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ID0710101600

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Deutscher Bundestag 101. Sitzung Bonn, Montag, den 20. Mai 1974 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag des Abg. Dr. Götz 6625 A Bestellung des Abg. Dr. Häfele zum Vertreter des Abg. Windelen im Vermittlungsausschuß an Stelle des ausscheidenden Abg. Dr. Heck . . . . . . . . . 6625 A Überweisung von Vorlagen an Ausschüsse 6625 B Amtliche Mitteilungen 6625 C Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung Dr. Carstens (Fehmarn) (CDU/CSU) 6627 A Wehner (SPD) 6637 A Mischnick (FDP) 6647 A Schmidt, Bundeskanzler . . . . 6655 C Dr. Barzel (CDU/CSU) . . . . . 6658 C Friedrich (SPD) 6666 A Dr. Graf Lambsdorff (FDP) . . . 6669 D Dr. Althammer (CDU/CSU) (Bemerkung nach § 35 GO) . . 6679 C Nächste Sitzung 6679 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . 6681* A Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 101. Sitzung. Bonn, Montag, den 20. Mai 1974 6625 101. Sitzung Bonn, den 20. Mai 1974 Stenographischer Bericht Beginn: 15.00 Uhr
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    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Dr. Abelein 20. 5. Dr. Aigner * 22. 5. Dr. Artzinger * 22. 5. Batz 22. 5. Dr. Becher (Pullach) 22. 5. Blumenfeld 21. 5. Brandt 6. 6. Damm 20. 5. Erhard (Bad Schwalbach) 20. 5. Dr. Evers 20. 5. Ferrang 22. 5. Flämig * 21.5. Dr. Freiwald 22. 5. Gerlach (Emsland) * 21. 5. Gewandt 19. 6. Dr. Gölter *** 22. 5. Dr. Götz 20. 5. Dr. Gradl 10. 6. Groß 20. 5. Dr. Haenschke 31. 5. Handlos 22. 5. Jäger (Wangen) 1. 6. Dr. Jahn (Braunschweig) * 22. 5. Kahn-Ackermann *** 21. 5. Kiep 20. 5. Dr. Klepsch *** 22. 5. * Für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments *** Für die Teilnahme an Sitzungen der Versammlung der Westeuropäischen Union Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Lampersbach 25. 5. Lange * 21.5. Lautenschlager 20. 5. Lemmrich *** 22. 5. Lenders 20. 5. Lenzer *** 22. 5. Dr. Lohmar 22. 6. Lücker * 26. 5. Memmel * 22. 5. Dr. Mende *** 21.5. Müller (Mülheim) * 21. 5. Dr. Müller (München) *** 21. 5. Mursch (Soltau-Harburg) * 22. 5. Frau Dr. Orth * 21. 5. Pawelczyk *** 22. 5. Pohlmann 20. 5. Richter *** 22. 5. Dr. Riedl (München) 20. 5. Schlaga *** 22. 5. Schmidt (Kempten) *** 22. 5. Frau Schroeder (Detmold) 20. 5. Schröder (Wilhelminenhof) 20. 5. Dr. Schwencke *** 22. 5. Seefeld * 21. 5. Dr. Slotta 21. 5. Dr. Freiher Spies von Büllesheim 24. 5. Springorum * 21. 5. Dr. Starke (Franken) 23. 5. Vogel (Ennepetal) 22. 5. Dr. Vohrer *** 21. 5. Walkhoff * 22. 5. Frau Dr. Walz * 22. 5. Frau Dr. Wex 20. 5. Wurbs 20. 5. Zeyer 8. 6.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Rainer Barzel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Gerne, Graf Lambsdorff!


Rede von Dr. Graf Otto Lambsdorff
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr Kollege! Nachdem Sie eben einen Drehbuchautor für einen Kanzlersturz genannt haben: Könnten Sie uns auch den Drehbuchautor des. Kanzlersturzes 1966 nennen?

(Beifall bei den Regierungsparteien. Lachen bei der CDU/CSU. Zurufe von den Regierungsparteien: Barzel! Barzel!)


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Rainer Barzel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Ich kann Ihnen gern einen nennen, Herr Kollege Lambsdorff! Sie können sich natürlich vorstellen, Herr Kollege Lambsdorff, daß es mich geradezu delektiert, eine solche Frage zu beantworten! Der Kollege Scheel sitzt jetzt nicht hier. Er kam, nachdem seine Kabinettskollegen in der Regierung Erhard sich bereitgefunden hatten und der Kollege Bucher, damals Minister, vor dem Fernsehen diese Bereitschaft der freidemokratischen Minister erklärt hatte, die Steuern zum Haushaltsausgleich mit uns zu erhöhen, des nachts aus Paris und sagte: Freunde, wir müssen ganz etwas anderes machen.

    (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)

    Dann kam der Rückzug der Minister der FDP. Dann haben wir Beschlüsse gefaßt. Wenn ich einen Fehler gemacht habe — ich räume dies ein —: Ich habe einen Beschluß mit einer sehr vernünftigen Formulierung auch öffentlich vertreten, der ein Beschluß unserer Fraktion war. Ich habe, meine Damen und Herren, nicht geredet, wie jetzt der Kollege Wehner, ich habe dann hingenommen, als Sie aus der Koalition austraten, daß der Kollege von Kühlmann-Stumm, jetzt unser Kollege — lesen Sie es nach, z. B. in der „Rheinischen Post" vom 29. Oktober 1966 —, erklärte: „Mit dem Bundeskanzler Erhard können wir keine Regierung mehr bilden." Dann haben wir eine Mehrheit gesucht. Als dann meine Freunde beschlossen hatten, einen anderen Weg zu gehen, war ich Manns genug, dies zuzugeben und nicht gegen politische Gegner, Herr Kollege Wehner, wie Sie das jetzt machen, mit Brunnenvergiftung eine Dolchstoßlegende aufzubauen.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner: Sehr gut! — Abg. Dr. Graf Lambsdorff meldet sich zu einer weiteren Zwischenfrage.)

    — Ich wollte, Graf Lambsdorff, mit Ihrer Erlaubnis — —

    (Zurufe von der CDU/CSU. — Glocke des Präsidenten. — Abg. Dr. Marx: Graf Lambsdorff, noch eine Frage!)

    — Meine Damen und Herren! Lassen wir es mit dieser Ablenkung sein Bewenden haben!

    (Zuruf von der SPD: Herr „Oppositionsführer" !)

    Ich wollte mich jetzt gern dem Herrn Bundeskanzler zuwenden: Herr Bundeskanzler, ich war bei der Deutschlandpolitik. Ich meine, Sie sollten mir persönlich erlauben zu sagen: das war ein weiter Weg von unserer gemeinsamen Unterschrift unter den Antrag vom 26. September 1968 mit dem Beschwören des Ziels der Wiedervereinigung nach dem Modell des Deutschland-Vertrages und mit der Ablehnung jedweder, auch staatsrechtlicher Anerkennung des anderen Teils Deutschlands. Das war ein weiter Weg, Herr Bundeskanzler, von dieser Unterschrift bis zu dem Nichts zu dieser Frage in Ihrer Regierungserklärung jetzt — und ein weiter Weg von der Entschließung vom 17. Mai von 1972 bis zu diesem Punkt heute.
    Ich möchte nun ein paar Worte zu dem sagen, was der Herr Bundeskanzler eben gesagt hat, das war eine aufschlußreiche Rede. Zunächst hat er dar-



    Dr. Barzel
    getan, man sei schon wieder „weg von der Wand". An welcher Wand stand denn da eigentlich wer?

    (Beifall und Heiterkeit bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Marx: Wer?)

    Dies ist doch ein Eingeständnis. Sie haben gesagt, wir hätten auf eine „lang dauernde Abnutzungskrise" gehofft, die nicht stattfinde. Also gab es doch, Herr Bundeskanzler, irgendwo eine Abnutzungskrise, die der Herr Wehner zuerst offengelegt hat.

    (Abg. Dr. Ehrenberg: In Ihrer Hoffnung!)

    Meine Damen und meine Herren, erlauben Sie mir zu der Frage des Vertrauensmännergremiums einen kleinen Hinweis: Der jetzige Bundeskanzler war zur Zeit der Großen Koalition mein Kollege als Fraktionsvorsitzender, und wir hörten aus der Presse und dann im Vertrauensmännergremium — keine Sorge, ich werde das Geheime hier nicht ausbreiten — von einem Spionagefall des Admirals Lüdke. Herr Bundeskanzler, wir haben damals miteinander erklärt, daß kein Vorgang in dem Vertrauensmännergremium uns irgendeines der parlamentarischen Rechte nähme, einschließlich dessen der Verwertung von uns anders zugegangenen Informationen, einschließlich der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses.

    (Abg. Dr. Carstens [Fehmarn] : Sehr gut!)

    Wir haben ihn damals sogar als vertraulichen und geheimen Ausschuß eingesetzt. Wir beide, der Kollege Mischnick, der Kollege Stücklen und Herr Hirsch — jetzt in Karlsruhe — haben sich der Mühe
    ) unterzogen, diese Arbeit zu leisten. Da ist ein Bericht herausgekommen mit einem Teil für das Parlament und einem anderen geheimen Teil für den Kanzler. Sie haben ihn noch, wir haben ihn nicht. Das heißt, eine solche Untersuchung ist sehr wohl möglich.
    Ich wollte aus gutem Grunde hieran gern erinnern.
    Meine Damen und meine Herren, erlauben Sie mir, bevor ich auf die innenpolitischen Aussagen des Bundeskanzlers eingehe, noch ein Wort zu dem, was er mit dem Blick auf das Bundesverfassungsgericht gesagt hat.
    Ich bin hier in einer, ja, ich glaube: sehr freimütigen Situation. Ich unterstelle niemandem hier, daß er in dem Augenblick, wo er hier redet oder wo er hier zuhört, vielleicht vergißt, was er ohnehin weiß. Es weiß jedermann in diesem Hause, daß ich persönlich in dieser Frage gegen die Anrufung des Gerichts war. Aber, meine Damen und Herren, dann zu sagen, wenn andere von dem Recht Gebrauch machen, dorthin zu gehen, dies sei „schädlich" und das Urteil sei schädlich, — das muß doch vom Tisch, bevor hier am Freitag Festreden über das Grundgesetz gehalten werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)

    Ich möchte gerne auf den Versuch des Bundeskanzlers zurückkommen, meinem Kollegen Carstens — wie soll ich sagen — einen leichtfertigen Umgang mit Informationen — so war es wohl — zu unterstellen.

    (Zurufe von der SPD.)

    Meine Damen und Herren, das, was wir eben erlebt haben, halte ich nur deshalb fest, weil wir uns wahrscheinlich für die Zukunft darauf werden einrichten müssen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

    Herr Kollege Carstens bezog sich auf Pressemeldungen. Ich habe hier einen ganzen Stoß, alle mit derselben Überschrift. Was immer Sie nehmen: „Frankfurter", „Süddeutsche", alle sagen das, was der Kollege Carstens dem Kollegen Apel vorgeworfen hat. Dann kommt der Bundeskanzler und sagt: Aber wie können Sie das machen?! Da gab es doch eine Fragestunde! Ich habe inzwischen, dank liebenswürdiger Hilfe, das Protokoll vom 25. April 1974 bekommen. Da wird konkret nach dieser Meldung gefragt, und in der Frage heißt es, ob das etwa unzutreffend sei. Die Antwort der Bundesregierung, meine Damen und Herren, nachzulesen auf Seite 6460 B, war nicht: Das war unrichtig, sondern ein Drumherumreden;

    (Abg. Dr. Marx: Wie oft!)

    das sei wirklich gemeint, und das wirklich Gemeinte sei auch in Paris bekannt. Das war die Antwort. Meine Damen und Herren, dies ist kein Dementi. Ich kann uns allen deshalb nur empfehlen, für solche Debatten künftig auch die Akten zur Hand zu haben, damit nicht hier Eindrücke erweckt werden, die sich einfach nicht bewahrheiten lassen, wenn man hier genau hinguckt.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Nun, Herr Bundeskanzler, zu dem, was Sie hier am Freitag unter dem Wort „Zwischenbilanz" vorgelegt haben. Sie haben sich, indem Sie sich zur Kontinuität dieser Politik bekannt haben, natürlich auch bekannt — wie sollte es anders sein — zu der Mitverantwortung, die Sie an dem Erbe haben — „an der Wand stehen" haben Sie das genannt und „Abnutzung" —, das Sie hier übernehmen mußten. Also ist dies zum Teil Ihr eigenes Erbe. Diese Zwischenbilanz aber kann doch wohl kaum mit dem Wort „Eröffnungsbilanz" hier eingebracht werden; das war doch wohl mehr eine Schönfärberei.
    Aber, meine Damen und Herren, was ist das eigentlich für eine Bilanz und für eine Buchhaltung, die nur von der Habenseite spricht und das Soll vollkommen unterschlägt? Bilanz — das ist doch schon das Wort — soll eine ausgewogene Darstellung der Aktiva und der Passiva sein, um dann festzustellen, was unter dem Strich ist. Was ist das eigentlich für eine Art, wohin käme jemand im Privatleben, der die offenbaren Schulden unterschlägt und nicht von diesen spricht? Meine Damen und Herren, dies wäre doch gegen Treu und Glauben.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Aber ich will es politischer sagen: Herr Bundeskanzler, wir haben doch innerhalb der Großen Koalition zu Ostern und zu Pfingsten 1966 jene heiße Zeit gehabt - ich erinnere auch den Herrn Bundeskanzler Kiesinger daran —, in der es sehr schwierig



    Dr. Barzel
    war. Damals gab es noch in allen Parteien Gespräche. Haben sich damals nicht viele von uns vorgenommen, wenigstens einer Forderung junger Menschen immer zu entsprechen, nämlich der nach mehr Transparenz der politischen Vorgänge, um die Unruhe auch durch Transparenz, Aufrichtigkeit und mehr Mut, Fehler auch einzugestehen, aufzufangen?
    Glauben Sie, Herr Bundeskanzler, daß Sie damit einen guten Start machen, daß Sie eine ganze Menge von Tatsachen verschweigen? Warum verschweigen Sie die Tatsache, daß die Zahl der Arbeitslosen im April dieses Jahres mehr als doppelt so hoch gewesen ist wie vor einem Jahr? Daß die Zahl der Kurzarbeiter achtmal höher ist als vor Jahresfrist? Daß die Sorge um den Arbeitsplatz ständig steigt und daß unter dem Kostendruck der Inflation zahlreiche Selbständige auf der Strecke bleiben? Das sind doch, Herr Bundeskanzler, Fakten und kein „Oppositionsgerede".
    Warum verschweigen Sie, daß nach dem jüngsten Bericht der Deutschen Bundesbank — das ist doch keine finstere Oppositionsorganisation; sie wird doch von Ihrem guten Freund, dem auch von uns verehrten Präsidenten Klasen, geleitet — die Sparer in der Bundesrepublik Deutschland — Herr Kollege Carstens sprach davon — allein im Jahre 1973 40 Milliarden Deutsche Mark durch Inflation verloren haben? In einem Jahr, in dem Sie der zuständige Minister für diese Fragen waren?

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Meine Damen und meine Herren, warum wird hier verschwiegen — ich zitiere diesen Bericht der Bundesbank —, daß „die gesamten Ausgaben der Gebietskörperschaften 1973 um 13 % und damit stärker als das nominale Sozialprodukt gestiegen sind"; daß — immer noch die Bundesbank — gleichwohl „der Anteil der öffentlichen Investitionsausgaben am Sozialprodukt weiter zurückgegangen ist?"
    Obgleich die volkswirtschaftliche Steuerquote 1973 mit 24,3 % einen neuen Höchststand erreichte,
    — so immer noch die Bundesbank —
    ist der Anteil der staatlichen Investitionen am Sozialprodukt gesunken. Der überproportionale Zuwachs an Steuern wurde dazu benötigt, um den überproportionalen Zuwachs an konsumtiven Staatsaufgaben zu finanzieren.
    Der verantwortliche Minister für diese objektiv unverantwortliche Politik, die Deutschland um Investitionen gebracht hat, die wir für ein modernes Land morgen doch brauchen, und welche heute junge Menschen schädigt, und der für die Bundesbank zuständige Minister — das ist der gegenwärtige Herr Bundeskanzler.
    Die Bundesbank sagt, die Preissituation im Inland habe sich zu Beginn des Jahres 1974 merklich verschlechtert; die außenwirtschaftliche Flanke sei weitgehend abgesichert. Sie fügt hinzu:
    Die Beschäftigungsrisiken sind weitgehend die
    direkte oder die indirekte Folge von Verzerrungen und strukturellen Problemen, die der Inflationierung zuzuschreiben sind.
    Herr Bundeskanzler, was ist das für eine Bilanz, die an diesen amtlichen Erklärungen der Deutschen Bundesbank vorbeigeht? Diese amtlichen Erklärungen besagen doch nichts anderes, als daß diese Bundesrepublik Deutschland über ihre Verhältnisse lebt und daß der größte Teil der Inflation hier „hausgemacht" ist, weil wir mehr verbrauchen, als wir uns leisten können, — vor allen Dingen dann leisten können, wenn wir für die Zukunft ausreichende Vorsorge treffen, d. h. Investitionen vornehmen wollen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Ich hätte diese Passage hier natürlich nicht, auf die Bundesbank abgestellt, gebracht; ich bringe sie deshalb, weil der Bundeskanzler dies ja alles selber weiß, denn er sagt in seiner Regierungserklärung — ich zitiere —:
    Ohne Investitionen kein Wachstum; ohne Investitionen keine Arbeitsplatzsicherheit, keine höheren Löhne und auch kein sozialer Fortschritt.
    Soweit der Kanzler. So reden Sie nun. Aber als Finanzminister haben Sie doch die Voraussetzung für das alles, nämlich die Stabilität, als ein „Modewort" abgetan; Herr Carstens hat daran erinnert. Herr Bundeskanzler, Sie haben diese Entwicklung unterlassener Investitionen zu verantworten.

    (Abg. Haase [Kassel] : So ist es!)

    Meine Damen und Herren, wir erinnern uns doch alle noch an den Satz: Lieber um 5 % höhere Preise als 5 % Arbeitslose. Mit dieser bösen Aussage ist der letzte Wahlkampf bestritten worden. Dieser Satz — Herr Kollege Ehrenberg, Sie werden mir das zugeben — ist doch von einer Logik wie etwa die Sätze „Nachts ist es kälter als draußen" oder „Im Regen ist es weiter als bis Bonn". Von ähnlichen Widersprüchen ist doch auch jetzt Ihre Bilanz wieder voll.

    (Beifall und Heiterkeit bei der CDU/CSU.)

    Sie reden davon, wir suchten dem Volk hier etwas einzureden, was gar nicht vorhanden sei.

    (Abg. Mattick: Sehr gut!)

    — Herr Mattick, Sie rufen „Sehr gut!". Nehmen Sie doch einmal den Bericht der Arbeitsgemeinschaft der wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute vom 4. April zur Hand. Herr Kollege Carstens hat Ihnen noch den harmloseren Teil daraus vorgelesen. Ich nehme an, Sie haben den Bericht ganz gelesen. Ich empfehle Ihnen, auf Seite 36 — meine Redezeit reicht nicht aus, um hier näher darauf einzugehen — die vorzüglichen Ausführungen der Professoren und ihrer Mitarbeiter zum Thema des Einflusses der gestiegenen Rohstoffpreise auf die Lebenshaltungskosten nachzulesen. Der Herr Bundeskanzler hat dies in einer Weise dargestellt, wie ich sie vorher zu skizzieren versuchte.
    Ich möchte dartun, daß ich dem Kanzler zustimme, wenn er schreibt — übrigens, das, was wir in der „Zeit" lesen konnten, war sicherlich sehr viel



    Dr. Barzel
    konkreter, sehr viel subtiler und auch härter und präziser als das, was hier in der Regierungserklärung gesagt wurde; aber vielleicht kommt hier noch mehr in der Debatte; das war ja immer so —: „Unsicherheit ist Gift." — Ich glaube, dem stimmen wir alle zu. Nur, Herr Bundeskanzler: Unaufrichtigkeit ist dann Müll. Auf diesen Müll können Sie nicht einen soliden „neuen Anfang" setzen. Die Bilanz, die Sie vorlegen, ist entweder eine Summe von Ausreden oder — es tut mir leid, dies sagen zu müssen — eine Täuschung. Dies muß gesagt werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Meine Damen und Herren, wenn Unsicherheit oder — ein anderes Wort von Ihnen, Herr Bundeskanzler — eine „Angstlücke" entstanden ist: Wer hat dies eigentlich produziert? Wer regiert eigentlich seit beinahe fünf Jahren in diesem Lande? Doch diese Regierung, deren Finanzminister jetzt Bundeskanzler geworden ist! Wenn „Angstlücke" und „Unsicherheit" entstanden sind, dann — ich hätte beinahe gesagt: greifen Sie sich an Ihre Nase; aber das wäre kein ganz guter Ausdruck — nehmen Sie den Vorwurf an Ihre Adresse, und wälzen Sie es nicht auf die Opposition ab.
    Wir leugnen gar nicht, daß so eine Regierung auf der Habenseite natürlich auch die Verabschiedung von ein paar Gesetzen — darunter auch ein paar guten Gesetzen, denen wir dann zugestimmt haben — zu verbuchen hat. Man muß dann aber auch von der Sollseite sprechen. Wir halten fest, daß Reformen im Strudel der Inflation untergegangen sind. Wir könnten jetzt, wenn wir, wie mein Kollege Wehner, heute den Zettelkasten mitgebracht hätten, natürlich endlose Zitate aus früheren Reden von uns allen vorlesen. Wir halten nur fest, im Strudel der Inflation gehen unter: die Vermögensbildung, das umfassende Bodenrecht, die berufliche Bildung, der Numerus clausus. Damit ist nicht nur bewiesen, daß man mit Inflation Reformen nicht machen kann. Ich füge hinzu: Auch wenn Sie solche Reformen nicht durchsetzen können, sie bleiben objektiv notwendig, freilich nicht aus dem Geist des Sozialismus, sondern aus dem der sozialen Gerechtigkeit.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Es ist doch nicht so, als hätten wir — Sie und wir und andere — diese Themen erfunden, weil es uns Spaß gemacht hätte. Vielmehr verlangen die Zeit und die Probleme der Bundesrepublik Deutschland hier Antworten; und zu denselben Themen unterschiedliche Antworten zu geben, das war der Sinn des Wettbewerbs um die Mitte, von dem wir hier nach der letzten Bundestagswahl gesprochen haben.
    Aber Sie haben die Reformmarge, die Möglichkeit von Reformen durch eine Politik der Inflation verspielt, von der — das will ich dem Kollegen Apel doch mit auf den Weg geben; vielleicht können Sie, Herr Kollege Vogel, es ihm nachher sagen — Herr Apel ist gerade nicht da —, denn ich habe hier gerade ein vorzügliches Zitat, das ich gern vortragen möchte — Herr Mendès-France im Wahlkampf sagte: „Inflation, das ist eine Subvention für die Reichen und eine Steuer für die Armen."

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Ich möchte noch einmal darauf zurückkommen, daß der Kollege Carstens hier — doch völlig zutreffend — folgendes vorgetragen hat. Er hat die Daten genannt, die besagen, in welcher Situation dieses Koalitions-Bündnis im Jahre 1969 mit seiner Politik begann. Die Daten sind unbestreitbar. Wie jeder, der mit. Zahlen umgeht, müssen Sie, Herr Bundeskanzler, doch davon ausgehen, auf welchem Sockel man beginnt. Sie haben im Jahre 1969 finanzielle und politische Stabilität bei weitgehender Nichtverschuldung der öffentlichen Haushalte und bei Vollbeschäftigung übernommen. Daß Sie sich, der Sie erst vor fünf Jahren ein wirtschaftlich gesundes Unternehmen wie die Bundesrepublik Deutschland übernommen haben, dann des „Erfolges" rühmen zu können glauben, daß Sie am Schluß des internationalen Geleitzuges sind, das, meine Damen und Herren, ist schon ein starkes Stück.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das kann man wohl sagen!)

    Sie sollten doch nicht die Maßstäbe dauernd verschieben. Sie lassen sich auch sonst nicht an Durchschnittszahlen messen, die an dem müdesten Dampfer eines Geleitzuges ausgerichtet sind. Der Maßstab, nach dem ein verantwortlicher demokratischer Politiker hier Rechenschaft zu geben hat, ist das, was er den Wählern gesagt hat, und den Wählern haben Sie etwas anderes versprochen als das, was Sie jetzt zum Maß nehmen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Ich möchte gern daran erinnern, daß ich am 29. Oktober 1969 in der Aussprache über die erste Regierungserklärung eines sozialdemokratischen Bundeskanzlers als Vorsitzender der Fraktion geglaubt habe es für richtig halten zu müssen, einige wenige Sätze über eine Eröffnungsbilanz aus unserer Sicht zu sagen, weil ich mir dachte: darauf wird man zurückkommen müssen, wenn es einmal historische Legenden gibt.

    (Abg. Dr. Mertes [Gerolstein]: Sehr gut!)

    Ich möchte gern, obwohl dies ungefähr acht Sätze sind, Ihre Geduld mit diesem Zitat in Anspruch nehmen; man hätte natürlich gern den früheren Bundeskanzler gefragt, wie er dazu steht, aber ich will dies nicht tun.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Wo ist er denn?)

    — Es spricht alles für oder gegen sich selbst; das brauchen wir, glaube ich, gar nicht zu kommentieren, Herr Kollege.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU. — Zuruf des Abg. Wehner.)

    Nun zum Zitat. Diese Bilanz hieß, Herr Kollege Wehner:
    Der Schutt der Nachkriegsjahre ist weggeräumt. Die Hektik des Wiederaufbaus ist vorbei. Sie treten Ihr Amt an bei Vollbeschäftigung, stabilem Geld und wohlgeordneten Finanzen. Sie



    Dr. Barzel
    finden auf den Gebieten der Bildungspolitik, der Finanz- und Wirtschaftspolitik bessere Kompetenzen und ein gerade geschaffenes modernes Instrumentarium vor. Dazu treten die neuen Möglichkeiten des Arbeitsförderungs- und des Berufsausbildungsgesetzes sowie die anderen Reformwerke der Großen Koalition.
    Außenpolitisch bleibt festzuhalten: Frankreich setzt seine Akzente der Europa-Politik näher zu den unseren. Polen zeigt Gesprächsbereitschaft. Die Sowjetunion denkt, so scheint es, neu nach über Mitteleuropa. Die Verantwortlichen in Ost-Berlin beginnen sich von starren Formeln zu lösen. Das weltpolitische Gespräch der beiden Großmächte wendet sich den Raketen-Problemen zu und nimmt damit zugleich — endlich — auch politische Spannungsursachen als Thema auf. Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland stand kein Bundeskanzler bei seinem Amtsantritt in einer vergleichbaren Situation. Wir werden sehen, Herr Bundeskanzler, wie Sie von diesem soliden Fundament aus „den Nutzen des deutschen Volkes mehren".

    (Zuruf von der CDU/CSU: Alles verspielt!)

    Und jetzt müßte eine neue Rede beginnen, in der hier Punkt für Punkt dargetan würde, was aus dieser Eröffnungsbilanz, die wir damals geben konnten, geworden ist.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Konkurs!)

    Wenn Sie das mit dem Wort des jetzigen Bundeskanzlers „Nun an der Wand" vergleichen, dann ist dies, meine Damen und Herren, noch eine vergleichsweise milde Formulierung.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Ich möchte dies aber nicht tun, weil ich auf einen anderen Punkt noch zu sprechen kommen möchte.