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ID0717900200

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Metadaten
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    Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 179. Sitzung Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1975 Inhalt: Erklärungen der Präsidentin und der Fraktionen zum 17. Juni Frau Renger, Präsident 12555 A Dr. Carstens (Fehmarn) CDU/CSU 12557 B Wehner SPD 12559 C Mischnick FDP 12561 B Nächste Sitzung 12562 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten 12563* A Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1975 12555 17 9. Sitzung Bonn, den 17. Juni 1975 Beginn: 10.30 Uhr
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    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordneter) entschuldigt bis einschließlich Dr. Abelein 17. 6. Dr. Achenbach * 20. 6. Adams * 20. 6. Dr. Aigner * 20. 6. Dr. Artzinger * 20. 6. Baier 20. 6. Dr. Bangemann * 20. 6. Dr. Barzel 17. 6. Dr. Bayerl * 20. 6. Dr. Beermann 20. 6. Behrendt * 20. 6. Dr. Blüm 20. 6. Blumenfeld * 20. 6. Dr. Böger 21. 6. Böhm (Melsungen) 17. 6. Dr. Burgbacher * 20. 6. Dr. Corterier * 20. 6. van Delden 20. 6. Dr. Dregger 17. 6. Dr. Evers 17. 6. Fellermaier * 20. 6. Flämig * 20. 6. Frehsee * 20. 6. Dr. Früh * 20. 6. Gerlach (Emsland) * 20. 6. Härzschel * 20. 6. Dr. Jahn (Braunschweig) * 20. 6. Kater 20. 6. Dr. Kempfler 17. 6. Dr. Klepsch * 20. 6. Krall * 20. 6. Kroll-Schlüter 17. 6. * Für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Lange * 20. 6. Lautenschlager * 20. 6. Dr. Lenz (Bergstraße) 17. 6. Lücker * 20. 6. Lutz 20. 6. Dr. Meinecke (Hamburg) 20. 6. Memmel * 20. 6. Dr. Mende 17. 6. Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller 20. 6. Müller (Mülheim) * 20. 6. Mursch (Soltau-Harburg) * 20. 6. Dr.-Ing. Oldenstädt 17. 6. Frau Dr. Orth * 20. 6. Picard 20. 6. Dr. Ritgen 20. 6. Röhling 17. 6. Frau Schleicher 20. 6. Schmidt (München) * 20. 6. Dr. Schneider 20. 6. Frau Schroeder (Detmold) 20. 6. Dr. Schulz (Berlin) * 20. 6. Schwabe * 20. 6. Dr. Schwörer * 20. 6. Seefeld * 20. 6. Spitzmüller 17. 6. Springorum * 20. 6. Dr. Starke (Franken) * 20. 6. Dr. Stavenhagen 17. 6. Strauß 17. 6. Suck * 20. 6. Dr. h. c. Wagner (Günzburg) 20. 6. Walkhoff * 20. 6. Walther 20. 6. Frau Dr. Walz * 20. 6. Frau Dr. Wex 17. 6. Dr. Wörner 17. 6. Wolfram 17. 6. Dr. Zimmermann 20. 6.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Karl Carstens


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt es, daß sich in diesem Jahr alle Fraktionen des Deutschen Bundestages wieder zu einer gemeinsamen Stunde des Gedenkens an den 17. Juni 1953 zusammengefunden haben, und sie dankt Ihnen, Frau Präsidentin, für die Initiative, die Sie dazu ergriffen haben.
    Die wichtigsten Ereignisse unserer jüngeren Geschichte haben sich in den Monaten Mai und Juni zugetragen. Am 8. Mai 1945, vor 30 Jahren, kapitulierte die deutsche Wehrmacht. Am 23. Mai 1949, vor 26 Jahren, trat unser Grundgesetz in Kraft. Am 10. Mai 1950, vor 25 Jahren, verkündete der französische Außenminister Schuman seinen Plan zur
    europäischen Einigung. Am 17. Juni 1953, vor 22 Jahren, brach der Volksaufstand im anderen Teil Deutschlands aus. Am 5. Mai 1955, vor 20 Jahren, trat der Deutschland-Vertrag in Kraft. Zwischen diesen Ereignissen spannt sich der Bogen unseres Selbstverständnisses und unseres nationalen Schicksals.
    Mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht 1945 endete eine Schreckensherrschaft, die unendliches Unheil über große Teile der Welt und über das deutsche Volk gebracht hatte. Am gleichen Tage setzte auch die Entwicklung ein, die zum Verlust großer Gebietsteile führte, welche jahrhundertelang zu Deutschland gehört hatten. Millionen von Deutschen verloren ihre Heimat, eine neue Grenze wurde innerhalb Deutschlands aufgerichtet, und in einem Teil unseres Landes wurde eine neue Herrschaft der Gewalt, der Unterdrückung und der Mißachtung der Menschenrechte errichtet.
    Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes vor 26 Jahren schufen wir die Grundlagen, auf denen sich der politische und wirtschaftliche Wiederaufbau unseres Landes vollzog. Wir schufen einen freiheitlich-demokratischen, sozialen Rechtsstaat. Wir ermöglichten den Bürgern aller Berufe und aller Gruppierungen unseres Landes freie Entfaltung im geistigen, im politischen und im wirtschaftlichen Bereich.
    Mit der Erklärung Robert Schumans vor 25 Jahren, die Konrad Adenauer aufgriff und sich zu eigen machte, wurde der Grundstein für die Integration der Bundesrepublik Deutschland in das westliche, in das freie Europa gelegt, wurde also die Grundlage geschaffen, die nach heute übereinstimmendem Urteil aller in diesem Hause vertretenen politischen Parteien die Voraussetzung für deutsche Politik war, ist und bleibt. Fünf Jahre später trat die Bundesrepublik Deutschland dem Nordatlantischen Bündnis und der Westeuropäischen Union bei. Der zweite solide Pfeiler unserer Außen- und Sicherheitspolitik wurde errichtet. Zugleich erlangte die Bundesrepublik Deutschland die volle Souveränität nach innen und nach außen.
    Zwei Jahre zuvor, am 17. Juni 1953, hatten sich Zehntausende von Arbeitern im anderen Teil Deutschlands erhoben, um ein Bekenntnis zu Einheit, zu Freiheit und für Gerechtigkeit abzulegen. Von allen den eben von mir aufgezählten Ereignissen hat dieses die stärkste Symbolkraft für das Ziel, welches wir immer wieder als das große Ziel unserer politischen Anstrengungen bezeichnen, nämlich die Herbeiführung eines Zustands des Friedens in Europa, bei dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt.
    Am Abend des 16. Juni und in den Morgenstunden des 17. Juni versammelten sich viele Tausende von Arbeitern an zahlreichen Orten in der DDR. Sie diskutierten zunächst über praktische, konkrete Maßnahmen, nämlich über die von der Regierung gerade verfügte Heraufsetzung der Arbeitsnormen. Am Morgen des 17. Juni beschlossen sie, gegen diese Erhöhung zu demonstrieren. Sie solidarisierten sich, sie setzten sich in Marsch, Zehntausende von



    Dr. Carstens (Fehmarn)

    Menschen schlossen sich ihnen an, in Ost-Berlin, in Magdeburg, in Halle, in Leipzig, in Jena, in Rostock und in vielen anderen Städten, und am Schluß wurde es eine der machtvollsten spontanen Demonstrationen, die wir in unseren Lebzeiten in unserem Lande gesehen haben. Denn während sie marschierten, artikulierten sie ihre Forderungen weit über den ursprünglichen Anlaß hinaus. Sie forderten auf Transparenten nicht nur die Herabsetzung der Normen. Sie forderten die Freilassung der politischen Häftlinge, freie Wahlen und die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und in Freiheit. Sie sangen das Deutschlandlied. Auf dem Marktplatz in Halle sangen sie unablässig das Deutschlandlied, als ihnen die Panzer den Rückzug versperrten. Überall entrollten sie die schwarz-rot-goldene Fahne. Es war ein leidenschaftlicher Appell an die Grundwerte unserer freiheitlichen Ordnung, an die Einheit unseres Volkes, an Freiheit, Gerechtigkeit und brüderliche Solidarität. Hunderte von Menschen bezahlten ihren Einsatz mit ihrem Leben.
    Mit der Forderung nach Freilassung der politischen Häftlinge, nach freien Wahlen machten sich die Männer und Frauen des 17. Juni den ersten Grundsatz und Grundwert unserer staatlichen Ordnung, die Freiheit, zu eigen. Wir verstehen unter Freiheit die Möglichkeit jedes Menschen, sich zu entfalten, seine Meinung zu äußern, sich zu informieren. Zu unserem Freiheitsverständnis gehört auch die Freiheit von Druck und Terror, ob sie nun von staatlichen Stellen, von Organisationen oder von politischen Gruppen ausgehen mag. Freiheit in diesem Sinne gibt es nur in einer rechtsstaatlichen Ordnung. Nur wo unabhängige Gerichte ihn schützen, ist der Bürger frei.
    Zur Freiheit gehört das Selbstbestimmungsrecht. Frei sind Menschen, frei ist ein Volk nur dann, wenn es über seine innere Ordnung und über die Gestaltung seiner Beziehungen zu anderen selbst entscheiden kann.
    Das Gegenstück zur Freiheit ist Brüderlichkeit, ist Solidarität. Obwohl Freiheit ein Recht, vielleicht das höchste Recht des einzelnen Menschen ist, kann doch niemand Freiheit für sich allein verwirklichen. Meine Freiheit ist nur dann gesichert, wenn auch meine Mitbrüder, meine Mitmenschen frei sind. Freiheit ist ein universelles Prinzip, und weil sie universell ist, kann sie nicht ohne Solidarität bestehen, ohne daß jeder auch des anderen Last trägt, ohne daß sich jeder für den anderen verantwortlich fühlt. Es ist kein Zweifel, daß die Männer und Frauen des 17. Juni Freiheit und Solidarität genau in diesem Sinne verstanden haben. Sie schlossen sich zusammen. Sie verbrüderten sich, um den Bedrängten zu helfen, denen, die unter der Last der Arbeitsnormen ächzten, den politischen Häftlingen und den anderen Opfern einer ungerechten Herrschaft.
    Denn zu Freiheit und Brüderlichkeit gehört untrennbar der dritte Grundwert, die Gerechtigkeit. Für manche ist sie der höchste Grundwert, und es ist sicher, daß keine Gerechtigkeit herrscht, wenn Freiheit unterdrückt oder Brüderlichkeit oder Solidarität mißachtet werden. Gerechtigkeit in diesem Sinne ist mehr, als was den geltenden staatlichen
    Gesetzen entspricht. Es gibt ungerechte staatliche Gesetze. Das Gesetz über die Arbeitsnormen in der DDR war ein solches ungerechtes Gesetz. Gerechtigkeit ist ein Prinzip, an dem sich Staaten, Parlamente, Machthaber in Ost und West messen lassen müssen. Es gibt keinen schwereren Vorwurf gegen ein staatliches System als den, daß es ungerecht sei.
    Unser Verständnis von Gerechtigkeit schließt das Prinzip der Gleichheit ein. Alle Menschen haben das gleiche Recht auf Leben, auf Gesundheit, auf Freiheit, auf Respekt vor ihrer Menschenwürde. Auch daß wir allen Menschen so weit wie möglich eine gleiche Startchance im Leben geben, ist ein Gebot der Gerechtigkeit, der sozialen Gerechtigkeit, wie wir heute sagen.
    Die Männer und Frauen des 17. Juni bekannten sich schließlich zur Einheit der deutschen Nation. Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit — ich sagte es schon — stand auf den Transparenten, die sie mit sich trugen. Sie gaben den beiden Symbolen der deutschen Einheit, dem Deutschlandlied und den schwarz-rot-goldenen Farben, eine politische Kraft, wie wir sie seither nicht wieder erlebt haben. Sie setzten dabei ihr Leben ein. Uns aber, den Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland und in WestBerlin, legten sie damit eine Verpflichtung auf, nämlich die Verpflichtung, die Idee der deutschen Einheit weiterzutragen und an ihr festzuhalten, so lange, bis die Deutschen in jedem Teil Deutschlands auf Grund des Selbstbestimmungsrechts frei über das Schicksal der deutschen Nation haben entscheiden können.
    Wir wissen nicht, wann und auf welche Weise dieses Ziel erreicht werden kann. Aber diese Ungewißheit darf kein Grund für Resignation sein. Wenn wir glauben, daß es ein hohes Ziel ist, wenn wir glauben, diesem Ziel verpflichtet zu sein, dann dürfen wir es nicht preisgeben, bloß deswegen, weil es nicht alsbald verwirklicht werden kann.
    Was wir erstreben, ist nicht ein nationaler Staat im Sinne früherer Zeiten, der sich selbst als höchsten Zweck ansah. Wir waren bereit und wir sind bereit, auf nationalstaatliche Souveränität zu verzichten, um uns mit anderen europäischen Staaten zusammenschließen zu können. Wir sehen die deutsche Nation, an deren Einheit wir festhalten, als Teil eines größeren Verbandes, eines vereinten Europa. Und ebenso wie wir für die Einigung Europas nur friedliche Mittel ins Auge fassen, soll nach unserer Vorstellung die deutsche Einheit nur auf friedliche Weise herbeigeführt werden. In diesem Sinne bejahen wir alle den Grundsatz des Gewaltverzichts und der Unverletzlichkeit der Grenzen.
    Seit dem Ende des zweiten Weltkriegs hat kein Staat eindrucksvollere Beweise von der Friedfertigkeit seiner Politik gegeben als die Bundesrepublik Deutschland. Schon 1955, lange bevor wir der UNO beitraten, unterwarfen wir uns den Bestimmungen der UNO-Charta. Wir nahmen Rüstungsbeschränkungen, vor allem im nuklearen Bereich, auf uns. Wir schlossen Gewaltverzichtsverträge mit den osteuropäischen Staaten und mit der DDR. Diese Entwicklung wurde schon in den 50er und 60er Jahren eingeleitet. Das Prinzip des Gewaltverzichts war im Rahmen der Ostpolitik niemals umstritten. Alle Par-



    Dr. Carstens (Fehmarn)

    teien des Bundestages bejahten es. Die Auseinandersetzung betraf und betrifft andere Teile der Ostpolitik. Die Behauptung, daß wir durch unser Festhalten am Ziel der deutschen Einheit den Frieden Europas gefährdeten, entbehrt daher jeder Grundlage.
    Aber der 17. Juni mahnt uns nicht nur an unsere Pflicht, am Ziel der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands festzuhalten. Er mahnt uns auch an unsere Verantwortung, die wir für die Menschen im anderen Teil Deutschlands tragen. In diesen Tagen ist soviel davon die Rede, daß wir für die Völker der Dritten und der Vierten Welt, für die Menschen, denen in diesem oder jenem Lande die Menschenrechte und die Grundfreiheiten vorenthalten werden, verantwortlich seien. Ich will dieser Auffassung nicht widersprechen. Aber ich meine, wenn wir schon anerkennen, daß wir Verantwortung tragen für Menschen, die nicht in der Bundesrepublik Deutschland leben, dann müssen wir in erster Linie bereit sein, Verantwortung für die Menschen zu tragen, die im anderen Teile Deutschlands leben, für unsere deutschen Brüder und Schwestern. Und diese unsere Verantwortung für sie müßte sich darin ausdrücken, so meine ich, daß wir ihnen beistehen, daß wir insbesondere denen unter ihnen beistehen, die verfolgt werden, sei es wegen ihrer religiösen Überzeugung, als evangelische oder katholische Christen, sei es, weil sie aus sogenannten politischen Gründen verfolgt, bestraft und gefangengehalten werden, z. B., weil sie von einem Menschenrecht Gebrauch gemacht haben, dem in der UNO-Konvention verankerten Menschenrecht, das es jedem Menschen auf der Welt ermöglicht, sein eigenes Land jederzeit zu verlassen. Derjenige, der in der DDR von diesem Menschenrecht Gebrauch macht, wird als politischer Verbrecher wegen Republikflucht verfolgt und bestraft, wenn er nicht gar an der Grenze infolge des unmenschlichen Schießbefehls sein Leben einbüßt. Hier sind wir, die Deutschen im freien Teil Deutschlands, aufgefordert, uns mit denen zu solidarisieren, die im anderen Teil Deutschlands verfolgt werden und Unrecht leiden.
    Es wird immer wieder die Frage aufgeworfen, ob es Sinn hat, des 17. Juni zu gedenken, ob man nicht an Stelle dieses Feiertages einen anderen Gedenktag aus der jüngeren deutschen Geschichte setzen sollte. Nichts gegen die anderen Gedenktage; aber der 17. Juni ragt unter ihnen in einzigartiger Weise heraus. Er ist ein Beweis für die Kraft, die noch immer im deutschen Volk schlummert, die Kraft und die Bereitschaft, sich für die höchsten Ziele — sogar unter Aufopferung des eigenen Lebens — einzusetzen, und zwar für die höchsten Ziele einer friedlichen, gerechten und freiheitlichen Ordnung.
    Wir können auch in gar keiner Weise dem Argument folgen, daß sich der 17. Juni als nationaler Feiertag nicht eigne, weil schließlich alles vergeblich gewesen sei, weil der Aufstand zusammengebrochen sei. Die Geschichte der Menschheit, insbesondere die Geschichte unseres Volkes, zeigt uns, daß es im Kampf um die Verwirklichung der höchsten Grundwerte mindestens so viele Niederlagen wie Siege gibt. Die verpflichtende Kraft der mit dem Leben
    bezahlten Niederlagen ist häufig größer als mancher Sieg.
    In diesem Sinne drücken wir unseren Wunsch aus und appellieren wir an alle Bürger in unserem Lande, daß wir auch in Zukunft gemeinsam am 17. Juni als einem der großen Gedenktage unseres Volkes als einem gesetzlichen Feiertag festhalten sollten.

    (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von Dr. Annemarie Renger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wehner.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Herbert Wehner


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dieser Tag ist ein Tag des Gedenkens. Der 17. Juni des Jahres 1953 war für viele in unserem getrennten Land ein Tag der Erwartung.
    Wir wollen aufrichtig sein: Um den Weg zum gemeinsamen Ziel des Zusammenlebens unseres getrennten Volkes in einem gemeinsamen demokratischen Staat ist bei uns vor dem 17. Juni des Jahres 1953 und nach diesem aufrüttelnden Ereignis leidenschaftlich gerungen worden. Wir dürfen bei allem sachlichen Gegeneinander das Gedenken an die Opfer des Standrechts vom Juni 1953 nicht zum Eigentum einer Partei werden lassen.
    Das Kuratorium Unteilbares Deutschland stellt zum heutigen Tag mit Recht fest und mahnt:
    Für uns ist der 17. Juni 1953, dieser leidenschaftliche, aber vergebliche Versuch von Deutschen in der DDR, persönliche und politische Freiheitsrechte zu erwirken, kein Tag des Hasses. Er ist ein Tag der Mahnung, das friedliche Ringen um die Gewährleistung der freien Selbstbestimmung für alle Deutschen nicht aufzugeben.
    Dieser Gedenktag lehrt uns die Notwendigkeit der Einsicht.
    Die Teilung Deutschlands ist gegen den Willen der Deutschen, aber nicht ohne deutsche Schuld zustande gekommen. Das System der Mächte, das sich als Antwort auf den unmenschlichen Nationalsozialismus schließlich ergeben hat, wird die Grundstruktur des europäischen Kontinents für eine überschaubare Zukunft bleiben. Gegenwärtig leben wir Deutschen in zwei völlig gegensätzlichen gesellschaftlichen und politischen Ordnungen. Gerade deshalb müssen wir auf die Sicherung des Friedens und den Abbau der Spannungen hinarbeiten.
    Diese Sätze sind der Erklärung des Kuratoriums Unteilbares Deutschland zum 17. Juni 1973 — 20 Jahre danach — entnommen. Sie sind meines Erachtens auch heute und bleiben weiterhin gültig. Der Sinn dieser Sätze ist nicht Resignation, ihr Sinn ist die Einsicht in die Notwendigkeit unseres eigenen Beitrags für den Frieden zum Wohl unseres Volkes.
    Der Erste Sekretär des Zentralkomitees der SED in der DDR, Erich Honecker, hat vor einigen Tagen in einer Rede zur Vorbereitung des IX. Parteitages seiner eigenen Partei beziehungsreich gesagt:



    Wehner
    Überall wird man mit der Zeit verstehen lernen müssen, daß wir nicht mehr in den fünfziger Jahren leben.
    Er sagte das nach einer kritischen Bemerkung an die Adresse nicht näher bezeichneter Vertragspartner, in der er unterstrich — ich zitiere ihn noch einmal —:
    Selbstverständlich müssen alle Versuche, abgeschlossene Verträge nicht einzuhalten oder uns durch Verleumdungskampagnen von unserer konstruktiven Politik ablenken zu wollen, auf entschiedenen Widerstand stoßen.
    Daß wir — um das Wort noch einmal aufzugreifen — nicht mehr in den fünfziger Jahren leben, gilt doch wohl für alle Seiten.
    In den fünfziger Jahren, und zwar eine Woche nach der Verhängung des Standrechts der Besatzungsmacht im Juni 1953, hatte der damalige Ministerpräsident der DDR gesagt — ich zitiere ihn —:
    Die gegenwärtige Situation ist das Ergebnis einer fehlerhaften Politik unserer Partei und der daraus resultierenden falschen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Maßnahmen durch die Regierung. Das ist vollkommen klar.
    So bekräftigte er diese Feststellung.
    Jetzt, in den siebziger Jahren, gibt es einen Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. In seiner Einleitung heißt es:
    . . . ausgehend von den historischen Gegebenheiten und unbeschadet der unterschiedlichen Auffassungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu grundsätzlichen Fragen, darunter zur nationalen Frage,
    geleitet von dem Wunsch, zum Wohle der Menschen in den beiden deutschen Staaten die Voraussetzungen für die Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu schaffen,
    sind die vertragschließenden Seiten übereingekommen, diesen Vertrag zu schließen.
    Dazu können auch wir sagen: Überall wird man mit der Zeit verstehen lernen müssen, daß wir nicht mehr in den fünfziger Jahren leben.
    Es gibt Ereignisse, die uns in der Erinnerung durch unser ganzes Leben begleiten. Die Ereignisse des 17. Juni 1953 sind solcher Art. Aber die Erinnerung heißt nicht Wiederholung einer Situation, in der nicht nur wir, sondern alle nicht ausgereicht haben, die Ursachen zu überwinden.
    Wir können nicht in einem Zustand permanenter Anklageverlesungen nebeneinander leben. Im Gedenken an den guten Willen derer, die im Juni 1953 im anderen Teil Deutschlands demonstrierten und streikten, sollte die Achtung für die unter anderen Verhältnissen lebenden und arbeitenden Menschen des anderen deutschen Staates mitschwingen. Sie haben unter schwierigen Bedingungen Hervorragendes geleistet.
    Wir haben in der nationalen Frage, wie man das nennt, nicht dieselbe Auffassung wie die drüben regierende SED. Keine Seite vermag der anderen ihre eigene Auffassung aufzunötigen. Wer, wie es kürzlich in einem Satz hieß, darauf pocht, er verfüge über Mittel, der anderen Seite begreiflich zu machen, daß die Seite, die das so sagt, recht habe, der irrt. Wir sind nicht mehr in den fünfziger Jahren. Wenn wir uns nicht in bloßer Rechthaberei ergehen, wenn wir den Menschen drüben unseren Respekt nicht versagen und die Mühen des Miteinandersprechens nicht scheuen, stellen wir die Aufrichtigkeit unserer Auffassung über gutnachbarliche Beziehungen unter Beweis.
    Es handelt sich nicht darum, die Grenzen politischer Grundauffassungen zu verwischen. Ich bin mir z. B. bewußt, daß SED — Sozialistische Einheitspartei Deutschlands — und SPD — Sozialdemokratische Partei Deutschlands — einander ausschließen. In dem von der SED geführten, regierten Staat ist für die SPD keine legale, ungehinderte politische Wirkungsmöglichkeit. Die SED kennt nur ehemalige Mitglieder der SPD. Diese sind entweder in die SED eingegliedert, oder sie existieren außerhalb des nach der dortigen Verfassung und ihrer Handhabung gegebenen Bereichs für das Wirken politischer Menschen. Es kann auch keine sogenannte Aktionseinheit von SPD und SED geben — und wird sie nicht geben.
    Aber in den Jahrzehnten der Nachkriegsentwicklung hat sich die Notwendigkeit eines, wenn möglich und wieweit möglich, vertraglich geregelten Verhältnisses zwischen den beiden Staaten im getrennten Deutschland ergeben. Sie ist uns aufgezwungen, wollen wir nicht als sogenannte Alternative einen ständigen Kalten-Kriegs-Zustand bei lediglich punktuellen Verständigungen über Verhaltens- oder Verfahrensregelungen im Verhältnis zwischenstaatlicher Art auf uns nehmen und die Menschen darunter zusätzlich beladen.
    Doch dies wäre vor allem angesichts der umstrittenen Position Berlins permanent Ursache ernsthafter Krisen und fortwährender Beunruhigung der Menschen. Wenn ich von einer umstrittenen Position Berlins spreche, so bleiben wir dabei — denn sonst bräche man nicht nur zusammen und zurück in die 50er Jahre, sondern es käme noch schlimmer —, daß Vier Mächte für das, was man damals nach der Kapitulation Deutschland als Ganzes und Berlin im besonderen genannt hat, eine besondere Verantwortung tragen; sie steht sogar in der Charta der Vereinten Nationen.
    Dem von den Vier Mächten, die für die Sicherheit in Berlin verantwortlich sind, nach jahrelang vergeblichen Versuchen schließlich doch zustande gebrachten und unterzeichneten Berlin-Abkommen ist — man kann es drehen und wenden, wie man will; jede Seite wird zu dieser Einsicht kommen müssen —eine Schlüsselrolle zuzumessen. Das gilt für die Lebensverhältnisse der Menschen in Berlin wie für die Entwicklungsfähigkeit der vertraglichen Regelungen zwischen den zuständigen Stellen im getrennten Deutschland wie für das zur Entspannung in Europa und darüber hinaus wesentliche Verhält-



    Wehner
    nis der vier Signatarmächte, die — ich betone es — verantwortlich sind, und zwar ausschließlich verantwortlich sind, wie sie deklariert haben, für die Sicherheit in Berlin und Berlins. Daran werden wir uns und werden wir sie halten.
    Wenn — um noch einmal Honeckers Satz in Erinnerung zu bringen — man überall mit der Zeit wird verstehen lernen müssen, daß wir nicht mehr in den 50er Jahren leben, sollte es auch möglich sein, einem verunglückten Türkenkind in Berlin (West) das Leben zu retten, statt aus einem Unglück einen Staatsprestigestreit zu machen. Es wird Zeit, in den Fragen, die regelbar sind, zur Sache zu kommen und Mitmenschlichkeit nicht mehr im Prestige- und Abgrenzungseifer — welche Motive beide immer haben mögen — notleidend sein und bleiben zu lassen. Weil die Gewährleistung des Friedens im Lebensinteresse beider Seiten im getrennten Deutschland liegt, ja, auch im Lebensinteresse der auf beiden Seiten Regierenden liegt, muß es möglich sein und werden, daß man einander auch anders als gepanzert und vermint gegenübertritt.
    Die Verantwortlichen der DDR haben in den letzten zwei Jahren erkennbar manches Leid lindern und einiges sogar heilen helfen. Sie haben erheblich mehr getrennte Familien zueinanderfinden und -kommen lassen. Das ist dankenswert. Es wäre gut, wenn dies ein Zeichen dafür wäre, daß wir nicht mehr in den 50er Jahren leben, und wenn es auf einem auch nach menschlichem Ermessen wahrscheinlich dornenvollen Weg nicht das letzte Beispiel entsprechender Art bliebe. — Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.

    (Anhaltender Beifall bei der SPD und der FDP)