Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe vorsorglich eine halbe Stunde Redezeit beantragt, hoffe aber, sie nicht in Anspruch nehmen zu müssen. Für die Bildungspolitiker in diesem Hause möchte ich folgendes feststellen. Nachdem sich der deutsche Wald hier vor einigen Monaten in einer, wenn ich es recht in Erinnerung habe, fünfstündigen Debatte Belaubt hat, sollten wir uns hier, wie ich meine, auch eine längere Debatte erlauben.
Meine Damen und Herren, das Gesetz, das wir heute hier zu verabschieden haben werden, ist nach unserer Überzeugung zwanzig Jahre überfällig. Das muß ich einmal ganz deutlich zur Opposition hin sagen. Auf ein solches Gesetz warten seit langem viele hauptamtlichen Angehörige der Hochschulen ebenso wie die jeweils zum Studium anstehende Generation von jungen Menschen und nicht zuletzt, ja, vor allem Millionen von Bürgerinnen und Bürgern in unserem Lande, die längst begriffen haben, daß Hochschulpolitik immer auch ein Stück Gesellschaftspolitik, daß Hochschulreform immer auch ein Stück gesamtgesellschaftliche Reform ist. Diese Bürgerinnen und Bürger werden sich auch nicht durch reaktionäre Kräfte in unserem Volke irremachen lassen, die mit ebensoviel Lautstärke wie Demagogie den gestern, heute und morgen leicht zu widerlegenden Eindruck zu erwecken versuchen, als ob diese unsere sozialliberale Koalition seit 1969 im Grunde über Reformen nur geredet, aber keine entscheidenden Reformen durchgebracht habe und auch nicht durchsetzen könne.
Herr Kollege Schäuble, ich muß sagen, Ihre Einlassungen zu Anfang schienen mir ein wenig in den karnevalistischen Bereich hineinzureichen.
Sie haben in Ihren einleitenden Einlassungen den Eindruck zu erwecken versucht, lieber Herr Kollege Schäuble, als ob von der Regierung und von der Koalition her gewissermaßen nur diffuse Leerformeln in dieses Gesetz hineingeschrieben worden seien. Darauf kommen wir nachher noch. Dann haben Sie das Bild von dem Wein gebracht, der hier offeriert wird.
Ich muß sagen, mit Ihren einleitenden Auslassungen
haben Sie diesen Weich doch ziemlich verpanscht uno
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Dr. Schweitzer
dem Anlaß, der uns hier zusammenführt, nicht unbedingt Genüge getan.
Sie kamen dann, Herr Kollege Schäuble — ich darf das auch gleich zu Anfang feststellen; dies gilt auch für andere Redner der Opposition —, auf dieses Ammenmärchen, das uns gestern hier auch am Rande beschäftigt hat, als ob von der Regierungsseite, von unserer Seite, nicht sinnvoll und nicht ausführlich zur Kostenfrage Stellung genommen worden sei. Sie wissen doch ganz genau, daß wir diese Dinge im Ausschuß sehr ausführlich beraten haben und daß uns die entsprechenden Vorlagen vorliegen. Die Bundesregierung wird sicher anschließend zu diesem Punkt noch ausführlich Stellung nehmen.
— Ja, aber es lagen immerhin exakte Untersuchungen des Ministeriums vor.
Ich habe manchmal das Gefühl gehabt, Herr Kollege Pfeifer, daß die so oft nein sagende und so oft das Wagnis jeder Reform scheuenden Opposition innerhalb und außerhalb des Bundestages diese unsere Regierung und Koalition um die Tatsache beneidet, daß es ihr nach immerhin fünf Jahren — im Gegensatz zu den 20 vorhergehenden Jahren unter der Regie Ihrer Kanzler — endgültig gelungen ist, ein solches Gesetz auszuarbeiten, einzubringen und im Deutschen Bundestag verabschieden zu lassen.
Was Herrn Schäuble betrifft, so möchte ich als eingefleischter Potsdamer doch einmal den Versuch machen, der Opposition auf rheinisch zu sagen — so drückt man es hier wohl aus —: Man muß och jönne könne! Unsere Mitbürger, meine Damen und Herren von der Opposition, haben nach meinem Empfinden ein sehr feines Gespür für Neinsagerei aus der mangelnden Fähigkeit, auch der anderen Seite Erfolg gönnen zu können.
Dieses Gesetz, das hier jetzt dem Bundestag vorliegt, ist als ein gutes, wohlabgewogenes Gesetz zu bezeichnen. Es sichert und garantiert die Freiheit von Lehre und Forschung in diesem Lande, schafft neue Mechanismen und Institutionen, in denen sich die Freiheit von Forschung und Lehre zum Wohle aler entfalten kann. Wenn der hier jetzt abwesende Doppelkollege Carstens in diesem Zusammenhang wie auch andere Sprecher der CDU auf die Formulierung von der „Verantwortung vor der Gesellschaft" im Gesetz angespielt hat, worauf nachher noch einmal zurückzukommen sein wird, wenn es um Anträge geht, und in diesem Zusammenhang davon gesprochen hat, daß sich in solchen Formulierungen auf unserer Seite eine „Angst vor linken Genossen" bemerkbar mache, muß ich dem Kollegen Carstens ganz hart sagen: Er wird dem Ernst der Debatte mit solchen Zwischenrufen in keiner Weise gerecht. Er müßte ja nun gerade als vormaliger
Hochschullehrer sehr genau wissen, selbstkritisch wissen, wie ich das auch weiß, daß viele Kollegen, Professoren in diesem Falle, an Deutschlands Hochschulen immer wieder — ich darf es einmal so formulieren — der Versuchung erlegen waren, am Bedarf sozusagen „vorbeizulesen". Das wissen alle; das ist gemeint, und darauf wird nachher auch noch der Kollege Meinecke für uns im einzelnen eingehen.
— Ich denke jetzt an die Tatsache, daß er ja immerhin den Titel eines Professors führt. So ist es ja doch wohl.
Meine Damen und Herren, ich möchte hier ganz generell daran erinnern, ohne die Geschichtsforschung vorwegzunehmen — und dies muß noch einmal gesagt werden —, daß die jahrelange, ja jahrzehntelange Verzögerung einer Hochschulreform auf Bundesebene — ich weiß natürlich um die Zuständigkeiten, die erst später in vollem Umfang auf den Bund zukamen — zumindest eine der entscheidenden Ursachen für die spätestens seit der Mitte der 60er Jahre zum Ausdruck gekommenen Krise in unserem tertiären Bildungsbereich gewesen ist. Ich muß dem Kollegen Schäuble, der hier immer Aufteilungen ganz simpler Art zwischen A-Ländern und B-Ländern vornimmt, sagen, daß kein Bundesland in der Vergangenheit von diesen Sünden frei war.
Das hat sich in entsprechenden Manifestationen an den Hochschulen gezeigt.
— Weil ich einen anderen Ruf bekommen habe; eine ganz einfache Sache, Herr Schäuble! Wenn Sie mich so persönlich fragen, will ich Ihnen gerne ganz persönlich antworten.
— Kommen wir doch zur Sache! Dies ist doch viel zu ernst, als daß durch solche persönlichen, ich möchte beinahe sagen: karnevalistischen Zwischenrufe — ich darf das wiederholen, Herr Schäuble — an der Sache vorbeigeredet werden sollte.
Ich meine, hierarchisch verkrustete Personalstrukturen, gelegentliche Ausbeutung von abhängigen Angestellten, fehlende Mitbestimmungsmechanismen, boykottierte Studienreform, überholte Prüfungsordnungen und vieles mehr waren auslösende Faktoren für Versuche studentischer Protestbewegungen, eine revolutionäre Strömung in unserem Lande zu erzeugen und mit „Revolutiönchen" — so will ich einmal sagen — in Hochschule und Gesellschaft zu spielen.
Ich will an dieser Stelle keineswegs ein negatives Bild von der Entwicklung an unseren Hochschulen nach 1945 zeichnen. Alle in diesem Hause und in der breiteren Öffentlichkeit werden sich der gro-
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ßen Leistungen bewußt sein, die auf der Linie der Tradition von Forschung und Lehre auch nach 1945 in unserem Lande erbracht worden sind. Mir geht es nur um die Andeutung eines Zusammenhangs zwischen sogenannten Studentenrevolten und Reformüberfälligkeit seinerzeit —, eines Zusammenhangs, dem wir durch diese Vorlage heute abhelfen wollen. Wie so oft in der deutschen Geschichte arbeiteten sich Vertreter extremer Standpunkte — in den sechziger Jahren vor allen Dingen — gegenseitig in die Hände, das heißt, sie lösten eine Kettenreaktion der Eskalation aus. Ich wiederhole daher, meine Damen und Herren von der Opposition: Das Gesetz, das wir heute verabschieden, ist mehr als zwanzig Jahre überfällig.
Aus diesem Grunde möchte ich dem früheren Bundesminister für Bildung und Wissenschaft — sein Nachfolger wird nachher hier noch Stellung nehmen —, dem Kollegen D o h n a n y i, von dieser Stelle aus persönlich und im Namen meiner Fraktion für den Mut und die Hartnäckigkeit danken, mit der er als Mitglied der Bundesregierung das hier anstehende Gesetz entwerfen und schließlich einbringen ließ.
Namens der SPD-Fraktion möchte ich auch noch einmal ad personam zu Protokoll geben, daß wir in unseren Dank und unsere Anerkennung auch die Herren des Ministeriums einschließen,
die in jahrelanger Kärrnerarbeit — ich nenne meinerseits, wie das der FDP-Kollege schon getan hat, die Herren Dallinger und Böhning stellvertretend für alle — bis zuletzt mit uns gemeinsam hart an der Sache gearbeitet haben. In dieses Sonderlob schließe ich auch ausdrücklich Vertreter mancher B-Länder ein — das mag hier überraschen —, die wir als Berichterstatter bis zuletzt ebenfalls als gern gesehene Mitarbeiter an diesem Gesetzgebungswerk unter uns gehabt haben.
Ich sprach eben von dem Mut des Kollegen Dohnanyi — hier ist er inzwischen — als vorher zuständigem Minister, weil der Gesetzentwurf in vielen Bereichen neue Wege beschritten hat. Auch dort, wo von dem einen oder anderen Weg im Verlauf der Beratungen wieder abgegangen wurde, verdient schon der Versuch nachträgliche Anerkennung. Ich freue mich für den Kollegen Dohnanyi und die Herren seines Hauses,
daß wir die Einführung eines neuen Modells für
besondere Hochschuleingangsverfahren in diesem
Gesetz fest verankern konnten, gegen den zunächst
sehr hartnäckigen Widerstand der Opposition; das ist nachweislich im Ausschußprotokoll festgehalten. Meines Erachtens werden uns und damit dem Ministerium und der Koalition allein Tausende von potentiellen Medizinstudenten für diese — wie ich sie selber öfter bezeichnet habe — bahnbrechende Innovation in unserem Hochschulwesen dankbar sein.
Zur Opposition gewandt möchte ich an dieser Stelle sagen — ebenfalls zu meiner Freude, keineswegs mit Schadenfreude —: In diesem Punkt wie in so manchem anderen kamt ihr „spät, doch ihr kamt". Ich möchte dem Kollegen Schäuble an dieser Stelle vor der Öffentlichkeit in einem ausdrücklich beipflichten: Durch diese und andere Regelungen kann das Problem des Numerus clausus nicht aus der Welt geschafft werden. Das hat auch niemand behauptet, weder von uns noch von der Oppositon. Wir haben hier Verbesserungen eingebracht, die diesem Problem weiter beikommen werden. Aber das Problem hat tiefer sitzende Ursachen. Ich möchte für die Geschichtsschreibung festhalten, daß das Numerus-clausus-Problem nicht von uns geschaffen worden ist, sondern — das ist kein Vorwurf an eine spezielle Adresse — auf die frühen sechziger Jahre zurückgeht, also auf eine verfehlte Bildungspolitik damals. Ich möchte ausdrücklich sagen, daß die Numerus-clausus-Problematik eine Sache ist, für die Bund und Länder gemeinsam, in erster Linie eigentlich die Länder, die Verantwortung tragen.