Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte ein paar Bemerkungen zu der Frage 4 der Opposition machen, in der nach der Verringerung des jährlichen Zugangs von Frühinvaliden gefragt wird. Dabei wäre es gut, wenn bei der Diskussion dieser Fragen die Fragesteller anwesend wären; denn gerade in diesem Zusammenhang hätte ich auch gern Herrn von Bismarck vom Wirtschaftsrat der CDU hier gesehen.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit ein paar Bemerkungen zur Prävention machen,
wie lange es dauert, bis begonnene Präventivmaßnahmen Erfolg haben können und wie der gesellschaftspolitische und parteipolitische Hintergrund dieser Frage ist. Auch letzteres ist wichtig und sollte diskutiert werden. Man tut den Behinderten keinen Gefallen, wenn das Thema Rehabilitation entpolitisiert wird. Es geht hier ja nicht nur um technischmedizinische Lösungen oder um Caritas, so wichtig beides ist. Letztlich geht es hier auch darum, für die Behinderten Grundrechte zu verwirklichen, die Verfassung einzulösen. Daß SPD und CDU/CSU darüber unterschiedlicher Meinung sind, ist schon oft deutlich geworden, vor allem natürlich darin, was wir seit 1969 getan haben und was Sie bis 1969 nicht getan haben.
Meine Damen und Herren, Prävention umfaßt jedes Lebensalter und alle Lebenslagen, den Schüler, das Baby, den älteren Mitbürger, die Arbeit im Haushalt, die Freizeit.
Was übrigens das Baby betrifft — ich sage das, weil es Herr Burger angesprochen hat —, so beginnt Prävention natürlich dann, wenn Mann und Frau in Liebe und Verantwortung ein Kind zeugen wollen. Deshalb bedaure ich es, daß gerade das Paket der flankierenden Sozialmaßnahmen zum § 218, in dem wir nämlich schon genau diese Beratung vorgesehen haben, die Sie gefordert haben, im Bundesrat durch Ihre Obstruktionspolitik lahmgelegt worden ist. Man darf das nicht verschweigen; das gehört mit zu den parteipolitischen Unterschieden in dieser Frage. Präventionsmaßnahmen reichen eben von einer
9382 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1974
Gansel
schärferen Kontrolle der pharmazeutischen Industrie bis hin zum Tempo 120, zwei Maßnahmen übrigens, über die Sozialdemokraten und CDU/CSU unterschiedliche Meinungen haben; denn sie sind auch unterschiedlicher Meinung über die Sozialpflichtigkeit nicht nur des Privateigentums, sondern auch der Freiheit.
Ich möchte zur Bedeutung der Prävention vor allem etwas in bezug auf die Arbeitswelt sagen;
denn danach haben Sie ja die Frage 4 gestellt. 1968 gab es in den Rentenversicherungen 268 000 Rentenneuzugänge wegen Berufs- und Erwerbsunfähigkeit, 1973 waren es 255 000 Frühinvaliden, also Personen, die aus gesundheitlichen Gründen vor Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze aus dem Arbeitsleben geschieden sind. 1969 gab es im deutschen Arbeitsleben 2 630 000 Unfälle und 6 247 Tote, 1973 2 480 000 Unfälle und 5 885 Tote. Ich weiß nicht, ob man den Rückgang dieser Zahlen als Erfolg feiern darf; sicherlich ist er ein Fortschritt.
Diese nüchternen Zahlen machen deutlich, daß wir Sozialdemokraten, wenn wir von der Humanisierung der Arbeitswelt sprechen, vor allem die Befriedung des Schlachtfeldes Produktion meinen. Daß diese Befriedung immer nur relativ sein wird, ist eine bittere, aber unausweichliche Erkenntnis. Arbeitssicherheit und Rentabilität — früher sagte man in Deutschland und heute sagt man im Ausland „Profit" — stehen nun einmal in einem Widerspruch, der nie völlig aufhebbar sein wird. Wollte man z. B. einen Großtanker so bauen, daß dabei kein Werftarbeiter gefährdet würde, so müßte er aus Gummi bestehen und dürfte auch nur die Größe eines Schlauchbootes haben.
Dennoch ist es nicht falsch oder vermessen, wenn ich sage: Im Konflikt zwischen dem Menschen und der Rentabilität stehen wir Sozialdemokraten traditionell auf der Seite des Arbeitnehmers. Jüngere Parteien können das schon auf Grund ihrer soziologischen Zusammensetzung nicht von sich behaupten.
Mit dem Forschungsprogramm zur Humanisierung des Arbeitslebens und mit dem Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit haben die Bundesregierung und die sie tragende Koalition zwei große Schritte in Richtung auf den Menschen getan. Das Jugendarbeitsschutzgesetz wird ein weiterer Schritt sein; auch dieses Gesetz sollte man in diesem Zusammenhang nicht vergessen. Deshalb wäre es wiederum gut, wenn die Herren vom Wirtschaftsrat der CDU bei der Behandlung dieser Fragen anwesend wären.
-- Entschuldigung, Ihre beiden Aktienpakete reichen dafür nicht aus; da müssen Sie schon mehr vorweisen, um für den Wirtschaftsrat zu sprechen.
Wir haben in der Bundesrepublik ein schon gut entwickeltes System von Arbeitsschutzvorschriften. Sie müssen aber ständig der sich wandelnden Produktion und der wissenschaftlichen Entwicklung angepaßt werden.
Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung, die 1972 ihre Arbeit aufgenommen hat, wird dabei eine große Hilfe sein.
Noch wichtiger aber ist eine bessere Kontrolle der geltenden Arbeitsschutzvorschriften. Das beweist allein die Tatsache, daß im letzten Jahr 1 254 000 Beanstandungen festgestellt wurden.
In medizinischen Fragen des Arbeitsschutzes und der Unfallverhütung werden die Betriebsärzte in Zukunft eine viel wichtigere Rolle spielen als heute. Das Betriebsärztegesetz ist aber auch ein Gesetz, an dem deutlich wird, daß Reformpolitik nicht kurzfristig wirken kann. Wir haben die 10 000 Betriebsärzte noch gar nicht, die wir für die Verwirklichung dieses Gesetzes eigentlich bräuchten. Da Sie dazu nur mit dem Kopf schütteln, weiß ich auch: Wir würden sie nie bekommen, wenn wir mit dem Gesetz nicht begonnen hätten. Es gibt in der Bundesrepublik noch nicht die Mediziner mit den erforderlichen Spezialkenntnissen.
1973 gab es ganze 15 Lehrstühle für Arbeitsmedizin und 7 für Sozialmedizin. Deshalb ist zum Beispiel die Zusammenarbeit zwischen der Universität Bremen und der Arbeiterkammer dort so wichtig. Und ich finde es bezeichnend, daß das heute morgen bei der Debatte über das Hochschulrechtsrahmengesetz so abgetan worden ist. In Schleswig-Holstein gar gibt es keinen einzigen Lehrstuhl für Arbeitsmedizin, obwohl Arbeitsmedizin nach der Approbationsordnung seit Jahren Prüfungsfach ist.
— Ich weiß, daß Schleswig-Holstein in mancher Beziehung schlimmer ist als Bayern; aber das liegt daran, daß in Schleswig-Holstein die CDU noch länger regiert als die CSU in Bayern.
Vielleicht haben wir noch nicht einmal die Studenten, die auf dem Gebiet der Arbeitsmedizin Spezialkenntnisse erwerben wollen, um Betriebsärzte zu werden. Denn das hohe Einkommen, das ein sogenannter freier Arzt bezieht, wird ein Betriebsarzt
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nie erhalten. Wir brauchen deshalb Studenten, die aus sozialer Verantwortung bereit sind, später weniger Geld zu verdienen als ihre Kollegen.
Wenn diese soziale Verantwortung nicht im Elternhaus vermittelt wird — in einer Gesellschaft, in der die Leistung nur noch am Einkommen gemessen wird —, dann muß das schon die Schule tun. Deshalb sind z. B. Rahmenrichtlinien für den Schulunterricht so wichtig, ob das in Hessen, in Nordrhein-Westfalen oder in Niedersachsen ist. Dies ist ein gesellschaftspolitischer Zusammenhang, den wir nicht zerreißen lassen und den die CDU/CSU vor den Augen der deutschen Arbeiter nicht verschleiern darf.
Dabei müssen wir auch deutlich machen, daß es länger als bis zum nächsten Wahlkampf dauert, bis dieses Gesetz für den Arbeitnehmer praktisch erfahrbar wird.
Herr Mertes, wenn Sie dazwischenrufen „Ideologie": wenn dies von einem Juristen kommt, kränkt es nie.
Wir Sozialpolitiker, wohl in allen Parteien, haben Sorgen, daß die Erfolge bei der Wiedereingliederung von Behinderten in das Arbeitsleben, die natürlich zur Zeit der Voll- und Überbeschäftigung leichter als heute waren, zunichte gemacht werden könnten. Wir verstehen deshalb, wenn immer wieder sorgenvoll auf die Arbeitslosigkeit von Schwerbehinderten hingewiesen wird, doch helfen falsche Zahlen dabei nicht. Es ist richtig, Herr Burger, daß nach der Strukturanalyse der Bundesanstalt für Arbeit vom Mai 1967 24,9 % Arbeitslose mit gesundheitlichen Einschränkungen waren und 4,9 % Rehabilitanten. Nur waren dies eben nicht alles Schwerbehinderte im Sinne des Schwerbehindertengesetzes. Dennoch sind sie ein schweres sozialpolitisches Problem, und es stecken viele menschliche, individuelle Probleme dahinter. Sie sind aber keineswegs neu. Schon immer hatte der Gesunde Vorteile gegenüber dem gesundheitlich Benachteiligten im Arbeitsleben.
Wielange schon währt der Kampf der Gewerkschaften gegen die Herabgruppierung ihrer Kollegen, die durch Unfall oder lebenslangen Arbeitsstreß einen Teil ihrer Arbeitskraft eingebüßt haben? Wo waren da die Sorgen der CDU/CSU? Wo war da etwa die Unterstützung des Wirtschaftsrates bei Tarifverhandlungen? Bitte, da zeigt sich, wo das Engagement echt ist, wo man bereit ist, dafür zu zahlen, oder wo es nur schöne Worte sind, wo man sich mit der Aura der Caritas auf den gemachten Weg begibt, den die anderen erkämpft haben.
— Bitte sehr, Herr Maucher.