Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Große Anfrage der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion hat — das kann wohl nicht bezweifelt werden — zahlreiche zusätzliche Fragen und Probleme der Wiedereingliederung körperlich, geistig und seelisch Behinderter in Gesellschaft, Arbeit und Beruf in die Diskussion eingeführt, die nach unserer Auffassung — wie aber auch der vieler Sachverständiger — noch einer Lösung bedürfen. Wir hätten uns daher gewünscht, daß die Vertreter der Koalitionsparteien — ich nehme hier Herrn Hölscher ausdrücklich aus — mehr auf die angeschnittenen Fragen der Großen Anfrage
eingegangen wären. Dafür hat man versucht, als Beginn der Zeitrechnung der Rehabilitation das Jahr 1969 einzuführen. Man ist anscheinend nicht bereit, die Leistungen früherer CDU-Bundesregierungen etwa im Bereich des Arbeitsförderungsgesetzes oder, was noch wichtiger ist, die Leistungen der freien Träger, etwa der Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel, zur Kenntnis zu nehmen.
An die Adresse der Koalitionsparteien ist hier einmal zu sagen, daß eine solche, ich hätte fast gesagt, beleidigte Reaktion auf unsere Große Anfrage weder dem Thema angemessen noch der Sache förderlich ist.
Wenn wir das Bewußtsein der Bevölkerung in bezug auf das Behindertenproblem schärfen und ein stärkeres Engagement unserer Mitbürger für die behinderten Mitbürger erreichen wollen, dann darf man hier nicht von Konkurrenz reden, dann darf man hier keine Erbhöfe einrichten oder bestimmte Gebiete der Sozial- und Gesellschaftspolitik pachten wollen. Damit trägt man nur zur Polarisierung bei, und die dient nicht der Sache, Herr Gansel.
Wir suchen die Zusammenarbeit, und wir bieten sie Ihnen — ich sage es noch einmal — ausdrücklich an.
Das Schwerbehindertengesetz hat mit dem § 51 neue Möglichkeiten für die Behindertenstatistik gebracht, und wir erhoffen uns hiervon aussagekräftige Unterlagen über die Gesamtzahl der körperlich, geistig und seelisch Behinderten. Da es aber eine allgemeine und umfassende Definition des Begriffs der Behinderung bisher noch nicht gibt und auch die Bundesregierung in ihrer Antwort auf unsere Anfrage feststellt, daß eine „Fixierung eines umfassenden, für alle gesetzlichen Normen maßgebenden Begriffs" noch nicht erreicht worden ist, sollte das Anlaß sein, verstärkt den Versuch zu unternehmen, eine möglichst allgemeingültige Begriffsbestimmung zu erarbeiten.
Da sich bisher weder in der Fachliteratur noch in der Rechtsprechung eine allgemeine und umfassende Definition des Begriffs der Behinderung herausgebildet hat, möchte ich in die Diskussion eine zusammenfassende Darstellung der Merkmale der Behinderung einführen, die ich einer Arbeit von MinRat Dr. Franzen vom wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages entnommen habe. Es heißt dort:
Behinderung ist — unabhängig von Art und Ursache — jede dauernde, zumindest langfristige sowie wesentliche körperliche, geistige oder seelische Abweichung von der Norm — im Vergleich zu einem gesunden Menschen des gleichen Alters, Geschlechtes und der gleichen kulturellen Herkunft —, die sich in einer fehlerhaften Funktion, Struktur, Organisation oder Entwicklung des Gesamtorganismus oder einer seiner Anlagen, Systeme, Organe oder von Teilen hiervon offenbart und deren Folgen vom
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Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein
Behinderten nicht aus eigener Kraft überwunden werden können, um seine körperlichen, geistigen oder seelischen Fähigkeiten und Kräfte zu entfalten und an dem ihm adäquaten beruflichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und damit einen angemessenen Platz in der Gesellschaft einzunehmen.
Unabhängig von der Beurteilung, ob diese Definition umfassender als alle den verschiedenen Gesetzen zugrunde liegenden Legaldefinitionen sind, müssen im Hinblick auf eine befriedigende statistische Erfassung für die Formulierung der Fragestellung im Rahmen des Mikrozensus die wichtigsten Behinderungsarten, ihre Erscheinungsformen und ihre Auswirkungen näher erläutert werden. Allerdings wird es im Hinblick auf Vielzahl und Vielfalt der Behinderungen und die Schwierigkeit der Abgrenzung nicht möglich sein, alle maßgebenden Behinderungstatbestände zu spezifizieren und zu präzisieren.
Wie groß in dem Problembereich die Schwierigkeiten sein werden, zeigt beispielsweise die Tatsache, daß es zur Zeit in Deutschland nicht möglich ist, repräsentative Angaben über Häufigkeit und Auswirkungen der rheumatischen Erkrankungen auf die Gesamtbevölkerung zu erhalten, da der von den amtlichen Stellen verwandte Diagnosenschlüssel wegen mangelnder Trennschärfe unzulänglich ist.
Ein anderes Beispiel: Nur Fachleuten ist bekannt, daß es in der Bundesrepublik Deutschland ca. 3 Millionen Menschen gibt, die an Psoriasis — das ist die Schuppenflechte — erkrankt sind. Da viele dieser Mitbürger, von denen allein 5% an der schwersten Form leiden, nämlich einer arthritischen Veränderung, besonderer Rehabilitationsmaßnahmen bedürfen, zeigt, wie groß die „graue Zone" noch unvollständig erfaßter Rehabilitationsfälle ist, um so mehr, als auch andere Erscheinungsformen dieser Krankheit zur Behinderung führen.
Alle Bemühungen um eine möglichst umfassende Statistik können aber nur dann einen Sinn haben, wenn es gelingt, jedem Behinderten optimale Behandlungsmöglichkeiten und die notwendigen Einrichtungen der Rehabilitation anzubieten. So fehlt für Unfallverletzte und andere orthopädisch erkrankte Personen nach wie vor eine ausreichende Anzahl von Krankenhausbetten, obwohl von der Gesamtzahl her gesehen die Zahl der Krankenhausbetten in der Bundesrepublik Deutschland im internationalen Vergleich an der Spitze steht. Zum Beispiel werden aber eben in Klinikneubauten und -umbauten zu wenige orthopädische Stationen eingerichtet, um diesen Mangel zu beseitigen. Es gibt also einen „Numerus clausus" für orthopädisch zu Versorgende, wie anläßlich der 61. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie festgestellt wurde.
Unter den 3 Millionen hör-, sprach- und stimmgestörten Patienten befinden sich Schätzungen zufolge allein 250 000 hörgestörte Kinder; 20 000 von ihnen sind gehörlos. Daher kommt dem Ausbau und der Vermehrung von Kliniken und Abteilungen für Phoniatrie besondere Bedeutung zu. Entsprechende Einrichtungen in Schule, Berufsschule und Berufsbildungswerken für hör- und sprachgestörte Kinder gehören selbstverständlich mit hinzu.
Die Bundesregierung kann sich in der Beantwortung unserer Großen Anfrage nicht mit dem Hinweis begnügen, daß der Bund nach dem Krankenhausfinanzierungsgesetz keine Möglichkeit hat, auf die Beseitigung „eines eventuellen Mangels" an Spezialbetten hinzuwirken. Abgesehen davon, daß der Mangel eben nicht „eventuell" ist, wie ich soeben nachgewiesen habe, muß in diesem Zusammenhang auf § 23 Abs. 2 des Krankenhausfinanzierungsgesetzes hingewiesen werden, wonach 20 % der Finanzhilfen des Bundes durch den Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit nach Schwerpunkten zur Befriedigung eines überregionalen Bettenbedarfs und zur Durchführung von Modellmaßnahmen im Benehmen mit dem Ausschuß für Fragen der wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser verteilt werden können. Auch wenn ich anerkennen will, daß der Bund in den letzten Jahren erhebliche Mittel für überregionale Einrichtungen der Prävention und Rehabilitation bereitgestellt hat, sollte es möglich sein, in Zusammenarbeit mit den Ländern mit Hilfe eben dieses § 23 Sondereinrichtungen zu schaffen.
Im Zusammenhang mit Maßnahmen der Wiedereingliederung Behinderter wird mit gutem Grund die Notwendigkeit verstärkter Prävention erwähnt, um drohende Behinderungen im frühesten Stadium zu verhindern oder zumindest in den Auswirkungen zu verringern. Aus diesem Grunde hatte die CDU/ CSU-Fraktion durch Gesetzesinitiative bereits im Mai 1970 die Einführung von Vorsorgeuntersuchungen für Kinder in den ersten vier Lebensjahren als Pflichtleistung der gesetzlichen Krankenkassen gefordert. Nachdem dann die Bundesregierung im September des gleichen Jahres mit einem eigenen Gesetzentwurf diesen Überlegungen folgte, gehört diese Vorsorgeuntersuchung zum Leistungsangebot unserer Krankenkassen. 1972 nahmen 2,6 Millionen — das sind 54 °/o aller anspruchsberechtigten Kinder —an diesen Untersuchungen teil. Es muß aber erreicht werden, daß ein höherer Prozentsatz als bisher an den Vorsorgeuntersuchungen teilnimmt, denn Früherkennung und Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen sind genauso wichtig wie die Möglichkeiten der Medizin.
Alljährlich muß festgestellt werden, daß die gesetzlich vorgesehenen Vorsorgeuntersuchungen für werdende Mütter ebenfalls nicht genügend in Anspruch genommen werden. Wenn auch immerhin 80 °/o der Schwangeren wenigstens einmal zur Untersuchung kommen, so ist immer wieder festzustellen, daß sich ein sehr großer Prozentsatz von werdenden Müttern über Sinn und Ziel von Schwangeren-Vorsorgeuntersuchungen nicht im klaren ist. Das gleiche gilt für Kleinkinderuntersuchungen. Nur die Mutter, die die von den Krankenkassen angebotenen zehn Kontrolluntersuchungen nutzt und zugleich ihr Kind regelmäßig zu den Früherkennungsuntersuchungen bringt, handelt verantwortungsbewußt und kann sich und ihr Kind vor verhängnisvollen Schäden bewahren. Daher muß die gesundheitliche Aufklärung und Beratung weitaus stärker gefördert und müssen die bisherigen Methoden hinsichtlich ihrer Effizienz untersucht werden.
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Der verstärkte Ausbau von Forschungs- und Behandlungseinrichtungen im Bereich der sogenannten perinatalen Medizin gehört gleichfalls zum Bereich Prävention. Zur Früherkennung und Behandlung von sogenannten Risikokindern müssen, über das ganze Gebiet der Bundesrepublik Deutschland verteilt, Fachabteilungen an Krankenhäusern nachgewiesen bzw. geschaffen werden. Eine solche Frühbehandlung könnte vielen gefährdeten Kindern das Schicksal ersparen, ein körperlich oder geistig behindertes Leben zu führen.
Mancher Fall von Erbkrankheiten könnte vermieden werden, wenn die betroffenen Eltern zur Vermeidung von Erkrankungsrisiken von Kindern humangenetische Aufklärung und Beratung in Anspruch nähmen.
Diese Beispiele mögen genügen, die Vielzahl von Einwirkungsmöglichkeiten aufzuzeigen, die geeignet sind, die Zahl der potentiellen Behinderungen zu vermindern oder Behinderungen therapeutisch zu beeinflussen und damit gleichzeitig die Wiedereingliederung zu ermöglichen.
Neben allen Maßnahmen, die vom Staat und von zahlreichen gemeinnützigen Organisationen durchgeführt wurden oder durchgeführt werden könnten, bedarf es einer noch stärkeren Anteilnahme der Bevölkerung an dem Schicksal unserer behinderten Mitbürger.
Allerdings sind hier nicht Mitleid oder verlegene Distanz, sondern Hinwendung und tätige Mithilfe wichtige Voraussetzungen, die eine Wiedereingliederung unserer behinderten Mitbürger in die Gesellschaft erst möglich machen.
Meine Damen und Herren, mit den Ausführungen der Vertreter der CDU/CSU haben wir gleichzeitig, Herr Präsident, den Entschließungsantrag auf Drucksache 7/2963 begründet, so daß es einer weiteren Begründung nicht bedarf. Wir beantragen, diesen Entschließungsantrag den Ausschüssen für Arbeit und Sozialordnung sowie für Jugend, Familie und Gesundheit zu überweisen.