbild. Das ist brüchig geworden und befindet sich in Auflösung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das sind keine modischen Zeitströmungen, das sind tiefgreifende, ja das sind — ich sage es bewußt — säkulare Wandlungen. Der Entwurf nimmt diese Wandlungen zur Kenntnis und will ihnen gerecht werden. Manche bekämpfen den Entwurf aber gerade deshalb, weil sie diesen Wandel leugnen; weil sie einfach nicht stark genug sind, sich der veränderten Wirklichkeit und ihren Herausforderungen zu stellen. Weil ihre Nostalgie sie nicht beflügelt, sondern lähmt. Aber nicht der schützt Ehe und Familie, der vor ihrem geschichtlichen Wandel die Augen verschließt. Schützen kann sie nur, wer auf neue Fragen neue Antworten gibt und nicht die alten Antworten von gestern, wer neuen Gefahren mit neuen Abhilfen begegnet. Darüber sollte eigentlich in diesem Haus kein Streit bestehen.
Außer Streit stehen sollte auch, daß ein pluralistisches Gemeinwesen nicht eine von mehreren ethischen oder gar theologischen Maximen für verbindlich erklären kann. Dies ist nachgerade ein Grundprinzip unserer Staats- und Verfassungsordnung. Ich freue mich, daß Sie, Herr Kollege Mikat, mit einer Deutlichkeit, die man bei anderen manchmal vermißt, dieses Prinzip hier von dieser Stelle aus unterstrichen haben.
Natürlich gibt es unterschiedliche Eheauffassungen. Die katholische Ehelehre unterscheidet sich nicht unwesentlich von der protestantischen; beide wiederum stehen in wichtigen Punkten im Gegensatz zur Eheauffassung religiös ungebundener Humanisten. Warum wird dann — weniger vielleicht hier von der Tribüne des Parlaments aus als vor allem draußen in vielen Diskussionen — immer wieder der Versuch gemacht, bestimmte Lehren zu verabsolutieren? Das ist mit unserem Grundgesetz unvereinbar und widerspricht ebenso protestantischem wie modernem katholischem Verständnis. Wer Gegenteiliges behauptet, hat das Zweite Vaticanum und insbesondere die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, wohl mit das bedeutendste Dokument des Zweiten Vaticanums, nicht zur Kenntnis genommen.
Freilich, meine Damen und Herren, Sätze wie „Bürgerliche Gesellschaft und Kirche sind auf je ihrem Gebiet voneinander unabhängig und selbständig" lassen sich bei der Bekämpfung eines Reformvorhabens viel schwerer handhaben als gängige pseudotheologische Vorurteile.
Im übrigen: Die Eiferer mögen sich sagen lassen, daß sich noch jede Änderung unseres Familienrechts im Laufe der Jahrhunderte unter der Anklage vollzogen hat, der Gesetzgeber wolle die Moral oder die Natur beeinträchtigen.
Man braucht sich nur an die Widerstände zu erinnern, die seinerzeit dem Gleichberechtigungsgesetz oder der verfassungskonformen Ausgestaltung des Nichtehelichenrechts entgegengesetzt worden sind. Heute findet sich in dem von der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland am 8. und 9. November 1974 verabschiedeten Dokument über die „Christlich gelebte Ehe und Familie" der ebenso verantwortungsbewußte wie lapidare Satz:
Die Synode bittet den Heiligen Stuhl, bei der Reform des Kirchlichen Gesetzbuches die nichtehelichen Kinder den ehelich geborenen gleichzustellen.
Das ist ein Satz, der so in einem offiziellen katholischen Text noch vor 20 Jahren kaum vorstellbar gewesen wäre.
Ich bin überzeugt: Mit manchem Rechtsgedanken des Entwurfs, den wir heute behandeln, wird es ebenso gehen wie mit dem eben von mir zitierten Gesichtspunkt.
Wir sollten hier doch keine falschen Fronten aufbauen.
Das bedeutet keineswegs, daß der Gesetzgeber die rechtliche Ordnung der Ehe nach Belieben gestalten kann. Er ist an das Grundgesetz gebunden. Das Grundgesetz gebietet uns als Gesetzgebungsorgan in diesem Zusammenhang dreierlei:
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Einmal muß sich selbstverständlich auch die Ehegesetzgebung an den Grundwerten unserer Verfassung orientieren, also an der Menschenwürde, dem Recht des einzelnen auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit und am Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau.
Zum zweiten stellt Art. 6 des Grundgesetzes Ehe und Familie mit gutem Grund unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Das heißt: der Gesetzgeber muß bei allen Änderungen des geltenden Rechts von dem überkommenen Kern der beiden Institute ausgehen. Diesen Kern hat das Bundesverfassungsgericht im Gleichberechtigungsurteil so definiert, daß Ehe die Vereinigung eines Mannes und einer Frau zur grundsätzlich unauflöslichen Lebensgemeinschaft und Familie die umfassende Gemeinschaft von Eltern und Kindern sei, in der den Eltern vor allem die Pflicht und das Recht zur Pflege und Erziehung der Kinder erwachse.
Zum dritten muß die Gesetzgebung den Ehepartnern genügend Raum dafür lassen, daß sie ihre Ehe nach ihren Gewissens- und Glaubensüberzeugungen führen können.
Ich frage: Wo weicht denn der Entwurf von diesen Richtlinien ab? An welcher Stelle greift er in die Glaubens- und Gewissensfreiheit des einzelnen ein? An welcher Stelle höhlt der Entwurf das Institut der Ehe im Verständnis des Grundgesetzes eigentlich aus?
Gewiß, der Entwurf reglementiert weniger, und er moralisiert auch nicht. Er vertraut mehr auf das Verantwortungsbewußtsein der Ehepartner, und er sieht davon ab, die Gewährung oder Versagung der Scheidung einer gescheiterten, in der Wirklichkeit gar nicht mehr existenten Ehe als staatliches Strafoder Sanktionsmittel einzusetzen.
Das ist ein personales Eheverständnis, das dem Grundgesetz voll entspricht; ein Eheverständnis, das sich nicht den unfruchtbaren Gegensatz zwischen der Ehe als Institution und der Ehe als engster mitmenschlicher Beziehung aufnötigen läßt. Natürlich ist die Ehe auch eine Institution, aber eine personale, eine personenbezogene Institution; eine Institution, die nicht von den Menschen abgelöst werden kann, die sie bilden, die sich nicht verselbständigt neben die beiden Menschen dieser Ehe stellen läßt.
Meine Damen und Herren, es wird gesagt, in diesem Eheverständnis hätten Liebe, Treue, gegenseitiges Dienen, gegenseitige Aufopferung keinen Platz mehr. Es wird gesagt, die Ehe des Entwurfs sei nicht mehr als ein gewöhnlicher kündbarer Vertrag. Welch fataler Irrtum! Gerade weil der Entwurf all diesen Antriebskräften Raum geben, diese Verhaltensweisen fördern will, verzichtet er darauf, ihre Entfaltung zu verordnen oder zu befehlen oder zu erzwingen.
„Was hat die Intimsphäre der Ehe", so fragt Max Rheinstein, ein führender Vertreter der Zivilrechtsvergleichung, „mit den grobschlächtigen Mitteln der staatlichen Zwangsmaschinerie zu tun?" Eheliche Gemeinschaft entsteht freiwillig oder gar nicht. Auch nur ein mittelbarer staatlicher Zwang verfehlt sein Ziel und erreicht das Gegenteil.
Aus diesem Eheverständnis leitet der Entwurf seine Regeln ab, und aus diesem Verständnis heraus ändert er das bisherige Recht dort, wo es der Wertordnung unseres Grundgesetzes und der veränderten Wirklichkeit nicht mehr standhält.
Vieles ist hierzu schon vorgetragen worden oder wird noch im einzelnen vorgetragen werden. Ich beschränke mich deshalb auf das Wesentliche.
Erstens. Die Ehe kann schon nach dem geltenden Recht nicht bedingt oder befristet, sondern nur auf Lebenszeit geschlossen werden. Das neue Recht ändert an diesem Grundsatz nichts. Es bekräftigt ihn sogar noch, indem es den Satz: „Die Ehe wird auf Lebenszeit geschlossen" in das Gesetz ausdrücklich aufnimmt. Ich begrüße das.
Zweitens. Der Entwurf beseitigt das durch die Wirklichkeit überholte Leitbild der ,,Hausfrauenehe". Er verzichtet aber auch darauf, es durch ein neues Leitbild zu ersetzen. Allein die Ehegatten haben künftig darüber zu entscheiden, wie sie die Aufgaben in Ehe und Familie untereinander aufteilen wollen. Diese Entscheidung hat der Staat zu respektieren, nicht aber den Eheleuten vorzuschreiben.
Drittens. Beim Scheidungsrecht bringt der Entwurf den Übergang vom Verschuldens- zum Zerrüttungsprinzip. Hierin liegt eine aus der Sache heraus gebotene Selbstbeschränkung der staatlichen Gewalt. Das Zerrüttungsprinzip ist die juristische Formel für eine humanere und gerechtere Lösung zerbrochener, nicht mehr lebendiger Ehen.
Ein Gericht kann feststellen, ob eine Ehe lebendig oder tot ist, ob sie nur in eine Krise geraten oder ob sie gescheitert ist. Die Feststellung hingegen, wer an dieser Zerrüttung schuld ist, überfordert das Gericht in den meisten Fällen. Wann hätte denn je ein Gericht die Muße gehabt, die Geschichte einer Ehe über Jahre nachzuzeichnen, Schuld und Verstrickung, Schicksal und Schwäche voneinander zu trennen? Da wurde doch notgedrungen mit groben Beweisanzeichen und allgemeinster Lebenserfahrung geurteilt. Und bei der Konventionalscheidung geschah noch nicht einmal das. Die sogenannte Schuld wurde vielmehr zum Handelsobjekt der Parteien. Da blieb doch gar nichts von der Schuld und der Mitverantwortung, von der Herr Mikat heute schon sprach und die jeder bejaht, der sich zum Wert der Menschenwürde bekennt. Der Regierungsentwurf leugnet doch keineswegs, daß es Schuld auch in einer Ehe
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geben kann, daß Eheleute aneinander schuldig werden können,
aber er zieht die Konsequenz aus der jahrzehntelangen Erfahrung, daß der Staat mit seinen Mechanismen und Verfahren diese Schuld in aller Regel nicht aufzuspüren, zu quantifizieren und justitiabel zu machen vermag.
Außerdem bringt das Verschuldensprinzip notwendigerweise die soziale Ungerechtigkeit mit sich, daß die Strafe des Unterhaltsentzugs — und das ist eine schwere Strafe — nur den nichterwerbstätigen Teil, also noch immer meist die Frau, treffen kann. Der erwerbstätige Teil verliert, auch wenn er noch so schuldig geschieden wird, nicht seine wirtschaftliche Existenzgrundlage. Manche behaupten, der Entwurf führe die Verstoßungsscheidung ein. Diese Bezeichnung paßt doch viel eher auf den von mir soeben geschilderten Fall des geltenden Rechts. Hier wird wirklich ein Partner aus seiner bisherigen Existenz hinausgestoßen, und zwar mittellos, ohne Anspruch auf Unterhalt und ohne jede Differenzierungsmöglichkeit.
Noch ein Grund spricht für das Zerrüttungsprinzip. Der Kampf um den Schuldausspruch wiederholt den Ehekonflikt, den die beiden schmerzlich, meist über lange Zeit, miteinander erfahren haben, unnötiger-
' weise noch einmal vor Dritten, oft genug vor einer sensationsgierigen Öffentlichkeit — und wenn sie nur aus den Nachbarn besteht. Alle negativen Emotionen der Parteien werden noch einmal gegeneinander aufgewühlt. Ihr Verhältnis wird weiter vergiftet, und zwar meist zu Lasten der Kinder. Denn den Kindern werden beide Eltern einer gescheiterten Ehe dann am ehesten erhalten, wenn sie sich in Würde und mit einem Höchstmaß an gegenseitiger Achtung trennen können.
Gegen die Konsequenzen des Zerrüttungsprinzips, das die Opposition als Prinzip bejaht, wendet sich ihre Kritik in besonderem Maße. Drei Vorwürfe werden vor allem erhoben: das neue Recht ermögliche die sogenannte Verstoßungsscheidung, die gesetzliche Vermutung, daß eine Ehe nach Ablauf bestimmter Trennungszeiten gescheitert sei, führe zur Fristenscheidung, und das Kindeswohl sei nicht berücksichtigt.
Zunächst zum Vorwurf der Verstoßungsscheidung. Er richtet sich gegen die Regelung des Entwurfs, nach der auch dem Ehegatten die Scheidung ermöglicht wird, der die Zerrüttung der Ehe selbst verschuldet hat. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist denn nicht auch diese Ehe zerrüttet und zerstört? Wem hilft es denn, eine auf diese Weise zugrunde gegangene Ehe auf dem Papier bestehen zu lassen? Wird hier nicht Eheschutz mit Sühnebedürfnis verwechselt? Welche der so zerstörten Ehen hat denn das gegenwärtige Scheidungsverbot wieder lebendig werden lassen? Wo hat denn das geltende Recht dazu geführt, daß sich eine dieser so gescheiterten und auseinandergegangenen Ehen wenigstens wieder halbwegs normalisiert hat?
Wie kann man von Verstoßung reden, in wenn der wirtschaftlich schwächere Teil einen Anspruch auf Unterhalt hat, und zwar gegebenenfalls auf Lebenszeit, wenn er durch den Vorrang gegenüber einem neuen Ehegatten geschützt ist, wenn er außerdem durch den Versorgungsausgleich gesichert ist und wenn ihm die Beiträge für seine Alterssicherung als Unterhalt geschuldet werden, falls eine Erwerbstätigkeit für ihn nicht mehr in Betracht kommt?
Die Opposition hat vorgeschlagen, die Scheidung vor Ablauf einer dreijährigen Trennungsfrist nur dann zuzulassen, wenn dem Antragsteller aus Gründen, die in der Person oder dem Lebensbereich des anderen Ehegatten liegen, die Fortsetzung der Ehe nicht zugemutet werden kann. Damit soll offenbar ausgeschlossen werden, daß sich jemand vor Ablauf der dreijährigen Frist auf eigenes ehezerstörendes Verhalten berufen kann. Zunächst einmal stelle ich mit Genugtuung fest, daß auch die Opposition anerkennt, daß Zeitablauf rechtliche Qualität besitzt, daß durch Zeitablauf Sachverhalte einer anderen Würdigung zugänglich werden. Bei näherer Betrachtung dieses Vorschlags zeigt sich, daß die Opposition aber eben doch von einer grundsätzlich anderen Position ausgeht.
Weil nicht ausgeschlossen werden kann, daß jemand für sich den Tatbestand des Scheiterns leichtfertig ausnutzt, soll in den ersten drei Jahren der Trennung eine Scheidung eben überhaupt nur nach Verschuldensgrundsätzen möglich sein. Leichtfertiges Verhalten wird also offenbar als Regelfall unterstellt und zur Grundlage der gesetzlichen Norm gemacht. Welches von Mißtrauen und Skepsis gezeichnete Menschenbild wird hier in diesem Vorschlag offenbar!
Man traut dem einzelnen offenbar nicht zu, sich verantwortungsbewußt zu entscheiden.
Wir haben ein humaneres Bild vom Menschen und stellen Regel und Ausnahme nicht auf den Kopf. Daß die Freiheit zu eigenverantwortlicher Entscheidung auch mißbraucht werden kann, ist leider wahr. Aber das berechtigt den Gesetzgeber keineswegs, diese Freiheit jedermann ausnahmslos vorzuenthalten. Dies, meine Damen und Herren, wäre ein Rückfall in Gesetzgebungsmaximen des 19., ja des späten 18. Jahrhunderts.
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Der vorliegende Gesetzentwurf geht davon aus, daß sich der Antragsteller in der Regel seinen Schritt reiflich überlegt. Der Gang zum Gericht wird künftig nicht bequemer; die Scheidungsfolgen werden nicht leichter. Erweist sich ein Scheidungsbegehren im Einzelfall als leichtfertig, so kann das Gericht nach dem neuen Recht das Verfahren bis zu einem Jahr und nach Ablauf der Dreijahresfrist bis zu einem halben Jahr aussetzen und in Extremfällen, wenn sich die Scheidung für den Antragsgegner außerhalb des wirtschaftlichen Bereichs als eine außergewöhnliche persönliche Härte darstellt, den Scheidungsantrag sogar abweisen. Diese Regelung achtet auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel. Ausnahmeregeln kommen nur für Ausnahmefälle in Betracht.
Nun noch ein Wort zum Einwand der Fristenscheidung. Die Vermutung des Scheiterns einer Ehe nach bestimmten Trennungsfristen dient zum Schutz der ehelichen Intimsphäre und der Versachlichung des Verfahrens. Daß die Ehe gescheitert ist, wird dann vermutet, wenn die Eheleute seit mindestens einem Jahr getrennt leben und beide geschieden werden wollen. Stellt nur ein Ehegatte den Scheidungsantrag, dann tritt die Vermutung des Scheiterns nach dreijähriger Trennung ein. Der Rechtsausschuß hat vorgeschlagen, daß in beiden Fällen, also auch bei nur einseitigem Scheidungsbegehren, die Vermutung unwiderlegbar sein soll. Dagegen wird eingewandt, dies führe zu einer Scheidungsautomatik nach dem Kalender und schneide das Gespräch zwischen Richter und Parteien ab. Es sei denkbar, daß eine Ehe auch nach dreijähriger Trennung noch nicht unheilbar zerbrochen sei.
Diese Argumentation ist nicht mit leichter Hand abzutun. Aber es ist doch einfach unrichtig, daß die Unwiderlegbarkeit der Vermutung das Gespräch zwischen Richter und Prozeßparteien über die Ehe abschneidet. Nach dem neuen Eheverfahrensrecht sind die Eheleute stets vom Richter persönlich zu hören. Trägt der Antragsgegner Aussöhnungsmöglichkeiten vor, so hat der Richter den Antragsteller zu hören. Die Unwiderlegbarkeit der Vermutung verbietet es dem Richter lediglich, über Tatsachenbehauptungen Beweise zu erheben; dies müßte er sonst tun. Sollte aber ein Hin und Her von Beweisen und Gegenbeweisen dann noch erforderlich sein, wenn der Antragsteller bekräftigt, daß es für ihn trotz des richterlichen Hinweises kein Zurück mehr gibt? Der Antragsteller, der sich so äußert, hat in diesem Zeitpunkt immerhin schon mindestens drei Jahre menschlich und wirtschaftlich belastender Trennung hinter sich. Vor ihm liegen erhebliche persönliche und auch finanzielle Opfer. Meine Damen und Herren von der Opposition, wo ist denn hier eine Lebensgemeinschaft, eine Ehe, die wirklich noch gerettet werden könnte?
Die generelle Widerlegbarkeit der Vermutung
würde zwangsläufig dazu führen, daß der Antragsteller die dreijährige Trennungsfrist gar nicht erst abwarten, sondern alsbald die Scheidung aus dem Grundtatbestand des neuen § 1565 beantragt, und dies wird doch wohl von keiner Seite gewünscht.