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ID0710102200

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    Deutscher Bundestag 101. Sitzung Bonn, Montag, den 20. Mai 1974 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag des Abg. Dr. Götz 6625 A Bestellung des Abg. Dr. Häfele zum Vertreter des Abg. Windelen im Vermittlungsausschuß an Stelle des ausscheidenden Abg. Dr. Heck . . . . . . . . . 6625 A Überweisung von Vorlagen an Ausschüsse 6625 B Amtliche Mitteilungen 6625 C Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung Dr. Carstens (Fehmarn) (CDU/CSU) 6627 A Wehner (SPD) 6637 A Mischnick (FDP) 6647 A Schmidt, Bundeskanzler . . . . 6655 C Dr. Barzel (CDU/CSU) . . . . . 6658 C Friedrich (SPD) 6666 A Dr. Graf Lambsdorff (FDP) . . . 6669 D Dr. Althammer (CDU/CSU) (Bemerkung nach § 35 GO) . . 6679 C Nächste Sitzung 6679 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . 6681* A Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 101. Sitzung. Bonn, Montag, den 20. Mai 1974 6625 101. Sitzung Bonn, den 20. Mai 1974 Stenographischer Bericht Beginn: 15.00 Uhr
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    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Dr. Abelein 20. 5. Dr. Aigner * 22. 5. Dr. Artzinger * 22. 5. Batz 22. 5. Dr. Becher (Pullach) 22. 5. Blumenfeld 21. 5. Brandt 6. 6. Damm 20. 5. Erhard (Bad Schwalbach) 20. 5. Dr. Evers 20. 5. Ferrang 22. 5. Flämig * 21.5. Dr. Freiwald 22. 5. Gerlach (Emsland) * 21. 5. Gewandt 19. 6. Dr. Gölter *** 22. 5. Dr. Götz 20. 5. Dr. Gradl 10. 6. Groß 20. 5. Dr. Haenschke 31. 5. Handlos 22. 5. Jäger (Wangen) 1. 6. Dr. Jahn (Braunschweig) * 22. 5. Kahn-Ackermann *** 21. 5. Kiep 20. 5. Dr. Klepsch *** 22. 5. * Für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments *** Für die Teilnahme an Sitzungen der Versammlung der Westeuropäischen Union Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Lampersbach 25. 5. Lange * 21.5. Lautenschlager 20. 5. Lemmrich *** 22. 5. Lenders 20. 5. Lenzer *** 22. 5. Dr. Lohmar 22. 6. Lücker * 26. 5. Memmel * 22. 5. Dr. Mende *** 21.5. Müller (Mülheim) * 21. 5. Dr. Müller (München) *** 21. 5. Mursch (Soltau-Harburg) * 22. 5. Frau Dr. Orth * 21. 5. Pawelczyk *** 22. 5. Pohlmann 20. 5. Richter *** 22. 5. Dr. Riedl (München) 20. 5. Schlaga *** 22. 5. Schmidt (Kempten) *** 22. 5. Frau Schroeder (Detmold) 20. 5. Schröder (Wilhelminenhof) 20. 5. Dr. Schwencke *** 22. 5. Seefeld * 21. 5. Dr. Slotta 21. 5. Dr. Freiher Spies von Büllesheim 24. 5. Springorum * 21. 5. Dr. Starke (Franken) 23. 5. Vogel (Ennepetal) 22. 5. Dr. Vohrer *** 21. 5. Walkhoff * 22. 5. Frau Dr. Walz * 22. 5. Frau Dr. Wex 20. 5. Wurbs 20. 5. Zeyer 8. 6.
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    Rede von Dr. Rainer Barzel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Lieber Herr Kollege Ehrenberg, ich kann Ihnen die Frage gern beantworten, weil man damals noch etwas netter miteinander umging. Bevor der Bundeskanzler Brandt sich entschloß aufzuwerten, bat er mich ins Palais Schaumburg, unvorbereitet, um welche Frage es ging. Da saß der Kollege Schiller noch dabei. Er sagte mir, in einer halben Stunde werde das Kabinett zusammentreten, er werde um folgenden Prozentsatz aufwerten und fragte, was ich wohl dazu meine. Ich habe ihm gesagt: Sie haben sich den Wählern gegenüber festgelegt. Wenn Sie dies schon aus dem Handgelenk tun, kann ich nur für mich etwas sagen; und da muß ich Ihnen sagen: wenn Sie das nicht begleiten von einem binnenwirtschaftlichen, wirksamen innenpolitischen Stabilitätsprogramm, wird das Ganze nichts nutzen. Dies war der erste Satz des Oppositionsführers, der leider recht gehabt hat, meine Damen und meine Herren.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

    Ich möchte mich aber noch in ein paar Sätzen mit dem selbstgeflochtenen Lorbeerkranz des Herrn Bundeskanzlers beschäftigen, der sich nun rühmt der 7 % Preissteigerungen, nur; verzeihen Sie: nicht rühmt — das war nicht korrekt —, sondern feststellt: „Wir sind Gott sei Dank am Schluß des Geleitzuges", und der 2 % Reallohnsteigerung im vergangenen Jahr anpreist. Herr Bundeskanzler, ich möchte Ihnen empfehlen, zur Kenntnis zu nehmen: Bei allem Vorbehalt gegen Durchschnittszahlen — sie geben doch ein Bild über eine 20jährige Regierungszeit: 1,9 % Preissteigerung im Durchschnitt der Jahre von 1949 bis 1969 bei 5,4 % Reallohnsteigerung in diesen Jahren — das sind Daten, an denen Sie gemessen werden. Ich meine, Herr Bundeskanzler, daß wir hier in der Bundesrepublik Deutschland in der Arbeitswelt doch eine Qualität leisten müssen, um uns auf dem Weltmarkt zu behaupten, und daß die Männer und Frauen, die das leisten, denselben Qualitätsanspruch an ihre Regierung bringen; und da soll man sich nicht mit 7,1 % zufriedengeben, sondern den Anspruch höher stellen.
    Wenn Sie sich hier auch loben, im Grunde den größten gesellschaftspolitischen Fortschritt aller Zeiten gemacht zu haben, dann haben Sie den Durchbruch zur sozialen Marktwirtschaft, den sozialen Wohnungsbau, die soziale Partnerschaft, die dynamische Rente, all die großen Dinge verschlafen. Kurzum, ich möchte Ihnen empfehlen, Herr Bundeskanzler, daß Sie mir erlauben — ich habe Ihnen schon manches Buch schenken dürfen —, Ihnen das Buch von Professor Erhard und Müller-Armack über Soziale Marktwirtschaft zu schenken.

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU.)

    Da ist die Bilanz bis 1972 gezogen. Ich würde empfehlen, daß Sie Ihren Vorgänger im Amt Ludwig Erhard um ein Autogramm bitten, und er ist dann sicher bereit, Ihnen bei der Gelegenheit auch einen guten Rat zu geben.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)

    Noch zur Vermögensbildung zwei Gedanken, weil das auch bei Herrn Mischnick eine große Rolle spielte. Herr Kollege Mischnick, es gibt eine Zeit — sie ist bis 1969 —, da haben wir miteinander beklagt, daß von der sozialdemokratischen Seite dieses Hauses zum Thema Vermögensbildung an Gesetzesinitiativen Null eingegangen sei. Das hat sich dann verändert. Wir haben dann im vergangenen Bundestag den Beteiligungslohn eingebracht. Sie haben



    Dr. Barzel
    ihn abgelehnt, mit allen Folgen für die Eigentumsstruktur in der Bundesrepublik Deutschland. Vergangene Periode haben Sie sich damit delektiert, jeden Tag neue Pläne und Daten zu versprechen. Gemacht haben Sie nichts. Dann haben Sie im Wahlkampf von Vermögensbildung gesprochen. Jetzt haben Sie ein Papier, und da stellt jetzt der Kanzler plötzlich fest — wofür halten Sie uns eigentlich? —, daß eine Bewertungsfrage nicht geklärt sei. Kollege Graf Lambsdorff, es gibt doch ganz andere Gründe als nur diese eine Bewertungsfrage, wegen derer man nun dieses Gesetz nicht vorlegen kann. Und wenn der Kollege Carstens mit Recht von dem 312-Mark- und dem 624-Mark-Gesetz gesprochen hat und dem Kollegen Wehner dies aufgestoßen ist, dann hätte er nur noch hinzufügen können, daß eben vorher seitens der SPD überhaupt nichts war.
    Ich gehe nicht so weit, zu unterstellen, daß dies eine Verbeugung des Kanzlers vor den Jusos ist, die das Ganze ja nicht wollen. Mit denen haben Sie Ärger genug, Herr Bundeskanzler. Ich habe gelesen, was die Juso-Vorsitzende heute gesagt hat. Das ist wieder ein Schuß ins Knie; dafür mein herzliches Beileid und sonst gar nichts.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)

    Sie haben sich bemüht, die Umverteilung des Volkseinkommens hier als einen großen Erfolg darzutun. Aber, Herr Bundeskanzler, ein bißchen solider sollte man im Umgang mit Zahlen doch sein, zumal wenn es sich um Zahlen handelt, die allen Kollegen des Hauses durch den Sozialbericht ohnehin bekannt sind. Die berühmte Vermehrung des Anteils des Einkommens aus unselbständiger Arbeit am Volkseinkommen ist zu unser aller Freude in der der sozialen Marktwirtschaft immanenten Tendenz kontinuierlich weitergegangen. Das fing 1950 an: Einkommen aus unselbständiger Arbeit 58,6 %, Unternehmertätigkeit und Vermögen 41,4 %. 1969 — der politische Einschnitt —: aus Arbeitnehmertätigkeit 65,2 %, aus Unternehmertätigkeit nur noch 34,8 %. Wenn sich die Zahlen jetzt so fortentwickelt haben, wie Sie sagen, Herr Bundeskanzler, dann ist das ein Punkt, wo man nicht mit einem Trick arbeiten darf; diese Umverteilung ist der Sozialen Marktwirtschaft immanent und gehört von Anfang an zu den politischen Punkten unseres Programms. Das ist nicht eine Erfindung der gegenwärtigen Koalition.
    Meine Damen und Herren, ich höre von Ihnen öfter den Ruf nach der Alternative. Ich sitze da ja jetzt ein bißchen weiter bei Ihnen, was mir ein großes Vergnügen macht, natürlich nur gelegentlich, nicht immer, Ihnen wahrscheinlich auch nicht; das kann ich gut verstehen. Auch Herr Mischnick hat eigentlich nach der Alternative gerufen. Ich würde uns alle gern einmal einladen — das ist ein Punkt, den sicher mein Kollege Katzer im Laufe der Debatte deutlicher machen wird —, zu überlegen, warum eigentlich die Bundesregierung z. B. ihren ganzen ideologischen Ballast in Sachen berufliche Bildung über Bord geworfen hat. Da muß es doch eine Alternative zum Thema gegeben haben. Unser Antrag liegt hier vor.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wenn Sie, meine Damen und Herren, uns — und ich füge hinzu, Herr Bundeskanzler: mit Recht — auch nach der wirtschaftspolitischen Alternative fragen, dann ist das natürlich so lange komisch, wie Sie selber in Ihrer Regierungserklärung kein Wort darüber sagen, wie Sie Ihre ökonomischen Ziele zu erreichen die Absicht haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Das ist sicherlich so lange merkwürdig, wie durch diese Rede, die Sie gehalten haben, die Inflation natürlich weiter verniedlicht wird. Zumindest erkennt man keinen Stopp und keinen Beginn des nötigen Entwöhnungsprozesses, der doch am Anfang eines Stabilitätskurses stehen müßte.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir sehen kein Stück, daß Sie aufhören, zugleich expansive Haushaltspolitik und restriktive Bundesbankpolitik zu machen.
    Sie sollten das doch weitgehende Angebot des Kollegen Carstens überdenken. Er hat hier etwas ganz Konkretes für die Opposition gesagt. Aber das heißt: Zuerst eine solide Bestandsaufnahme und eine wirkliche Zwischenbilanz.
    Ich sehe Sie hier, Herr Kollege Möller. Wir hatten schon einmal einen sehr führenden Politiker — Sie wissen, wen ich meine —, der nicht gleich verstand, was die Opposition in diesem Hause gesagt hatte. Dann sind Sie zu dem führenden Mann gegangen. Vielleicht machen Sie einen solchen Weg über Nacht, damit man hier wirklich ernsthaft begreift, was der Kollege Carstens gesagt hat. An dieser Opposition scheitert es nicht, wenn hier ein konstruktives, aber solides, auf Fakten gegründetes, ernsthaftes Gespräch über die Wiederherstellung der Stabilität herbeigeführt werden soll, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Ich möchte noch eine Frage aus dem rechtspolitischen Bereich aufgreifen, weil ich mir dies freilich vorgenommen hatte heute zu tun. Der Herr Bundeskanzler hat mit Recht ein Wort aufgenommen, das wir früher als erste von dieser Stelle aus in die Debatte geworfen haben, das Wort vom inneren Frieden. Ich möchte dieses Wort mit dem Blick auf die Diskussion und die laufende Gesetzgebungsarbeit bei der Reform des § 218 des Strafgesetzbuchs in Erinnerung rufen. Herr Bundeskanzler, Sie können doch nicht die Augen davor verschließen, daß hier Gewissenskonflikte im Volk sind, nicht nur bei Ärzten und Krankenschwestern, sondern inzwischen auch bei Angestellten und Beamten von Krankenkassen. Dies ist nicht etwas, was man reformieren kann wie den § 87 Abs. 4 Satz 3 Buchstabe soundso der Reichsversicherungsordnung. Dies ist eine fundamentale Frage. Ich möchte an Sie appellieren, hier doch einen Weg zu suchen, wie wir alle miteinander bei dieser Sache aus den Konflikten herauskommen. Es ist doch die Regierung gewesen, der Sie angehört haben. Ich kann nicht glauben, daß Sie in einer solch fundamentalen Frage die Sätze überlesen haben, die in Drucksache VI/3434 aus der vorigen Wahlperiode vom 15. Mai 1972, einer Vorlage der dama-
    Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 101. Sitzung, Bonn, Montag, den 20. Mai 1974 6665
    Dr. Barzel
    Ligen Regierung, zu lesen sind. Da heißt es ich
    zitiere drei Sätze —:
    Die Fristenlösung würde dazu führen, daß das allgemeine Bewußtsein von der Schutzwürdigkeit des ungeborenen Lebens während der ersten drei Schwangerschaftsmonate schwindet. Sie würde der Ansicht Vorschub leisten, daß der Schwangerschaftsabbruch — jedenfalls im Frühstadium der Schwangerschaft — ebenso dem freien Verfügungsrecht der Schwangeren unterliegt wie die Verhütung der Schwangerschaft. Eine solche Auffassung ist mit der Wertordnung der Verfassung unvereinbar.

    (Abg. Dr. Marx: Hört! Hört! kann man da nur sagen!)

    Das sind die Worte der letzten Bundesregierung. Darüber kann man doch nicht mit Opportunismus hinweggehen, auch nicht dann, wenn es so sein sollte, daß hier die Kleineren in der Koalition gesagt haben sollen: Entweder besorgt ihr hier eine Mehrheit, oder es platzt hier etwas. Das kann man doch in diesen letzten Gewissensfragen nicht machen. Herr Bundeskanzler, hier ist Platz für eine Initiative eines neuen Kanzlers.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Ich will es mir jetzt versagen, auf die außenpolitischen Fragen zu sprechen zu kommen, mit zwei Ausnahmen. Der Kollege Wehner hat hier eine Rede gehalten, die an manchen Stellen — nun, ich will sie nicht kritisieren — nicht gleich auf den ersten Blick verständlich war. Man muß sie wahrscheinlich lesen. Vielleicht ist sie eine Änderung. Wir haben hier vor sieben oder acht Wochen durch den Mund des früheren Bundeskanzlers Kiesinger gesagt: Wollen wir nicht wenigstens einmal anfangen, über europapolitische Elemente miteinander zu reden? Das wurde damals kalt abgelehnt. Nun, vielleicht gibt es hier über Europapolitik etwas zu reden, das wollen wir doch sehen! Aber wir würden natürlich auch gern — nicht nur mit den allgemeinen Worten der Regierungserklärung und denen von Herrn Wehner — über das Konkrete in Wien reden: Kommt dort etwa zustande eine Verabredung, an deren Schluß die Sowjetunion ein Mitspracherecht über die Größe der Bundeswehr hätte? Dies wäre doch eine schreckliche Geschichte. Und kommt vielleicht in Genf etwas zustande, was etwas anderes beinhaltet als die Freizügigkeit für Menschen, Informationen und Meinungen — und wenn dies in Stufen geht — als die Basis für reale Entspannungspolitik? Das gehört hier — neben den Punkten, die der Kollege Carstens hier genannt hat — herein.
    Meine Damen und Herren, es war erstaunlich und eigentlich eine Offenbarung, daß sich der Kollege Wehner auf die kritischen Vorhaltungen des Kollegen Carstens zu geistig-politischen Dingen half, indem er Kurt Schumacher zitierte. Nun, nichts dagegen. Aber ich muß hier doch an die Adresse des Herrn Bundeskanzlers noch ein Wort auch aus diesem Zusammenhang sagen.
    Meine Damen und Herren, ich habe — dies ist ein ganz persönliches Wort, Herr Bundeskanzler - gesagt — damit waren nicht alle meine Freunde gleich einverstanden —, als Sie gewählt waren: Ein „respektabler Gegner", eine „Herausforderung", auf die wir uns einstellen müssen. Und ich habe nach Ihrer Regierungsbildung und Ihrer Regierungserklärung ebenso öffentlich gesagt, ich sei „enttäuscht". Ich habe einige der Punkte genannte, deretwegen ich enttäuscht bin. Ich will noch einen — und das ist fast der wichtigste — hinzufügen.
    Ich verstehe die Lage, in der Sie, Herr Bundeskanzler, die Amtsgeschäfte übernommen haben, sehr gut. Aber wenn Sie dann eine Regierungserklärung abgeben und sich das ganze Programm im Grunde auf einen Teil reduziert, dann möchte ich Ihnen noch sagen: In unserem demokratischen Gemeinwesen muß nicht nur die Kasse stimmen, so wichtig die Kasse ist!
    Sie reden vom Machbaren und vom Möglichen, ohne zu sagen, möglich wozu und machbar warum. Sie reden nirgendwo von einer Perspektive, von einer Konzeption, vom Sinngehalt von Einschränkungen und Opfern — zu all dem — warum Verzicht, wofür — kommt kein Wort. Kein kulturrelevantes Wort kommt in Ihrer Regierungserklärung über Ihre Lippen. Und der Stabilitätsbegriff schrumpft auf den rein materiellen Stabilitätsbegriff zusammen. Herr Bundeskanzler, wenn Ihr Vorgänger das nach der anderen Seite übertrieben hat, müssen Sie doch nun nicht in das andere Extrem fallen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Und ich muß Ihnen sagen: Ich hatte eigentlich — und dies ist eben das persönliche Wort — vom ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, der wie ich zur Kriegsgeneration gehört, etwas mehr erwartet: ein Wort zu den geistigen Spannungen dieser Zeit, zu unseren Erfahrungen, zu dem, was wir jungen Menschen hier und in der DDR über den Vorrang von Menschlichkeit vor jeder Politik zu sagen haben. Denn wir haben doch miteinander gelernt, daß einer der Punkte, an denen es mit der ersten Republik nicht so gut ist, die leider berechtigte Mahnung von Max Scheler aus dem Jahre 1925 war, wo er vom „konstitutiven Gegensatz von Macht und Geist" sprach. Herr Bundeskanzler, ich glaube, hier müssen Sie noch etwas nachholen.
    Ich komme darauf, weil ich schon von Ihrem Zitat in der „Zeit" sprach. „Die Zeit" zitiert Sie, Sie haben dort nicht mitgearbeitet. Aber Sie haben dort von „Gift" gesprochen, wenn man Unsicherheit und Zweifel säe, Sie haben nach der „Zeit" vom 17. Mai in dieser Studie, die dort abgedruckt wird, folgendes gesagt — ich zitiere —:
    Die Ölkrise war Beginn des ersten Aktes. ... Der zweite Akt könnte von weitgehendem Rückfall in handelspolitischen Bilateralismus ..., in Autarkieversuche, von Stagnation ... gekennzeichnet sein. Bei einem solchen Verlauf würden in einem dritten Akt die parlamentarischen Strukturen in der Industriegesellschaft zerbrechen.
    Mit Verlaub, dieser letzte Satz stört mich. Ich glaube
    — und ich meine, Sie auch, Herr Bundeskanzler —



    Dr. Barzel
    an die Überlegenheit dieses Systems in jedweder Not, in jedweder materiellen Bedrängnis. Ich glaube daran, daß hier nur kämpferische Demokraten, die davon überzeugt sind, solche Situationen meistern können und nicht Zweifel an der Überlegenheit dieser Ordnung, die der Kanzler selbst auch noch äußert, meine Damen und meine Herren.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Im französischen Wahlkampf, dessen Zeugen wir waren, spielte, wie man uns sagt, das Argument eine ausschlaggebende Rolle, ein politischer Führer dürfe nicht nur verwalten, er müsse auch Anregungen geben und Anlehnung ermöglichen; er müsse auch „inspirateur" und „orienteur" sein. Mit Ihrem Einstand, Herr Bundeskanzler, so wie er bisher vorliegt, haben Sie, so fürchte ich, die Führung abgegeben. Und auf diese Weise werden Sie die politische Führung verlieren, denn die behält nur, wer die geistige Führung behält.

    (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU.)



Rede von Kai-Uwe von Hassel
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat der Abgeordnete Friedrich.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Bruno Friedrich


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muß gestehen, daß ich mit einer neugierigen Erwartung in diese Debatte gegangen bin, denn ein Regierungswechsel inmitten einer Periode gibt selbstverständlich einer Opposition eine gewisse Chance. Die Frage war also, wie die Union diese Chance nützen würde. Soweit war es auch ganz konsequent, daß Herr Strauß in den ersten Stunden des Rücktritts des Kanzlers sofortige Neuwahlen gefordert hat. Ich erinnere mich daran, wie er vor einigen Wochen sagte: „Ich werde ein neues Kabinett innerhalb von acht Stunden bilden." Heute sind 14 Tage vorbei, und wir wissen immer noch nicht, wie das Kabinett der Union und wie ihr Kanzler aussehen würden.

    (Lachen bei der CDU/CSU.)

    — Ja, Sie sind jetzt über ein Jahr in der Opposition, aber Sie sind nicht fähig, sich zu einigen, weil Sie sich nicht einig sind, wen man als nächsten ins Feuer schicken kann, damit man ihn stürzen kann. Dies ist doch die Frage.

    (Abg. Gerster [Mainz] : Keine Sorge! — Abg. Graf Stauffenberg: Ihr wißt doch selbst nicht, ob jetzt der Brandt oder der Schmidt oder der Wehner in diesem neuen Triumvirat regiert!)

    Sie haben weder eine Antwort gegeben, wer in diesem Land die Union als Regierungschef repräsentieren soll, noch haben Sie eine politische Alternative gegeben. So wie sich die Opposition heute hier repräsentiert hat: so wie Herr Barzel keine Alternative zu Brandt/Scheel war, so waren heute Carstens und Barzel keine Alternative zu Schmidt und zu Genscher.

    (Beifall bei der SPD.)

    Ich habe mich gefragt, was eigentlich damit signalisiert werden soll, daß heute Herr Barzel ins Gefecht
    geschickt wird. Er vermißt die geistige Auseinandersetzung, wobei ich allerdings nichts davon vernommen habe — insoweit ist Ihnen Herr Biedenkopf da in der Artikulierung dessen einiges voraus, Herr Barzel —, was die Union unter Konservatismus versteht. Bei Ihnen hört man immer nur noch „Rettet die Freiheit", während inzwischen nicht nur die Freiheit gesichert, sondern ein größeres Stück Sozialstaatlichkeit in diesem Staate erreicht worden ist.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Eines muß ich für die Sozialdemokratische Partei mit aller Entschiedenheit zurückweisen. In diesem Lande dürfen demokratische Marxisten — wegen der Geschichte Deutschlands in den letzten hundert Jahren — nicht diffamiert werden. Denn es waren demokratische Marxisten, die diesem Land 1918 als Sozialdemokraten die erste Demokratie gegeben haben. Es waren demokratische Marxisten, die in diesem Land 1933 diese erste Demokratie als einzige verteidigt haben, als Sie sie aufgegeben hatten.

    (Beifall bei der SPD.)

    Auch ein Kurt Schumacher wird von Ihnen diffamiert, wenn Sie das Wort Marxismus in dem Jargon chilenischer Juntagenerale aussprechen. Das muß ich hinzufügen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Es wäre nicht gut um dieses Land bestellt, wenn wir nicht zur Kenntnis nähmen, daß es in der ganzen westlichen Welt Parteien gibt, die sich als demokratische Sozialisten auch zum Marxismus bekennen. Und ich füge hinzu: Die deutsche Sozialdemokratie hat ihren eigenen Weg gewählt. Sie werden uns im 15. Jahr der Gültigkeit des Godesberger Programms nicht davon abbringen können, daß in der sozialdemokratischen Partei alle mitwirken können, ob sie nun von der katholischen Soziallehre, ob sie von der evangelischen Sozialethik her oder ob sie als kritische Rationalisten oder ob sie als demokratische Marxisten ihr politisches Handeln begründen. Das ist Grundsatz.

    (Beifall bei der SPD.)

    Es ist gut für dieses Land, daß die Zerrissenheit in Weltanschauungskämpfen durch das Godesberger Programm beendet worden ist.

    (Abg. Franke [Osnabrück] : Da ist sie erst begründet worden!)

    Ich habe, als Herr Barzel zu reden begann, mir einen Zeitungsausschnitt holen lassen, weil Herr Barzel ja eine Alternative sichtbar machen sollte. Hier geht es doch vor allem um die Frage: Wie würde eine Union in diesem Lande die Außenpolitik und die Deutschlandpolitik bestimmen? Wenn ich zitieren darf vom 14. Mai 1973 - auf ein Jahr und eine Woche genau zurück —, wo es heißt:
    Barzel macht sich Sorgen, daß die CDU/CSU „rechthaberisch nur immer nein sagt".
    Sie haben recht, Herr Kollege Barzel.
    Nach seinen jüngsten Besuchen im Ausland
    sehe er die Gefahr einer außenpolitischen Isolierung der Partei. Er fürchtet, daß die CDU/



    Friedrich
    CSU auf den Oppositionsbänken kleben bleibe, wenn sie sich nicht als Alternative für die FDP empfiehlt.
    Hier kann ich nur ganz schlicht anfügen: Die Schnelligkeit der Regierungsbildung hat gezeigt, daß Sie in Ihrem Zustand keine Alternative sind.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.) Weiter heißt es:

    Gefragt, was die wichtigste Aufgabe der Opposition sei, meint er: „Das ist die gesellschaftspolitische Aussage für die Zukunft. Es interessiert keinen mehr zu hören,
    — „es interessiert keinen mehr zu hören" ; — Rainer Barzel —„daß die soziale Marktwirtschaft das Beste war. Die Leute wollen wissen, was sie für die Zukunft bedeutet, wie es mit der Vermögensbildung, der Mitbestimmung und dem Bodenrecht werden soll."

    (Abg. Dr. Barzel: Sehr gut!)

    — Sie haben ja bald Gelegenheit, bei der Mitbestimmung und beim Bodenrecht mit uns die Hände zu heben. Dann können Sie beweisen, wie reformfähig Sie sind.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ich darf auch noch, Herr Präsident — ich will nicht zu lange zitieren, aber mein Herr Vorredner hat es auch getan —, den Artikel aus der Zeitung, die „immer im Bilde ist" zitieren; er begann: „Die Krise schlaucht ihren Mann, Rainer Barzel. Seit der 48jährige den Vorsitz der CDU/CSU-Bundestagsfraktion niederlegte, hat er einige Pfunde verloren. Sein Gesicht ist kantiger geworden. Die Hose neigt zum Rutschen." Ich nehme an, daß die Hose inzwischen paßt, Herr Barzel, ich weiß nicht, ob Sie heute der neue oder der alte sind. Ich würde sagen, Sie sind der alte, es ist sogar d'as alte 01.

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Dir. Marx: Du lieber Gott! — Abg. Gerster [Mainz] : Ist das Ihr Niveau?)

    Wenn ich einmal prüfe, warum Sie vor einem Jahr abgetreten sind, Herr Kollege Barzel, dann sind Sie als Fraktionsvorsitzender gescheitert; und es gab von Ihrer Seite heute keinen einzigen neuen politischen Ansatz. Als Sie versuchten, aus den alten Geleisen der Union in der Außen- und Deutschlandpolitik auszubrechen, mußten Sie als Fraktionsvorsitzender gehen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Insoweit ist Ihre heutige Rede eine Selbsttäuschung des früheren CDU- und Fraktionsvorsitzenden Dr. Rainer Barzel.

    (Abg. Haase [Kassel] : Herr Friedrich, erzählen Sie mal die Geschichte von Willy Brandt!)

    — Das haben Sie wiederholt getan.

    (Abg. Haase [Kassel] : Wo ist der eigentlich?)

    — Mein Gott, Sie sind ja furchtbar erregt! Herr Abgeordneter Karnickel, ich höre Ihnen ja gerne zu, wenn Sie so viele Zwischenrufe bringen.
    Ich möchte einen Versuch zitieren,

    (Abg. Dr. Jenninger: Wie viele Zeitungen leisen Sie noch vor?)

    den der frühere Fraktionsvorsitzende der Union, Barzel, unternommen hat, und von dem ich wissen möchte, was heute hier gesagt würde, hätte Egon Bahr diesen Versuch unternommen. Ich zitiere aus dem Europa-Archiv:
    Von der Öffentlichkeit stark beachtet wurde eine Rede, die der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Rainer Barzel, in Washington hielt. Er befaßte sich besonders eingehend mit der Frage, wie das Sicherheitsbedürfnis der Sowjetunion

    (Dr. Barzel [CDU/CSU] : Sehr wahr!)

    bei einer Wiedervereinigung betrieben werden könnte, und kam zu dem Schluß,

    (Zuruf des Abg. Dr. Marx)

    — Sie können es nicht hören, Herr Marx, ich verstehe, daß Sie das nicht hören können —daß auf dem Boden eines wiedervereinigten Deutschland im Rahmen eines europäischen Sicherheitssystems Platz auch für die Truppen der Sowjetunion bleiben könne.

    (Abg. Dr. Barzel: Haben Sie was dagegen?) Dr. Rainer Barzel 1966 in Washington!


    (Hört! Hört! bei der SPD. — Beifall des Abg. Dr. Barzel. — Abg. Dr. Barzel: Sehr gute Rede!)

    Ich hoffe, Sie geben auch dem Kollegen Egon Bahr das Recht, in Fragen der Deutschlandpolitik Überlegungen anzustellen. Wir haben Sie wegen dieser Rede hier nicht diffamiert.

    (Abg. Dr. Barzel: Das ist nicht wahr!)

    Ich stelle nur fest, daß Sie dieser Fairneß nicht fähig sind.

    (Abg. Dr. Marx: Herr Friedrich hat früher ein Plakat getragen, auf dem stand: Willy Brandt muß Kanzler bleiben!)

    In Wirklichkeit hat die Union heute hier eine große Chance vertan. Sie können sich mit dieser Polemik gegen Egon Bahr, gegen Herbert Wehner nicht auf die Dauer darüber hinwegtäuschen, daß die Bundesrepublik Deutschland in Europa nicht in einem ungeregelten Verhältnis mit ihren Nachbarn leben kann. Sie können sich außerdem nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht eine Außenpolitik betreiben kann, die im Gegensatz zur Ostpolitik ihrer Verbündeten steht.

    (Abg. Dr. Kiesinger: Es kommt darauf an, wie diese Regelung aussieht!)

    Das ist eigentlich die Kernfrage der Auseinandersetzung.

    (Beifall des Abg. Wehner.)




    Friedrich
    Hier hat die Union — dies hätte ich eigentlich vom Fraktionsvorsitzenden Carstens erwartet — die Chance eines 30. Juni 1960 vertan. Welche Chance wäre dies gewesen, wenn Herr Carstens hierher getreten wäre und gesagt hätte: „Die Union hatte eine andere Position. Aber aus Verantwortung für das Interesse des Ganzen, aus Verantwortung für die Bundesrepublik Deutschland müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß die Regierung vor uns im Einverständnis mit unseren Verbündeten über eine Neuordnung unserer Außen- und Deutschlandpolitik entschieden hat, und wir als Union sind, weil dieses Land eine gemeinsame Vertretung unserer Interessen braucht, bereit, künftig gemeinsam mit der Regierung die Außen- und Deutschlandpolitik zu tragen." Dies wäre für Sie eine große Stunde gewesen. Sie aber haben diese mögliche Stunde schmählich vertan.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)