Rede von
Albert
Burger
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Die Bereitschaft zu helfen, hat in der Bevölkerung zugenommen, wobei kleinere Gemeinschaften für die Integration günstiger sind. Eine Reihe von Ihnen, meine Damen und Herren, werden in ihrem Wahlkreis Ähnliches erlebt haben wie ich. Im Landkreis Wolfach war es der Amtsrichter Dr. Eberhard, der die Initiative ergriff, die „Lebenshilfe" gründete und in mehrjähriger harter Arbeit mit Eltern und Gleichgesinnten, mit Hilfe der Vereine und Gemeinden eines Kreises für die Behinderten eine Schule, eine Werkstatt und ein Wohnheim geschaffen hat. Alle halfen mit. Deshalb sind die Behinderten dort integriert; denn ihre Rehabilitation ist durch tätige Mithilfe zu einer Aufgabe für alle geworden. Auf Eigeninitiative kann einfach nicht verzichtet werden.
Stärker gefördert werden sollten die Klubs für Behinderte. In diesen Zusammenschlüssen haben sie die Möglichkeit, zu zeigen, daß sie eigener Initiativen fähig sind und nach Wegen suchen, ihr Schicksal zu meistern. Allerdings: Wenn die Eingliederung in die Gesellschaft gelöst werden soll, müssen ihre Leitbilder korrigiert werden. Die heile Welt ist eben nicht nur die der lebensfrohen Reklamemenschen; zum Leben gehört eben mehr als Laufenkönnen, zum Glücklichsein mehr als gesunde Beine.
Vielleicht denken daran auch die Teilnehmer einer Veranstaltung des Niedersächsischen Jagdklubs, die — einer Pressemeldung zufolge sich in der Stadthalle von Hannover vergnügten, 45 000 DM Eintrittsgelder bezahlten und ganze 461,50 DM für die Aktion Sorgenkind spendeten.
Neben der Freiheit und der Gleichheit sollte der dritten der Revolutionstugenden, der Brüderlichkeit, die meist unter den Tisch fällt, mehr Raum gegeben werden.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1974 9369
Burger
Jeder, meine Damen und Herren, kann morgen schon Behinderter sein. Niemand ist gefeit; jeder kann genötigt sein, schon morgen die Hilfen der Rehabilitation in Anspruch nehmen zu müssen. Günther Windschild vom Hessischen Rundfunk führte in einem Beitrag folgendes aus:
Als am 4. Juli 1954 Reporter Herbert Zimmermann vom Norddeutschen Rundfunk mit überschnappender Stimme ins Mikrofon schrie „Toni, du bist ein Gott!", da hätte sich niemand vorstellen können, daß dieser im Weltmeisterschaftsfinale hervorragende Nationaltorwart Toni Turek 19 Jahre später prominenter Patient in der Rehabilitation werden könnte. Turek, selber kerngesund bis zu jenem tragischen Tag, als er gelähmt ins Krankenhaus gebracht werden mußte, dürfte das Wort Rehabilitation als ein Fremdwort abgetan haben wie Millionen andere Menschen auch.
Die Medien haben das Verständnis für Behinderte erfolgreich gefördert. Neuerdings gibt es eine ganze Reihe hervorragender Bücher über Behindertenschicksale; vielleicht ein aktuelles Geschenk zu Weihnachten.
Nun zur Antwort der Bundesregierung. Die sehr ausführliche Antwort der Bundesregierung, für die wir danken, liest sich da und dort manchmal ein bißchen wie der Wehrmachtsbericht einer vergangenen Epoche. Darstellungen der Erfolge decken manchmal die schwierigen Probleme, die noch vor uns liegen, zu.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich nie gescheut, die Gesetze dieser Regierung zur Verbesserung der Lage der Behinderten zu würdigen. Ich tue dies auch heute. Und doch sollte man nicht vergessen, daß Bundesminister Walter Arendt am 14. April 1970 in Wiesbaden folgendes erklärte:
Ich weiß sehr wohl, daß wir mit dem Aktionsprogramm kein Neuland betreten, daß wir mit der Rehabilitation in der Bundesrepublik Deutschland nicht erst am Anfang stehen, sondern mit Stolz zurückschauen können auf ausgezeichnete Erfolge und vorbildliche Einrichtungen in fast allen Bereichen der Rehabilitation.
In der Debatte im September 1970 erklärte der Minister:
Ich weiß, daß sich mein Vorgänger sehr für die Rehabilitation eingesetzt hat.
Meine Damen und Herren, Rehabilitation wird um der Menschen willen betrieben. Sie ist aber auch ein versicherungsrechtlicher Vorgang geworden. Andauernde Leistungsbehinderung erzeugt hohe Kosten. Rehabilitation dient dazu, die Kosten zu senken. Auch deshalb geben die westlichen Industrieländer der Prävention und der Rehabilitation Priorität. Die Bundesrepublik nimmt keine Ausnahmestellung ein, wenn sie die zunehmenden Möglichkeiten
für eine Verbesserung der gesetzlichen Grundlagen wahrnimmt.
Wenn wir schon von Leistungen sprechen, dürfen wir auch die Bundesländer nicht vergessen. Mit Recht weist die Bundesregierung darauf hin, daß sie 60 Millionen DM für bauliche Maßnahmen einsetzt; mit gleichem Recht füge ich hinzu, daß für das RehaZentrum Neckargemünd Ministerpräsident Filbinger den Löwenanteil von 41 Millionen DM Landesmittel melden konnte. Bund und Länder, Kommunen, Sozialversicherung und freie Träger bringen erhebliche Mittel auf. Dank verdienen aber an erster Stelle vor allem jene Fachkräfte, die heute und in der Vergangenheit die medizinischen, pädagogischen, berufsfördernden und sozialen Maßnahmen vollziehen und vollzogen haben.
Überraschend stark engagieren sich vor allem auch junge Menschen.
Die heutige Debatte — ich habe vorhin schon darauf hingewiesen — entbehrt nicht einer ernsten Aktualität. Ein erheblicher Teil der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik ist nicht konjunkturell, sondern strukturell bedingt; viele Arbeitsplätze sind bereits verschrottet. Mit Überbeschäftigung ist es auf Jahre hinaus wahrscheinlich vorbei. Die Behörden haben Einstellungsstopp. Die Zahl der arbeitslosen Schwerbeschädigten hat sich innerhalb eines Jahres verdoppelt. Ministerpräsident Filbinger hat bereits an die Wirtschaft appelliert, den Konjunkturabschwung nicht auf dem Rücken der Behinderten auszutragen. Mit Sorge betrachtet er den Rückgang von Lehrstellen für Behinderte und die drastische Schrumpfung von Aufträgen der Wirtschaft für die Behindertenwerkstätten.
Einige andere Probleme, die noch vor uns liegen: Das gegliederte System droht zu einem zergliederten zu werden. Die Rehabilitation muß überschaubarer dargestellt werden; Fachleute fordern bereits ein einheitliches Rehabilitationsgesetz. Vielleicht bietet sich hier im Hinblick auf mehr Überschaubarkeit das Sozialgesetzbuch an. Im beruflichen Teil sollte die Stellung der Bundesanstalt für Arbeit gestärkt werden. Es gibt in der Praxis Schwierigkeiten zwischen der Rentenversicherung und der Bundesanstalt für Arbeit in Fragen der Umschulung. Ähnliche Schwierigkeiten bestehen zwischen Krankenkassen und Rentenversicherung in der medizinischen Rehabilitation. Beide Kostenträger sind an der medizinischen Rehabilitation beteiligt, es fehlt aber eine klare Abgrenzung. In beiden Fällen gibt es Leerlauf, in beiden Fällen wird die Effizienz gestört, und in beiden Fällen zahlt der Behinderte die Zeche für diese im einzelnen teilweise ungeklärte Kompetenz.
Auch die Tatsache, daß das Jugendhilfe-Reformgesetz nun nicht mehr kommen wird, wird für die Rehabilitation ein Negativum darstellen. Es werden Beratungsstellen fehlen, und es werden auch Sondereinrichtungen hiervon betroffen sein. Es fehlen auch qualifizierte Fachkräfte. Das System des Chan-
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Genausgleichs, das die beste Ausbildung für diejenigen reservieren würde, die in anderer Hinsicht benachteiligt sind, ist noch lange nicht erreicht.
Zum Schluß, meine Damen und Herren: Rehabilitation braucht einen langen Atem. Fraktion und Parteien der CDU/CSU werden sich mit Nachdruck und Augenmaß für die Eingliederung der Behinderten in Arbeit, Beruf und Gesellschaft einsetzen. Wir werden dabei im Sinne eines Wettbewerbs des guten Willens die Zusammenarbeit suchen.