Rede von
Albert
Burger
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Fraktionen im Deutschen Bundestag befassen sich in diesen Tagen vorrangig mit sorgenvollen Problemen: zunehmender Arbeitslosigkeit, vermindertem Wachstum und steigenden Preisen. Trotzdem bin ich davon überzeugt, daß es erforderlich ist, sich auch um die Probleme der Behinderten zu kümmern, die als besonders Betroffene Gefahr laufen, von der allgemeinen Entwicklung zusätzlich betroffen zu werden. Wir alle haben daran gearbeitet, für die Behinderten eine geachtete Stellung in der Gemeinschaft und möglichst Dauerarbeitsplätze zu schaffen. Diese positive Entwicklung muß sich auch in einer Schlechtwetterzone bewähren. Deshalb ist die heutige Debatte aktuell, auch aus einem zweiten Grund: Die Kosten der Sozialversicherung steigen sprunghaft. Prävention und Rehabilitation sollten deshalb besonderes Gewicht erhalten.
Rehabilitation geschieht um der Menschen willen. Sie ist aber auch ein versicherungsrechtlicher Vorgang geworden; denn andauernde Leistungsbehinderung erzeugt hohe Kosten. Rehabilitation dient aber dazu, die Kosten zu senken.
9366 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1974
Burger
Meine Damen und Herren, auf dem Wege zur umfassenden Rehabilitation ist vieles in Bewegung gekommen. Die CDU/CSU unterstützt mit Nachdruck die vielfältigen Bemühungen zur Integration der Behinderten in eine humanere Gesellschaft. Die Große Anfrage und die heutige Debatte sollen dazu beitragen, daß Begonnenes fortgeführt, die heutige Situation kritisch bewertet und vor allem Anstehendes oder neuerdings sichtbar Gewordenes aufgegriffen und durchgesetzt wird. Vorurteile, psychologische, administrative und bauliche Barrieren sollten ebenso ausgeräumt werden wie Gleichgültigkeit oder Unwissenheit bezüglich der Probleme der Behinderten. Die Rehabilitation, eine moderne Hilfe für den behinderten Menschen im Rahmen der Daseinsvorsorge, ist zum festen Bestandteil unseres Systems der sozialen Sicherheit geworden.
Doch manche Anstrengungen, die gesellschaftliche Eingliederung zu verstärken, stoßen auf ein schwerwiegendes Hindernis: das mangelnde Umweltverständnis. Es ist bisher nur unzureichend gelungen, der breiten Öffentlichkeit die Probleme der Behinderten nahezubringen.
Ernst Klee läßt in seinem Buch „Behinderten-Report"
im Vorwort einen Spastiker sprechen. Dieser sagt:
Es ist nicht die Behinderung, die lähmt, sondern die Rolle des Außenseiters nimmt uns die Möglichkeit der Bewährung. Nicht das Mitleid tötet, sondern daß man es als Anmaßung empfindet, so wie die anderen sein zu wollen.
Diese Äußerung beweist, wie stark das fehlende Umweltverständnis die behinderten Mitbürger bedrückt.
Wer aber zur Eingliederung der Behinderten A sagt, der muß auch B sagen, ja, der muß auch Z sagen.
Denn die abgeschlossene berufliche und medizinische Rehabilitation wird zur Endstation, wenn für die Betroffenen kein Dauerarbeitsplatz gefunden wird und wenn die Gesellschaft die Behinderten nicht annimmt. Diese sind ja keine geschlossene Gruppe, sondern Mitbürger, die neben Eigenschaften, die sie gleich anderen Menschen haben, das besondere Schicksal haben, blind, taub, leicht oder schwer körperbehindert, chronisch krank oder geistig behindert zu sein. Der Vielfalt dieser Bedürfnisse muß eine entsprechende Vielfalt sozialer Leistungen, Dienste und Institutionen gegenüberstehen.
Untersuchungsergebnisse des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit lassen erkennen, daß Behinderte besonders im Berufsleben benachteiligt sind, so daß von einer Chancengleichheit noch nicht gesprochen werden kann.
Gemessen an den Zielvorstellungen sind die bisherigen Bemühungen bestenfalls teilweise erfolgreich gewesen.
Benachteiligungen zeigen sich bereits in der beruflichen Stellung. Volksschulabgänger weisen mit 17% den im Vergleich zu anderen Gruppen höchsten Anteil an Behinderten auf, was darauf hindeutet, daß zumindest bei einem Teil der Behinderten schon die Ausbildung erkennbar beeinträchtigt wurde. Aber auch bei gleichem Ausbildungsniveau lassen sich Unterschiede nachweisen. Insbesondere sind behinderte Volksschulabgänger mit abgeschlossener Berufsausbildung in stärkerem Maße als ungelernte und angelernte Arbeiter beschäftigt.
Verminderte Aufstiegschancen und erhöhtes Absteigerisiko lassen sich ebenfalls nachweisen. Zwischen 1965 und 1970 sind etwa 16 % Behinderte aus einer Facharbeiterposition abgestiegen gegenüber 9 % Nichtbehinderten. Umgekehrt gelang es nur 5 % Behinderten, in eine Facharbeiterposition aufzusteigen, gegenüber 9% Nichtbehinderten. Ähnlich liegt es auch bei den Angestellten.
Leider sind über ein Drittel, und zwar 34 %, der Behinderten den Erhebungen zufolge nicht ausbildungsgerecht beschäftigt. Ihre Fähigkeiten werden nicht ausgeschöpft. Sie werden oft mit Routinearbeiten beschäftigt und damit auch in eine gewissen Isolation in der Arbeitswelt abgedrängt.
Insgesamt lassen alle Einzelergebnisse dieser Erhebungen Benachteiligungen erkennen, wobei die Untersuchungen wenig darüber auszusagen vermögen, woraus die Benachteiligungen für Behinderte vor allem resultieren.
Die Bundesregierung irrt nach meiner Meinung, wenn sie behauptet, daß die Untersuchungsergebnisse aus dem Jahre 1970 sich nicht auf die Gegenwart übertragen lassen. Die neuesten Arbeitslosenzahlen beweisen nicht nur eine besondere Betroffenheit der Behinderten innerhalb dieser aktuellen Arbeitslosigkeit, sondern sie zeigen auch die Schwierigkeiten, Rehabilitanden derzeit zu vermitteln. Die Zahl der arbeitslosen Rehabilitanden betrug nämlich Ende Mai dieses Jahres 22 400. Der Anteil dieser Gruppe an allen Arbeitslosen beläuft sich somit auf 4,9%. Darunter befindet sich eine sehr große Zahl 20- bis 25jähriger Rehabilitanden.
Bei 3 600 der von Arbeitslosigkeit Betroffenen dauerte diese zum Zeitpunkt der Erhebung bereits länger als ein Jahr.
Beispiele aus dem Alltag bestätigen in etwa die Ergebnisse dieser Erhebungen.
So schreibt uns ein Behinderter aus Siegen — ich zitiere —:
Nach Abschluß der Hauptschule wurde ich in einer Ausbildungsstätte für Körperbehinderte in Bremen drei Jahre zum Bürokaufmann ausgebildet. Diese Ausbildung habe ich am 21. Juni 1973 mit der Kaufmannsgehilfenprüfung vor der Handelskammer in Bremen abgeschlossen. Ne-
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benbei nahm ich an einem Einführungskursus in die Datenverarbeitung teil, den ich mit „Sehr gut" abgeschlossen habe. Da das Arbeitsamt Siegen seit dem 25. Juni 1973 nicht in der Lage war, mir einen Arbeitsplatz zu vermitteln, bin ich arbeitslos.
In einem anderen Brief schreibt Alfred Gerlach aus Weinsberg:
Erlauben Sie mir aber, auf einen Punkt, der den Behinderten besonders auf den Nägeln brennt, nochmals hinzuweisen. Dieses Problem ist das der Benachteiligung im Beruf, der Aufstiegsmöglichkeiten. In dieser Hinsicht gibt es meiner Erfahrung gemäß noch die unglaublichsten Zustände, Diskriminierungen, die bis hin zur persönlichen Beleidigung reichen.
Schließlich noch ein Zitat aus einem Brief des Behinderten Jörg Blücken aus Birkendorf. Er schreibt:
Am 3. November habe ich Ihnen freudig mitgeteilt, daß ich bei der AOK eine Beschäftigung gefunden habe. Auf Grund der psychologischen und medizinischen Tests der Arbeitsämter und des Reha-Zentrums in Heidelberg sollte ich durch die Vermittlung des Arbeitsamtes sechs Monate auf verschiedenen Arbeitsgebieten erprobt werden. So sollte für mich der geeignete Arbeitsplatz gefunden werden. Da aber nur in der Telefonvermittlung ein Platz für mich frei war, begann ich dort meine Tätigkeit. Eingearbeitet wurde ich von einem jungen Fräulein, das wenig Verständnis hatte und wenig Rücksicht nahm auf meine körperliche Behinderung. Es war für mich eine sehr hektische Beschäftigung. Von morgens bis abends war ich sehr stark beansprucht. Am 14. Januar 1974 wurde mir nun unerwartet gekündigt, nachdem mein Hausarzt darauf hingewiesen hatte, daß ich in der Telefonzentrale unter keinen Umständen beschäftigt werden sollte. An einer anderen Stelle aber wurde ich nicht erprobt.
Der Behinderte schreibt weiter:
Nun sitze ich ab 1. Februar 1974 wieder da ohne Arbeit und falle dem Staat zur Last. Was aber viel, viel schlimmer ist: Ich bin todunglücklich über meinen verlorenen Arbeitsplatz. Was wird nicht alles in der Presse, im Rundfunk und im Fernsehen über die Hilfe für die Behinderten berichtet! Leider sieht es
— so schließt der Brief —
in der Praxis sehr viel trostloser aus. Sie kennt keine Rücksichtnahme.
Meine Damen und Herren, dies sind einige Stellungnahmen aus der Praxis, die sich durchaus mit den Ergebnissen der Umfrage decken.
Hinsichtlich der Beschäftigung Schwerbeschädigter bei den Bundesdienststellen zeigt eine Aufstellung vom April dieses Jahres, daß nur zwei Bundesministerien die Pflichtplätze besetzt haben, während alle anderen erhebliche Defizite ausweisen. Ich meine,
gerade hier sollte man doch mit gutem Beispiel vorangehen.
Das neue Behindertengesetz, das für alle Behinderten die rechtliche Gleichstellung brachte, wird meiner Auffassung nach neue Probleme bringen. Ich zweifle manchmal daran, daß es gelingt, die geweckten Hoffnungen zu erfüllen und die von allen Parteien getragene Konzeption auch umzusetzen. Es ist fraglich, ob die institutionelle und personelle Ausstattung der für das Gesetz zuständigen Organe und Einrichtungen ausreicht, um die Aufgaben zu lösen. Es fehlt auch an einer klaren Definition des Behindertenbegriffes. Sprecher der Verbände kritisieren, daß man Langzeitstrafentlassene, nicht Seßhafte und sozial Gefährdete als Behinderte bezeichnet. Damit werde das Gegenteil von dem erreicht, was das Ziel der gesetzlichen und sonstigen Maßnahmen sei. Rehabilitation sei eine Sache, Resozialisierung sei eine andere.
In der Sozialwissenschaft wird der Begriff Behinderung immer noch kontrovers diskutiert. Man ist nicht auf einen gemeinsamen Begriffsnenner gekommen. Um nur ein Beispiel zur bringen: Was ist z. B. „seelisch behindert"? In einem Kommentar findet man folgende Definitionen:
Seelisch behindert ist, wer in seinem subjektiven Befinden und Erleben, in seiner Affektivität und Vitalität, in seiner sozialen Einordnung, in seinem normativen Verhalten gestört und anders als sein soziales Umfeld ist.
Daß diese weitgefaßten Definitionen, meine Damen und Herren, den Anforderungen der Praxis genügen werden, ist zu bezweifeln.
Ein anderes Problem: mehrfache Behinderungen. Wie werden sie gemessen? Viele körperlich Behinderte sind erheblich seelisch behindert, z. B. Monika, eines der 2 450 Contergan-Kinder. Sie ist 15 Jahre alt, vierfach geschädigt, d. h. sie ist an Armen und Beinen verkürzt, und trägt vier Prothesen.
Sehen Sie, ich habe keine Arme und keine Beine. Wer wird ein solches Monstrum schon lieben?,
meint sie und fährt fort:
Ich wäre ein gesellschaftliches Problem, hat der Berufsberater gesagt. Ich habe zurückgefragt: Für ihn, für die Umwelt oder für mich selbst? Da wußte er keine Antwort. Er gab mir ein Buch, und ich mußte aus ihm vorlesen. Da hat ihn gestört, daß ich mit der Zunge umblätterte. Ja, meinte er, das wäre doch sehr schwierig. Als ich sagte, da seien wir gleicher Meinung, wußte er entgegen seinem Berufsplan keine Worte mehr.
Meine Damen und Herren, eines von 2 400 echten Problemen! Dazu werden Hunderttausende andere kommen, und ich fürchte, daß weder die Behörden und Ämter noch Arbeitgeber und Mitarbeiter und schon gar nicht die Umwelt darauf vorbereitet sind. Unkenntnis aber schafft immer neue seelische Behinderungen. Auch die Anhaltspunkte für die ärzt-
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liche Gutachtertätigkeit, einst etwas rauh „Knochentaxe" genannt, sind als Maßstab für die Einstufung der Behinderten kaum mehr ausreichend.
Absolut unzureichend ist auch die sogenannte nachgehende Fürsorge. Nach medizinischer Behandlung und nach beruflicher Rehabilitation sind die Behinderten am Arbeitsplatz allein gelassen. Bei auftretenden Anpassungsschwierigkeiten fehlt ein Helfer, der dem Behinderten beisteht, um die Schwierigkeiten der ersten Wochen zu bestehen. Wie oft könnten in Gesprächen mit Arbeitgebern oder Mitarbeitern Schwierigkeiten ausgeräumt, Vorurteile abgebaut und Leistungsknicke der ersten Zeit überbrückt werden. Manches Scheitern mit neuen seelischen Behinderungen könnte man auf diese Weise verhindern. Den Sozialfürsorger erwartet hier ein wichtiges Arbeitsfeld.
Berufsförderungswerke und Berufsbildungswerke für Jugendliche werden nun mehr und mehr die Behinderten für den allgemeinen Arbeitsmarkt ausbilden. Für diejenigen, die das nicht schaffen, sollen Werkstätten für Behinderte eingerichtet werden. Wir halten diese Konzeption für gut und richtig. Es liegt aber zwischen beiden Bereichen meiner Auffassung nach eine Lücke. Es gibt nämlich eine sehr große Zahl von Betroffenen, die über dem Leistungsstandard einer Werkstätte liegen, die aber vielleicht nur an zwei Drittel oder drei Viertel einer vollen Arbeitskraft herankommen. Es wäre zu überlegen, ob diese Gruppe nicht mit Sondertarifen oder wie in Holland nach einem System mit Mindestlöhnen beschäftigt werden könnte. Vielfach würden dadurch manche Behinderte vor einem nicht zumutbaren Streß bewahrt, und gleichzeitig käme man vielfachen Bedürfnissen der Wirtschaft und der Behörden entgegen.
Die Normen der Leistungsgesellschaft sind Schnelligkeit, Erfolg und Flexibilität. Diese Normen kann der Behinderte nicht immer erfüllen. Wen wundert es, wenn 91 °/o der Bevölkerung nicht wissen, wie sie sich gegenüber Behinderten verhalten sollen. Die Ergebnisse der Meinungsumfragen sind nicht ermutigend. Die Einstellungen und Vorurteile zementieren die Getto-Situation der Behinderten.
An manche Gruppen hat sich der Normalbürger zwar gewöhnt. Wenn aber die landläufige Vorstellung von dem, was Behinderung darstellt, durch vermeintlich Schlimmeres gestört wird, wenn z. B. die Mutter mit ihrem mongoloiden Kind im Wagen vorüberfährt oder der junge Mann mit dem Wasserkopf vorübergeht, dann wendet sich der Bürger ab. Für allzu viele gilt noch: wegschauen, verdrängen, ignorieren. Vorurteile aber behindern die Teilhabe der Behinderten am Leben der Gesellschaft, und dies ist ja das eigentliche Ziel der Rehabilitation. In einer Gesellschaft, in der Jugend, Gesundheit, Schönheit und Tatkraft sich als alleiniger Maßstab für die menschliche Existenz anbieten, müssen die Behinderten sich fremd fühlen. In dieser bunten Welt des Peter Stuyvesant sind Behinderungen ein Ärgernis. Lebensprotzerei schließt die Bildung von Randgruppen mit ein. Was ist Gesellschaft? Eine Anzahl von Personen, die Familie, die Schule, die Gemeinde, der Betrieb.
Entscheidend ist oft die Erstberatung der Eltern. Die Erkenntnis für die Eltern, ein Kind zu haben, dessen Entwicklung anders verläuft, als sie es einmal erhofften, ist schmerzlich. Dr. Virginia Axline schildert in ihrem Buch „Dibs" den Schmerz einer enttäuschten Muter, wenn sie diese sprechen läßt — ich zitiere —:
Ein geistig zurückgebliebenes Kind war mehr, als wir ertragen konnten. Wir schämten uns. Wir waren gedemütigt. In keiner unserer Familien hat es jemals so etwas gegeben.
Es ist eigenartig, fast alle Eltern fragen, wenn ihnen ein behindertes Kind geboren wird, zunächst nicht nach der Ursache, sondern nach der Schuld für dieses einschneidende Ereignis.