Rede von
Gerhard
Braun
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Wenn über die Wiedereingliederung körperlich, geistig und seelisch Behinderter in Gesellschaft, Arbeit und Beruf gesprochen wird, dann kann und darf meines Erachtens ein Problem nicht ausgeklammert werden, welches gerade für die Eingliederung der Behinderten in die Gesellschaft von großer Bedeutung ist. Ich meine das eben nur kurz angesprochene Thema der auch heute noch überall vorhandenen baulichen und technischen Hindernisse sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor. Ich bedauere, meine Damen und Herren, daß die Bundesregierung in ihrer Antwort und insbesondere in der Einleitung auf dieses so wichtige Thema mit keiner Silbe eingegangen ist.
Von Chancengleichheit wird heute viel gesprochen. Aber eine Chancengerechtigkeit kann nur verwirklicht werden, wenn auch die technischen Möglichkeiten hierfür geschaffen werden. In vielen Fällen können körperbehinderte Kinder eine Schule nur deshalb nicht besuchen, weil einfach die Auf-
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fahrtrampe fehlt. In den Studentenwohnheimen werden auch heute Plätze für Behinderte kaum oder überhaupt nicht eingeplant und bereitgestellt. Eine Eingliederung der Behinderten in die Gesellschaft muß scheitern, wenn nicht auch — oder besser gesagt: gerade — Bund, Länder und Gemeinden mit gutem Beispiel vorangehen und insbesondere bereit sind, bei ihren Bauvorhaben auf die Probleme der Behinderten Rücksicht zu nehmen.
Hier decken sich in vielen Bereichen die Probleme und Sorgen der Behinderten mit denen der älteren Generation. Ich denke z. B. an die Ein- und Ausstiegsmöglichkeiten im öffentlichen Personenverkehr. Bei einem großen Teil der auch heute noch benutzten Personenwagen der Deutschen Bundesbahn ist es behinderten und älteren Mitbürgern einfach unmöglich, ohne fremde Hilfe dieses Verkehrsmittel zu benutzen. Wenn ein Behinderter auf die Idee kommt, ein öffentliches Verkehrsmittel zu benutzen, dann muß man feststellen, daß der Verkehrsträger gar nicht darauf eingestellt ist.
So klärte — laut Behinderten-Report von Ernst Klee — die Deutsche Bundesbahn in ihrer Zeitschrift „Schöne Welt" ihre Fahrgäste auf, warum auch die pünktliche Deutsche Bundesbahn nicht immer pünktlich sein kann. Diese „Schöne Welt" schreibt — ich zitiere —:
Man rollt eine ältere Dame im Stuhl herbei, hebt sie hilfreich, aber mühsam in einen Wagen 1. Klasse, schiebt den Rollstuhl zum Gepäckwagen, und der Zugführer steht schwitzend vor des Geschickes Mächten und schreibt in seinen Fahrtenbericht: Koblenz, 1,5 Minuten Verspätung wegen Zulaufs einer körperbehinderten Dame.
Soweit dieses Zitat, sicherlich in dem EisenbahnerDeutsch.
Meine Damen und Herren, das was ich eben zitierte, ist sicher kein Einzel- und Ausnahmefall. Ähnliche Beispiele ließen sich aus dem Bereich der Post und vor allem auch der Städte und Gemeinden bringen. Überzeugen Sie sich selbst einmal in Ihren Wahlkreisen davon, wie z. B. Sozialämter und Beratungsstellen für behinderte und ältere Personen erreicht werden können. Dabei gibt es einen Erlaß, den Herr Minister Arendt eben angesprochen hat und der im gemeinsamen Ministerialblatt 1973, Nr. 11, zum Thema „Bauen für Behinderte, Katalog der Schwerpunkte bei der Beseitigung baulicher und technischer Hindernisse" veröffentlicht wurde. In diesem Erlaß heißt es wörtlich — ich zitiere —:
Eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Rehabilitation der Behinderten und für die Verbesserung der Lebensverhältnisse der älteren Menschen ist die Schaffung einer hindernisfreien baulichen Umwelt, und zwar sowohl in der Wohnung und am Arbeitsplatz als im gesamten öffentlichen Bereich.
Goldene Worte, die man nur unterstreichen kann. Aber gleichzeitig muß man doch feststellen, daß dieser Erlaß in der Öffentlichkeit, bei den zuständigen Stellen — bei denen, die es angeht —, entweder unbekannt ist oder einfach nicht beachtet wird.
Im Sommer dieses Jahres habe ich die Bundesregierung gefragt, ob sie einen Überblick darüber hat, in welchem Umfange dieser Katalog laut Erlaß Beachtung gefunden hat. Die Antwort von Bundesminister Ravens — nachzulesen in der BundestagsDrucksache — war alles andere als befriedigend.
Meine Damen und Herren, es muß unser gemeinsames Anliegen sein, daß dieser Katalog auch wirklich beachtet wird. Daher bitte ich die Bundesregie, rung, dem Hohen Hause alle zwei Jahre einen Bericht vorzulegen, der einen Überblick darüber gibt, wie und in welcher Weise nun wirklich etwas hinsichtlich des Baus z. B. von Fußgängerüberwegen, die auch von Behinderten als Überwege benutzt werden können, oder des Baus von Fußgängerbrücken und Fußgängertunneln getan wurde. Schließlich sollten wir auch regelmäßig einen Überblick bekommen, wo z. B. bei Großbauvorhaben wie U-Bahn-Bau den Bedürfnissen der Behinderten Rechnung getragen wurde. Vor Negativbeispielen sollte der Bericht allerdings auch nicht zurückschrecken.
Darüber hinaus erscheint es notwendig — und das möchte ich weiter anregen —, daß bei der Bundesbaubehörde, bei der Deutschen Bundesbahn und bei der Bundespost Beauftragte benannt werden, die jeweils ein Bauvorhaben vor endgültiger Genehmigung daraufhin prüfen, ob es den Belangen und Bedürfnissen der Behinderten und auch der älteren Generation gerecht wird. Hier brauchen keine neuen, zusätzlichen Stellen geschaffen zu werden, es muß sich nur jemand verantwortlich fühlen und den entsprechenden Auftrag erhalten.
In den letzten Monaten hat sich das Fernsehen erfreulicherweise mit dem eben von mir behandelten Thema „Bauen für Behinderte" mehrfach befaßt. Es ist erfreulich, daß eine breite Öffentlichkeit so auf dieses Problem aufmerksam gemacht wurde und um Verständnis, nicht um Mitleid, geworben wurde. Aber es gibt auch Wünsche an die Fernsehanstalten. Es gibt viele Arten von Behinderung; es gibt unter den Behinderten ca. 81 000 Hörgeschädigte. Es kommt darauf an, auch diesem Personenkreis einen Teil der Fernsehsendungen zu vermitteln und verständlich zu machen. Auf Grund einer von mir eingereichten Frage hat mir der Parlamentarische Staatssekretär Herr Zander mitgeteilt, daß sich Frau Minister Focke im November vergangenen Jahres an die Verantwortlichen der beiden Fernsehanstalten gewandt habe, um zu erreichen, daß den Belangen der Hörbehinderten in angemessener Weise Rechnung getragen wird. Ich würde nun gern bald hören und sehen, wie das Fernsehen auf die Belange der Hörbehinderten eingehen wird und wann das in Aussicht gestellte technische Vorhaben verwirklicht wird.
Zum Schluß darf ich kurz etwas zu einem Problem der Frührentner vorbringen. Am 4. Oktober dieses Jahres hat mir die Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbahn mitgeteilt, daß sie grundsätzlich bereit wäre, die Sonderangebote für Senioren auf die Frührentner auszudehnen. Ob sich diese Absicht verwirklichen lasse, hänge aber davon ab, ob sich der Personenkreis der Frührentner durch ein einheitliches Legitimationspapier ausweisen könne.
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Meine Damen und Herren, es darf nicht wahr sein, daß eine solche Vergünstigung für einen Personenkreis, der es sicherlich verdient und notwendig hat, an technisch-organisatorischen Problemen scheitert.
Daher die herzliche Bitte an die Bundesregierung, sich darum zu mühen, daß die laufenden Verhandlungen baldigst zu einem positiven Abschluß gebracht werden.
In diesen Tagen vor Weihnachten werden uns täglich Spendenbitten vorgetragen. Bei aller Notwendigkeit, einen finanziellen Beitrag zu leisten — loskaufen kann sich damit niemand. Behinderte sind ein natürlicher Teil der Gesellschaft, kein Fremdkörper, der außerhalb steht. Wir müssen und können die baulichen und technischen Voraussetzungen dafür schaffen, daß sich die Behinderten wirklich als Teil dieser unserer Gesellschaft fühlen.