Rede:
ID0702701700

insert_comment

Metadaten
  • sort_by_alphaVokabular
    Vokabeln: 6
    1. Das: 1
    2. Wort: 1
    3. hat: 1
    4. der: 1
    5. Herr: 1
    6. Bundeskanzler.: 1
  • tocInhaltsverzeichnis
    Deutscher Bundestag 27. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 5. April 1973 Inhalt: Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . 1273 A Aussprache über den Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaltsplans für das Haushaltsjahr 1973 (Haushaltsgesetz 1973) (Drucksache 7/250) in Verbindung mit Beratung des Finanzplans des Bundes 1972 bis 1976 (Drucksache 7/370), mit Entwurf eines Steueränderungsgesetzes 1973 (Drucksache 7/419) — Erste Beratung —, mit Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Mineralölsteuergesetzes 1964 und des Gesetzes über das Branntweinmonopol (Drucksache 7/422) - Erste Beratung —, mit Entwurf eines Zweiten Gesetzes über die Erhöhung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern (Zweites Bundesbesoldungserhöhungsgesetz) (Drucksachen 7/411, 7/442) — Erste Beratung —, mit Entwurf eines Gesetzes über die Sechzehnte Rentenanpassung und zur Regelung der weiteren Anpassungen der Renten aus den gesetzlichen Rentenversicherungen sowie der Geldleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung (Drucksache 7/427) — Erste Beratung — und mit Entwurf eines Fünften Gesetzes über die Anpassung der Leistungen des Bundesversorgungsgesetzes (Fünftes Anpassungsgesetz — KOV) (Abg. Geisenhofer, Dr. Althammer, Ziegler, Dr. Schulze-Vorberg, Dr. Riedl [München], Dr. Waigel, Maucher, Burger, Dr. Götz, Müller [Remscheid], Dr. Blüm und Fraktion der CDU/ CSU) (Drucksache 7/315) — Erste Beratung — Wagner (Günzburg) (CDU/CSU) (zur GO) 1274 A Dr. Barzel (CDU/CSU) . . . . . 1274 B Wehner (SPD) . . . . . . . 1283 B Dr. Graf Lambsdorff (FDP) 1285 C, 1341 B Brandt, Bundeskanzler . . . . . 1290 B Seiters (CDU/CSU) . . . . . . . 1297 C Dr. Stoltenberg, Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein . . 1302 B, 1330 D, 1334 A Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller (SPD) 1310 A Mischnick (FDP) . . . . . . . . 1317 A Schmidt, Bundesminister (BMF) . . 1319 D, 1333 C II Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. April 1973 Dr. Althammer (CDU/CSU) . . . . 1334 B Dr. Arndt (Berlin) (SPD) . . . . . 1338 C Dr. Häfele (CDU/CSU) 1343 D Dr. Weber (Köln) (SPD) . . . . 1346 D Dr. Müller-Hermann (CDU/CSU) . 1349 C Damm (CDU/CSU) . . . . . . 1349 D Würtz (SPD) . . . . . . . . 1357 B Leber, Bundesminister (BMVg) . 1359 C Dr. Wörner (CDU/CSU) 1361 C Vogel (Ennepetal) (CDU/CSU) . . 1363 D Liedtke (SPD) 1365 D Groß (FDP) 1368 A Genscher, Bundesminister (BMI) . 1368 B Nächste Sitzung 1369 C Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten . . 1371* A Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. April 1973 1273 27. Sitzung Bonn, den 5. April 1973 Stenographischer Bericht Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Dr. Achenbach * 7. 4. Adams * 7. 4. Ahlers 6. 4. Dr. Aigner * 7. 4. Dr. Artzinger * 7. 4. Dr. Bangemann * 7. 4. Dr. Becher (Pullach) 6. 4. Behrendt * 7. 4. Dr. Dr. h. c. Birrenbach 6. 4. Blumenfeld 7. 4. Buchstaller 6. 4. Dr. Burgbacher 6. 4. Buschfort 6. 4. Dr. Corterier * 7. 4. Frau Däubler-Gmelin 6. 4. Dr. Dregger ** 16. 4. Dr. Evers 6. 4. Fellermaier * 8. 4. Flämig * 7. 4. Frehsee ' 7. 4. Dr. Früh * 7. 4. Gerlach (Emsland) * 7. 4. Gewandt 7. 4. Härzschel * 7. 4. Hofmann 6. 4. Dr. Jaeger 6. 4. Dr. Jahn (Braunschweig) * 7. 4. Kahn-Ackermann** 7. 4. Kater 30. 4. Kirst 6. 4. * Für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments ** Für die Teilnahme an Ausschußsitzungen der Versammlung der Westeuropäischen Union Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Dr. Klepsch* 7. 4. Lange * 7. 4. Lautenschlager * 6. 4. Dr. Lenz (Bergstraße) 5. 4. Frau Dr. Lepsius 7. 4. Löffler 6. 4. Lücker * 7. 4. Dr. Martin 7. 4. Frau Meermann 6. 4. Memmel * 7. 4. Mertes 6. 4. Mikat 6. 4. Müller (Mülheim) * 6. 4. Mursch (Soltau-Harburg) * 6. 4. Dr. Oldenstädt 6. 4. Frau Dr. Orth * 7. 4. Picard 7. 4. Richter ** 7. 4. Dr. Riedl (München) 18. 4. Frau Schleicher 6. 4. Schmidt (München) ** 7. 4. Schmidt (Wattenscheid) 7. 4. Frau Schuchardt 8. 4. Schulte (Schwäbisch Gmünd) 6. 4. Dr. Schulz (Berlin) * 7. 4. Schwabe * 7. 4. Dr. Schwencke ** 7. 4. Dr. Schwörer * 7. 4. Seefeld* 8. 4. Spillecke 6. 4. Spilker 6. 4. Springorum * 7. 4. Dr. Starke (Franken) * 7. 4. Walkhoff * 7. 4. Dr. von Weizsäcker 5. 4. Frau Dr. Wex 6. 4. Wienand 6. 4. Frau Dr. Wolf ** 6. 4. Wrede 7. 4.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Graf Otto Lambsdorff


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Mit einiger Verwunderung, Herr Kollege Barzel, haben wir heute diese vorgezogenen Parteitagsauseinandersetzungen in diesem Hause vernommen.

    (Abg. Rawe: Graf Lambsdorff, wir haben keinen!)

    — Das meine ich auch. Ich frage mich deswegen, ob wir die Probleme Ihres Parteitages, die ja auch einmal kommen, die personellen Probleme, hier diskutieren sollen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Denn wenn wir uns darüber unterhalten müssen, was die Jusos fordern, können wir uns ja auch darüber unterhalten, was die Junge Union fordert; und dann sind wir wieder bei der Echternacher Springprozession: einen Weg!

    (Abg. Rawe: Fragen Sie doch, was die Junge Union in Nürnberg gefordert hat!)

    — Wir kommen auf Nürnberg noch zu sprechen.

    (Zuruf des Abg. Strauß.)

    — Herr Strauß, ich will dem gar nicht ausweichen; Sie haben das gestern genüßlich und ausführlich dargestellt.

    (Abg. Strauß: Da waren ja Ihre Leute ausnahmsweise bei uns!)

    — Wir werden darüber noch zu sprechen haben.
    Meine Damen und Herren, Herr Kollege Barzel hat sich hier als ein außerordentlich emsiger Leser der „Frankfurter Allgemeinen" ausgewiesen. Ich verstehe das, denn dahinter hat man immer einen klugen Kopf. Aber, Herr Kollege Barzel, ich hoffe, Sie haben auch die gestrige „Frankfurter Allgemeine" gelesen. Dann verstehe ich Ihr lautstarkes Alibi-Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft sehr gut; denn dann werden Sie die Philippika von Herrn Professor Ludwig Erhard gegen Ihre „humane Leistungsgesellschaft" wohl zur Kenntnis genommen haben.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ich möchte nur mit einem Satz auf das immer wiederholte Wort von den Kollektivfonds eingehen. Herr Barzel, reden wir uns doch nicht selber ein, daß jede Fondslösung eine kollektivistische Lösung sei, daß jeder Fonds ein Kollektivfonds sei. Nicht umsonst haben doch Millionen von deutschen Sparern in Fonds investiert, weil das eine praktikable, anwendbare Form ist. Sie immer mit dem Stichwort des Kollektivismus zu belegen, vernebelt und behindert eine wichtige vermögenspolitische Diskussion.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ich will mich aber nun dem eigentlichen Zweck dieser Debatte zuwenden und auf das eingehen, was der Herr Bundesfinanzminister gestern hier vorgetragen hat, und auf das, was Herr Strauß dazu kommentiert hat. Ich habe das, was der Herr Bundesfinanzminister vorgetragen hat, ihm selber gegen-



    Dr. Graf Lambsdorff
    über als eine sehr brauchbare Haushaltsrede bezeichnet.

    (Abg. Franke [Osnabrück] : Das war schon eine Einschränkung!)

    — Auf diese Einschränkung will ich gerade zu sprechen kommen. — Ich bin dann von einem seiner Kollegen darauf hingewiesen worden: das ist ja eigentlich eine etwas eingeschränkte Anerkennung. Sie haben das völlig richtig gehört. Meine Damen und Herren, eine glänzende Haushaltsrede, eine glänzende Finanzsituation erwartet ja auch niemand von uns unter den gegebenen Umständen, die doch in der Tat schwierig sind. Wer wollte das bestreiten? Aber das, was der Herr Bundesfinanzminister hier vorgetragen hat, war nach unserer Überzeugung ausgewogen, unpolemisch und illusionslos. Dies aber scheint uns eine wichtige Voraussetzung für eine Debatte in diesem Hause zu sein.
    Leider ist diese unpolemische Note dann schon kurz nach der Abgabe der Erklärung beendet worden, indem Sie, Herr Strauß, mitgeteilt haben, dies sei ein Dokument der Ratlosigkeit. Nun fragt man sich, was eigentlich ratlos im Sinne des Wortes ist: er weiß keine Lösung, er weiß keinen Ausweg.

    (Abg. Rawe: Seit wann benützt man eine Regierungserklärung, um den politischen Gegner zu verunglimpfen?)

    — Ich wende mich ja gar nicht gegen diese Kritik an sich; ich will sie nur beantworten, und das werden Sie genehmigen.

    (Abg. Rawe: Ich habe auf den Minister Bezug genommen, nicht auf Herrn Strauß!)

    Also: keinen Ausweg, keine Lösung, ja nicht einmal Rat und Hilfe. Das bedeutet doch im Grunde Ratlosigkeit.
    Nun muß ich Ihnen allerdings bestätigen, meine Damen und Herren von der Opposition: Von Ihnen haben wir Rat nicht erwartet. Wir erwarten bei Ihrer Einstellung auch 'in Zukunft von Ihnen keinen Rat. Dies gehört zu der zwar bedauerlichen, aber notwendigen Illusionslosigkeit, an die wir uns gewöhnen müssen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Hilflosigkeit ist, finde ich, dann gegeben, wenn polemische Pauschalurteile ohne Verfestigung durch Tatsachen in der Öffentlichkeit vertreten werden. Hier muß ich allerdings sagen, Herr Kollege Barzel, daß ich das, was Sie am Anfang dieser Woche gesagt haben, daß nämlich die Politik des Regierungslagers die Wertordnung dieses freiheitlichen und sozialen Rechtsstaates in Frage stelle und beeinträchtige, wäre nicht Ihr Auftritt von heute morgen dazwischengekommen, zurückhaltend als persönliche Kränkung jedes einzelnen von uns bezeichnet hätte; die Diktion, die Sie heute morgen gewählt haben, veranlaßt mich, das zu sagen, was ich im ersten Augenblick wirklich empfunden habe, nämlich, daß ich das als eine ganz persönliche Ehrabschneidung betrachte.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Und dies, meine Damen und Herren, dies, Herr Kollege Strauß, ist Panikmache, von der Sie gestern behauptet haben, sie würde von Ihnen nicht veranstaltet. Die wird von Ihnen nicht veranstaltet? Wir haben es gestern wieder gehört: Offenbarungseid, Finanzchaos, so weit wie mit der englischen Arbeitslosigkeit sind wir ja noch nicht. Ist das eigentlich nicht Panikmache?
    Ich kann nur sagen, mit dieser Panikmache haben Sie den 19. November gestaltet. Und um ein Wortspiel von Ihnen aufzugreifen, Herr Kollege Strauß: Ob das wegen Herrn Strauß, trotz Herrn Strauß oder ohne Zutun des Herrn Strauß so gekommen ist, weiß ich nicht. Aber diese Politik, die Sie hier vertreten, würde ich, um das zu wiederholen, was Sie gestern so genüßlich zitiert haben, als ein selfdefeating instrument bezeichnen.
    Meine Damen und Herren, die Etatdebatte wird gemeinhin die Stunde des Parlaments genannt. Wir stehen nicht hier — ich freue mich darüber, daß die Kollegen aus den Koalitionsfraktionen das gestern auch zu einem großen Teil nicht so aufgefaßt haben —, um Regierung und Finanzminister blindlings zu verteidigen, sondern wir werden Fragen stellen. Aber selbstverständlich wird diese Koalition im Endeffekt — daran besteht kein Zweifel — den Finanzminister und diesen Haushalt tragen.
    Ich möchte mir erlauben, einige dieser Fragen, die ich für notwendig halte, zu stellen.
    Ich darf einen Augenblick dabei verweilen, die ökonomische Gesamtlage so, wie sie sich uns darstellt, kurz zu skizzieren. Ich zitiere sinngemäß mit Genehmigung der Frau Präsidentin aus dem Bericht eines Forschungsinstituts:
    1. Die Preise sind rapide gestiegen, viel schneller, als sie es im letzten Jahr getan haben, und viel schneller, als Regierung und Wirtschaft es erwartet haben.
    2. Die kurzfristigen Zinssätze sind in den letzten zwei Monaten erstaunlich nach oben gegangen.
    3. Die Ausweitung der Kredite durch die Geschäftsbanken ist auf eine astronomische Höhe geschnellt.
    4. Eine Reihe von Banken sind nicht mehr in der Lage gewesen, ihre Mindestreserveverpflichtungen zu erfüllen.
    Dies, meine Damen und Herren, ist in der Tat eine höchst unerfreuliche wirtschafts- und währungspolitische Lage. Nur, es ist nicht die Lage in diesem Lande, sondern dies ist ein Bericht des „Argus Research Institute" vom 27. März dieses Jahres, der die Lage in den Vereinigten Staaten schildert. Das habe ich nur deswegen zitiert, weil wir endlich einmal darauf hinweisen und unter uns Klarheit darüber schaffen sollten, daß der immerzu wiederholte Vorwurf — hausgemachte, nicht hausgemachte Inflation — die Geschichte von der Henne und dem Ei ist und daß wir damit niemals zu Ende kommen, sondern uns weiter im Kreise drehen werden. Wir haben nicht bestritten — ich habe das in der Aussprache zur Regierungserklärung deutlich gemacht —, daß natürlich



    Dr. Graf Lambsdorff
    wir alle — nicht nur hier in diesem Hause, sondern auch in den anderen Parlamenten und Regierungen dieses Landes — einen Teil Verantwortung für diese Entwicklung mittragen. Ich habe aber ebenso deutlich gemacht, daß wir der Überzeugung sind, daß der bei weitem größere Anteil nicht aus dieser Eigenproduktion stammt.
    In diesem Zusammenhang, Herr Bundesfinanzminister, ist es richtig gewesen, daß Sie so deutlich auf den betrüblichen Einfluß der Importpreise hingewiesen haben. Hier können wir erneut ein Kapitel aus den Lehrbüchern streichen, denn es ist ja bisher davon ausgegangen worden, daß der Import das nationale Preisniveau nach unten korrigieren könne. Es ist eben zu einfach, Herr Müller-Hermann, zu sagen, wie Sie es in Ihrem Zwischenruf getan haben: nun habt ihr kein Alibi mehr, oder wie Herr Strauß zu formulieren: es wird immer nur nach anderen Sündenböcken gesucht. Dies ist keine rein hausgemachte Inflation.

    (Abg. Dr. Müller-Hermann: Aber es ist auch nicht eine rein von außen bestimmte Inflation!)

    — Habe ich das eben gesagt? Ich habe genau differenziert und habe gesagt, daß nach meiner Überzeugung der größere Teil von außen kommt und ein Teil der Verantwortung selbstverständlich auch von uns getragen werden muß; da gibt es gar keinen Zweifel. Nur, Sie behaupten jeweils immer das Gegenteil.

    (Abg. Dr. Müller-Hermann: Nein, nein!)

    Sie könnten allerdings den hausgemachten Anteil auf einen erheblich höheren Prozentsatz bringen, wenn Sie sich z. B. so verhalten würden, wie es die Frage des Kollegen Rollmann in der Fragestunde andeutet, wenn Sie nämlich ernsthaft dazu übergehen wollten, die Sparzinsen gegenüber anderen Einkünften steuerlich unterschiedlich zu behandeln. Hat sich eigentlich jemand, der eine solche Frage stellt, einmal überlegt, wie das weitergehen soll? Da geht es ja nicht nur um das Kontensparen; da sind ja auch die Hypothekengläubiger, die Lebensversicherten, die Anleihegläubiger, die Bausparer, die Pfandbriefgläubiger usw. Wenn Sie auf diesen gefährlichen Trugschluß verfallen, dann allerdings nährt die Inflation sich selbst und treibt sich weiter an. Das wäre in der Tat hausgemachte Inflation.
    Der Herr Kollege Breidbach — das möchte ich im Zusammenhang mit den internationalen Problemen noch sagen, Herr Müller-Hermann — hat während der Einbringungsrede des Herrn Bundesfinanzministers, als dieser auf die etwas günstigeren Zahlen in Frankreich hingewiesen hat, den, wie ich meine, wenig überzeugenden Zwischenruf gemacht: das sind ja auch keine Sozis. Sehen Sie sich die englischen Verhältnisse, die massiven Haushaltsdefizite in Großbritannien an, die aus der dortigen Situation erklärlich sind!

    (Abg. Franke [Osnabrück]: Ich muß den Kollegen Breidbach in Schutz nehmen! Das war ich!)

    Dort sind, Herr Franke, natürlich auch keine Sozis. Von der stabilitätspolitischen Seite her — ich sage nicht: von der politischen Seite her; wir hätten diese politische Last auch noch in Kauf genommen; der Herr Bundesfinanzminister hat das betont, und ich glaube, es wäre richtig, wenn wir das getan hätten —, müssen wir froh sein, ,daß das Block-Floating zur Zeit nicht alle die umfaßt, die wir uns politisch gern in diesem Rahmen gewünscht hätten. Mit dem immerzu wiederholten Spruch: „Aus deutschen Landen frisch auf den Tisch" ist zwar, meine Damen und Herren, Agrarproduktwerbung zu betreiben, aber nicht die Währungsdiskussion zu führen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Lassen Sie mich etwas zum Verhältnis zwischen Bund und Ländern sagen. Darüber ist hier schon gesprochen worden, so daß ich mich kurz fassen kann.
    Ich gestehe ganz offen, daß ich den Föderalismus weder mit der Muttermilch noch mit Starkbier eingesogen habe.

    (Abg. Strauß: Einiges andere auch nicht!)

    — Natürlich nicht alles, Herr Strauß; das wäre auch schlimm. — Ich will gar keinen Hehl daraus machen, daß mir der schul- und hochschulpolitische Föderalismus in dieser Form ein Greuel ist. Aber ich habe doch in 20, 25 Jahren praktizierter Verfassungswirklichkeit gelernt — das will ich nicht bestreiten —, daß hier ein System von checks and balances besteht, das wir nicht ohne Not in Frage stellen dürfen.
    Ich meine auch, daß der Bundesrat in diesem Zusammenhang in der Vergangenheit eine politisch wichtige Rolle sehr effektiv, sehr nützlich und sehr richtig wahrgenommen hat. Um so schlimmer, meine Damen und Herren, finde ich aber, wie Föderalisten in der gegenwärtigen Bundesrats-Diskussion mit dem Föderalismus umgehen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Wenn es dabei bleibt, daß dieses Steuerpaket schlichtweg abgelehnt wird, daß dieser Stabilitätsvorschlag schlichtweg vom Tisch gefegt werden soll, dann, Herr Dr. Barzel, ist es nicht mehr möglich, daß Sie uns sagen, wir wollten nur versuchen, unsere Propagandabüchsen zu füllen, wenn wir nach Alternativen rufen.
    Der Bundeswirtschaftsminister hat in der Aussprache zum Jahreswirtschaftsbericht erklärt, er erwarte von Ihnen keine Alternativen; er halte Sie für dazu nicht verpflichtet. Ich bin nicht dieser Ansicht und fand, daß das eine sehr großzügige Erklärung war. Wenn Sie aber unter Benutzung Ihrer Mehrheit im Bundesrat alles das, was wir zur Lösung dieses Problems vorlegen, sabotieren, wenn Sie es verhindern, dann, Herr Kollege Barzel, sind Sie zu Alternativen aus der Sache heraus verpflichtet, dann müssen Sie uns sagen, was an die Stelle unserer Vorschläge treten soll.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zuruf des Abg. Rawe: Werden wir dann auch tun! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Einverstanden!)




    Dr. Graf Lambsdorff
    — Wenn Sie das tun werden, Herr Kollege Barzel, dann wäre das ein Erfolg langfristiger Bemühungen und beharrlichen Zuredens. Es wäre eine großartige Sache, wenn wir das heute endlich auf den Tisch bekämen; wir sind darauf gespannt.

    (Abg. Dr. Althammer: Der Bundesrat hat das doch gemacht!)

    — Die Bundesratsvorschläge werden Sie doch nicht als ernsthafte Alternative zu dieser Frage betrachten können.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Lachen bei der CDU/CSU.)

    Wenn Sie aus dem Bundesrat in diesem Zusammenhang eine Oppositions-Abstimmungs-Unterstützungs-Kompanie machen,

    (Abg. Dr. Jenninger: Das waren doch die eigenen Leute, die dagegengestimmt haben!)

    dann, so meine ich, wird das Prinzip des Föderalismus verletzt. Im übrigen kann ich mir nicht helfen — der händlerische Zug, der da darin steckt, ist mir nicht angenehm, und er kann uns allen nicht angenehm sein —: hinter der Fassade eines würdigen, staatspolitischen Gehabes wird nach dem Motto gehandelt: „Mit 5 % sind wir dabei."

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ein Wort zur Ausgabenmentalität insgesamt. Der Herr Bundesfinanzminister hat auf die Anträge der Opposition, die sich ausgabenfördernd auswirken, hingewiesen. Nun, das wird wahrscheinlich immer so sein; nichtsdestoweniger bleibt es beklagenswert. Aber generell müssen wir uns doch fragen, ob die Parlamente — nicht nur dieses Haus, sondern die Parlamente schlechthin, bis hinunter zum letzten Gemeinderat — ihre Aufgabe noch darin sehen, Ausgaben zu kontrollieren, oder ob sie sie darin sehen, Ausgaben der Regierung nach Möglichkeit noch durch Zusatzanträge zu erhöhen. Es stellt sich die Frage, ob das noch mit dem ursprünglichen Parlamentsverständnis im Einklang steht. — Nein, das tut es sicherlich nicht. Gewiß, die Gewaltenverteilung hat sich seither verändert, aber dennoch müssen wir uns fragen, ob es nicht zu unserer Verantwortung gehört, gelegentlich auch einmal in unseren Wahlkreisen, zu sagen: dies und jenes geht nun nicht.

    (Abg. Dr. Jenninger: Sehr wahr!)

    Aber sehen Sie sich dazu einmal die Liste der Mündlichen Anfragen in diesem Hause an. Wenn Sie das alles ausführten, was dort an Kostenfolgen und kostenwirksamen Anregungen in diesen Fragestunden enthalten ist — —

    (Abg. Dr. Jenninger: Von allen Richtungen! — Abg. Dr. Müller-Hermann: Das ist die Inflationsmentalität!)

    — In allen Richtungen, genau!
    Meine Damen und Herren, der Herr Bundesfinanzminister hat sich hier auch zur Kreditausweitung, die in den letzten Wochen vor sich gegangen ist, geäußert. Ich glaube, Herr Kollege Schmidt, daß das im Prinzip richtig ist. Es besteht kein Zweifel, daß dort Mißbräuche vorgekommen sind. Sie müssen aber auch sehen, daß mit einer Erhöhung der Mindestreserven, die erst relativ spät so massiv gekommen ist, und auch mit den Bardepotgesetz-Möglichkeiten, die wir relativ spät geschaffen haben — zunächst einmal der Eingriff nicht so früh geschehen konnte, wie er besser geschehen wäre, und daß zum zweiten irgendwo der Ersatz der im Ausland aufgenommenen Kredite erfolgen mußte. Andernfalls treiben Sie die Unternehmen in die Illiquidität. Dies kann natürlich nicht das Ziel der Klasse sein.
    Ich will damit aber die Fälle mit keinem Wort der Verteidigung bedenken, in denen — und das ist passiert — Kreditlinien zu, sagen wir, 9 oder 10% ausgenutzt worden sind, um sie für 20 % — heute sind es 25 % — am Tagesgeldmarkt bei der Nachbarbank oder, wer die Chuzpe hatte, sogar bei derselben Bank zur Anlage anzubieten. Dies ist volkswirtschaftlich unvertretbar und mit dem Gesichtspunkt der Gewinnmaximierung unter Würdigung der volkswirtschaftlichen Gesamtumstände nicht mehr vertretbar.
    Ich frage mich manchmal, ob eigentlich in dieser Sache Gespräche versucht worden sind. Ich habe den Eindruck, sie sind zu spät versucht worden. Ich glaube, man hätte sich einmal mit den Verantwortlichen in der Wirtschaft zusammensetzen können, eine Anregung, die weniger die Regierung als andere Stellen angeht.
    Herr Bundesfinanzminister, ich glaube, Sie haben - Hannover spielt natürlich auch hier etwas hinein — eine gewisse Vorleistung erbracht — die Zustimmung unseres Koalitionspartners, Ihrer Freunde, hat das deutlich gemacht —, als Sie das Universalbankprinzip angesprochen haben. Darüber kann man selbstverständlich diskutieren. Ich möchte nur dringend darum bitten, hier keinen neuen Popanz aufzubauen, von dem man nachher nicht mehr herunter kann, weil man ihn ideologisch aufgeblasen hat und die Dinge nicht mehr pragmatisch sieht. Sie müssen bedenken, daß im Rahmen des deutschen Kreditwesens seit 1967 — Zinsfreigabe, Börsenreformgesetz — einiges geschehen ist, und Sie müssen, wie ich glaube, auch sehen, daß die Reformgesetze, die in den Ausschüssen auf dem Tisch liegen — Hypothekenbankgesetz, Versicherungsaufsichtsgesetz und noch einmal Börsenreformgesetz —, den Weg weisen, das Notwendige in der richtigen und an den Ordnungsprinzipien ausgerichteten vernünftigen Weise zu tun. Sie wären nämlich nicht in der Lage, in diesem Kreditwesen an die Stelle des derzeit geltenden Systems eine Aufspaltung von Geschäftsbanken und Investmentbanken zu setzen, einfach weil das Volumen für die letzteren nicht groß genug ist. Ich habe lange genug darin gearbeitet, ich habe lange genug mit dem Gedanken gespielt, wie man das als Börsianer, wenn man an der Börse arbeitet, immer tut: in der Hausse fährt man Jaguar und in der Baisse auf dem Fahrrad. Wir haben uns damals überlegt, ob man diesen Bereich nicht einfach ausgliedern könnte. 1966/67 fanden wir die Idee faszinierend, 1969 wären wir mit einem solchen Unternehmen



    Dr. Graf Lambsdorff
    schlichtweg pleite gewesen, weil das Volumen bei uns nicht vorhanden ist.
    Sie dürfen auch nicht übersehen — dies halte ich für einen wichtigen Gesichtspunkt —, daß das deutsche Kreditwesen so vielfältig gegliedert ist wie in keinem anderen Lande der Welt. Die Gruppen der Sparkassen, Genossenschaftsbanken, privaten Banken, Gemeinwirtschaftsbanken bieten eine solche Vielfalt und eine solche Garantie für Wettbewerb, daß wir hier eine Basis finden, die für die Durchsetzung unserer ordnungspolitischen und insbesondere unserer Wettbewerbsvorstellungen völlig ausreichend ist. Noch einmal sei gesagt, wie das schon in der Debatte zur Regierungserklärung gesagt worden ist — nicht, weil wir akute Befürchtungen hätten —: Eine Verstaatlichung des privaten Bankwesens wird unsere Zustimmung nicht finden.
    Eine andere Frage ist es — auch dies ist ein kritischer Punkt , ob der Erwerb und die Dauer des Haltens industrieller Beteiligungen in dem zur Zeit bestehenden Ausmaß wünschenswert oder notwendig ist. Darüber kann und sollte gesprochen werden. Wir sehen mit Erstaunen, daß sich die öffentlichen Banken jetzt auf denselben Weg begeben.
    Darf ich in diesem Zusammenhang eine interessante Anregung aufgreifen, die das Mitglied des Sachverständigenrates, Herr Professor Gutowski, vor wenigen Tagen gemacht hat. Er hat sich gegen die Kreditplafondierung geäußert — das findet unseren Beifall. Er hat aber außerdem vorgeschlagen, die Offenmarktpolitik der Bundesbank, die wir auch unter Nichtbanken exerziert sehen möchten die Bundesbank macht die ersten Anfänge damit —, durch langfristige Offenmarkttitel zu unterstützen; das wäre hilfreich.
    Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang ein Wort — ich habe mich dazu in der Öffentlichkeit gelegentlich geäußert, ich weiß nicht, ob mißverständlich, aber es ist zum Teil auf Widerspruch gestoßen — zu dem Problem der Unabhängigkeit unserer Notenbank schlechthin. Wir wollen daran nicht rühren. Wir halten die Unabhängigkeit und Autonomie der Notenbank für einen segensreichen Zustand, der so bleiben sollte, wie er ist. Aber er setzt Ausgewogenheit voraus, und wir meinen — ich befürchte es jedenfalls —, daß ein zunehmender Drang zur weiteren Verstärkung des kreditpolitischen Instrumentariums zwangsläufig die Frage nach dem Status und der Autonomie der Notenbank in sich schließt. Das braucht man gar nicht zu betreiben, das ist so; es kommt einfach mit auf den Tisch. Die vierte Macht im Staate, meine Damen und Herren, steht weder bei Montesquieu noch im Grundgesetz.
    Im übrigen haben wir vor wenigen Wochen noch gemeint, daß die Geld- und Kreditpolitik nicht ausreiche, daß die Mittel erschöpft seien. Nun, bei Tagesgeldsätzen von 25 % wird man das nicht mehr gut sagen können. Wenn die Absicherung der außenwirtschaftlichen Flanke funktioniert — und zur Zeit funktioniert sie —, ist dem nicht so.
    Noch ein Wort — der Herr Kollege Strauß ist, glaube ich, nicht mehr unter uns, aber er wird es vielleicht freundlicherweise nachlesen — zu der volkswirtschaftlichen Belehrung, die Herr Strauß uns gestern hier erteilt hat. Da ging es um die Frage der Abschreibungen und der Finanzierung aus Abschreibungen von Unternehmenserwerben durch die Stahlindustrie. Ich äußere mich zu diesem Thema zur Sache nicht. Aber Herr Strauß hat übersehen — entweder er hat die Meldung übersehen oder er hat das Kapitel Abschreibung nicht zu Ende gelesen -, daß ja die Klagen lauteten — gerade die Klagen der Stahlindustrie —, man mache Substanzverlust, das heißt, man verdiene die Abschreibungen nicht mehr. Wenn man die Abschreibungen nicht verdient, dann möchte ich wissen, wie man daraus Liquidität gewinnen will, um andere Erwerbe zu finanzieren.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ein letztes Wort zu dem, was der Herr Bundesfinanzminister zu unseren außen- und sicherheitspolitischen Verpflichtungen hier gesagt hat. Er hat betont, und der Vorsitzende der Opposition hat das heute aufgegriffen, daß wir zu diesen Verpflichtungen stehen und daß wir sie erfüllen werden. Wir begrüßen das. Wir wollen ganz deutlich sagen, daß wir diese Passage, Herr Bundesfinanzminister, deutlich und nachhaltig unterstützen und zu dieser Politik stehen. Wir bitten darum und machen darauf aufmerksam, daß hier die Zusammenhänge gesehen werden zwischen außen- und sicherheitspolitischen Erwägungen auf der einen Seite sowie währungs-, wirtschafts- und handelspolitischen Erwägungen auf der anderen Seite. Dies ist heute untrennbar miteinander verbunden, ob wir das mögen oder ob wir das nicht mögen; es ist im Zweifelsfalle eher unbequem. Sie sind aber untrennbar miteinander verbunden, und dieser Tatsache müssen wir Rechnung tragen. Insofern hatte Herr Leicht gestern recht, als er auf diese Haushaltsposition, die möglicherweise auf uns zukommt, hingewiesen hat. Nur erleichtert es nicht gerade Verhandlungen, wenn man durch Aufnahme in den Haushalt solche Positionen schon vorher festlegt. Dann kann ich meine Verhandlungsargumente in der Garderobe abgeben, bevor ich den Verhandlungssaal betreten habe.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Den Antiamerikanismus teilen wir wahrhaftig nicht, und auch darauf habe ich an dieser Stelle vor wenigen Wochen sehr deutlich hingewiesen. Wir halten das für eine leichtfertige und gefährliche Angelegenheit. Aber ich kann dem Herrn Kollegen Wehner nur zustimmen. Es ist außerordentlich begrüßenswert, daß wir gestern abend erfahren konnten, daß der Herr Bundeskanzler in die Vereinigten Staaten reist, um sich unter anderem natürlich auch mit dem Problem der psychologischen Beziehungen zwischen uns und den Vereinigten Staaten zu beschäftigen.
    In diesem Zusammenhang stimmen wir Herrn Strauß zu. Auch meine Freunde hier in diesem Hause, ebenso wie im Stadtrat von Nürnberg, halten solche Beschlüsse für schlichtweg leichtfertig und unverantwortlich und meinen, daß das korrigiert werden könnte.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)




    Dr. Graf Lambsdorff
    Aber Herr Strauß hat dann hier gestern Vergleiche zwischen Dollar und Rubel gezogen, die verständlicherweise unfreundlich aufgenommen worden sind. Ich würde einen Schritt weitergehen: Was glaubt man eigentlich, wie ein solcher Vergleich mit dem System einer nicht-konvertiblen Währung und staatlich festgesetzten Verrechnungspreisen — Sie wissen alle, was im Comecon sich auf der Rubel-Basis abspielt — bei unseren Partnern auf der anderen Seite des Atlantiks aufgenommen werden wird?

    (Abg. Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller: Sehr richtig!)

    Ist das im Zusammenhang mit den Klagen über den Antiamerikanismus eigentlich die richtige Sprachweise?

    (Vorsitz: Vizepräsident von Hassel.)

    Nur aus Freude an equilibristischen Formulierungen sollte man so etwas nicht tun.

    (Beifall bei der FDP.)

    Herr Bundeskanzler, wir bitten Sie dringend darum, das Problem des Weltwährungssystems und seiner Reform — ich werde nicht müde, das zu wiederholen, auch wenn es den einen oder anderen von Ihnen langweilen mag — mit nach drüben zu nehmen. Die letzten Berichte aus der Sitzung des Zwanziger-Ausschusses klingen hoffnungsvoll. Aber es muß immer wieder deutlich gemacht werden, daß wir unseren Anteil daran leisten wollen. Denn nur dann, wenn das in Ordnung gebracht wird, können wir auch, Herr Dr. Barzel, auf dem Wege weiterschreiten, den Sie mit Recht gewiesen und zu Unrecht kritisiert haben.
    Es ist doch einfach nicht richtig, uns vorzuhalten, wir hätten die Instrumente der Stabilitätspolitik in Europa nicht geschaffen. Wir haben hier vorgetragen, daß wir in diese europäische Währungsunion mit dem zehnten Schritt zuerst hineingegangen sind, daß die vorgesehene Reihenfolge überhaupt nicht eingehalten werden konnte, weil uns das über den Hals gekommen ist. Daß das nachvollzogen und nachgeholt werden muß, sei unbestritten.
    Ich wehre mich auch dagegen, Herr Kollege Barzel, daß Sie uns vorhalten, wir verniedlichten die Inflation. Wir versuchen sie zu bekämpfen mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen. Wir erwarten in diesem Punkte mehr als ein bloßes Nein der Opposition.
    Nach Auffassung meiner Fraktion ist dieser Haushaltsentwurf, der uns zur Beratung vorgelegt worden ist, realistisch und solide. Er bietet eine gute Grundlage für die politische Arbeit des Jahres 1973.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)



Rede von Kai-Uwe von Hassel
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von: Unbekanntinfo_outline


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: ()

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte im weiteren Verlauf dieser Debatte zu den eigentlichen Haushaltsfragen Stellung nehmen. Ich möchte mich in diesem Augenblick mit einigen der allgemeinpolitischen Fragen beschäftigen. Es ist ja der Wunsch geäußert worden, auch heute früh durch den Oppositionsführer, daß ich dies tun möge.
    Gestern ist, wie Sie wissen, bestätigt worden, daß als Ergebnis eines Meinungsaustausches der letzten Wochen der Präsident der Vereinigten Staaten seine Einladung an mich ausgesprochen hat, die dazu führt, daß ich am 1. und 2. Mai in den Vereinigten Staaten sein werde. Der Bundesaußenminister, der vorher in einer Botschafterkonferenz in Djakarta ist, wird von dort aus herüberkommen, so daß wir einen wesentlichen Teil der Gespräche zusammen führen können.
    Heute früh war meine Verspätung auch durch ein außenpolitisches Engagement begründet. Mir tut es leid. Ich finde nur: so wie ich selbst oder meine Mitarbeiter hätten mitteilen können, daß der Botschafter eines größeren Landes heute vormittag um einen Termin mit mir gebeten hatte — und ich glaubte, 9 Uhr sei besser als hinterher mitten in der Sitzung -, so hätte auch der Oppositionsführer freundlich genug sein können, mich wissen zu lassen, daß er die Absicht hätte, zu beginnen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Dr. Barzel: Das war bekannt, war allgemein bekannt!)

    Denn ich habe auch nicht weniger zu tun als er; da sind wir uns einig.

    (Abg. Rawe: Aber das war bekannt, Herr Bundeskanzler! Sie können sich die Empfindlichkeit sparen!)

    Die Sache war also so, daß der Botschafter der UdSSR gestern gebeten hatte, ob er mich heute sehen und mir einen Brief überreichen könnte. Er hat mir heute früh einen Brief des Generalsekretärs des Zentralkomitees der KPdSU, Herrn Breschnew, übergeben. Herr Breschnew bekräftigt in diesem Schreiben seine Bereitschaft, einer Einladung des Bundeskanzlers zu einem Besuch der Bundesrepublik Deutschland Folge zu leisten. Das war der Grund, weswegen ich heute früh etwas verspätet war.
    Nun ist also gesagt worden, der Bundeskanzler möge sich zur allgemeinen Politik äußern. Was will die Opposition dazu eigentlich hören? Erwartet sie, daß der Bundeskanzler etwas anderes sagt als das, was er hier in der Regierungserklärung am 18. Januar oder in der Debatte zum Grundvertrag gesagt hat

    (Beifall bei den Regierungsparteien)

    oder was der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister im Anschluß daran in Paris aus Anlaß der zehnjährigen Wiederkehr des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages gesagt haben oder was gesagt worden ist, als der britische Premierminister hier war? In all diesen Fällen, d. h. praktisch von Woche zu Woche, ist wiederholt ergänzt, erläutert worden, was die erklärte Politik dieser Regierung und der sie tragenden Koalition ist.
    Aber ich will noch einmal in aller Deutlichkeit sagen, auf die Gefahr hin, daß ich mich wiederholen muß — das hilft dann eben nichts —: Die Bundes-



    Bundeskanzler Brandt
    regierung wird in ihrer Außenpolitik, in ihrer Europapolitik, in ihrer Deutschlandpolitik weiterhin den Kurs verfolgen, den ich in meiner Regierungserklärung vom 18. Januar aufgezeigt habe.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Es dient nicht den deutschen Interessen, wenn dies in Zweifel gezogen wird.

    (Erneuter Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Auch eine gewisse Aufregung vom Dienst, wenn ich es so nennen darf, geht an den eigentlichen Interessen unseres Staates und der in ihm verantwortlichen politischen Kräfte vorbei. Unsere Aufmerksamkeit ist auf die Sachfragen konzentriert,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch Ihr Problem!)

    die im Bündnis zwischen Ost und West, in Europa und zwischen den beiden deutschen Staaten zu prüfen und zu beantworten sind.
    Was die beiden Besuche angeht, unseren in den Vereinigten Staaten und den anderen bei uns in der Bundesrepublik Deutschland, so begrüße ich in beiden Fällen die Gelegenheit für einen ruhigen Gedankenaustausch, der unter keinerlei dramatischem Zwang steht. Viele Spekulationen der hinter uns liegenden Wochen haben sich, wie man sich überzeugen kann, als müßig erwiesen, und mancher muß erhebliche Kraftanstrengungen verbaler Art machen, um von diesen Spekulationen wegzukommen. Es mag zwar dem sportiven Ehrgeiz dieses oder jenes Kommentators und auch des einen oder anderen Oppositionspolitikers entsprechen, dem jeweils jüngsten Gerücht nachzujagen. Zur politischen Aufklärung trägt das aber, meine Damen und Herren, so gut wie überhaupt nicht bei.

    (Beifall bei der SPD.)

    In meinen Schlußbemerkungen zur Aussprache über die Regierungserklärung im Januar — ich sehe immer wieder mit einem gewissen Interesse, daß hier und da meine Schlußbemerkungen noch positiver kommentiert werden als die Regierungserklärung selbst; das hat man manchmal davon, wenn man an einer Sache länger sitzt als an der anderen, nämlich daß diejenige, an der man nicht so lange gesessen hat, manchmal noch mehr Zustimmung findet als die andere — nannte ich als einen ausgesprochenen Schwerpunkt unserer Interessen die Fundamentierung der amerikanisch-europäischen Allianz durch Prüfung und Ausgleich der gemeinsamen Interessen und Bewahrung der Sicherheit. Genau darum, meine Damen und Herren, handelt es sich. Die Ordnung der europäisch-amerikanischen Bindungen ist ein zentrales Problem der kommenden Jahre. Wir drängen seit langem auf den Dialog unter Partnern, auf einen Dialog, der realistischer und entschiedener geführt werden kann, wenn den Vereinigten Staaten von Amerika endlich jene europäische Persönlichkeit begegnet, die sie, die USA, früher immer erhofften,

    (Abg. Wehner: Sehr wahr!)

    jene Gemeinschaft, die, wie es früher aus guten Gründen immer wieder hieß, mit einer Zunge einen klaren politischen Willen auszudrücken vermag.
    Nun sind — zumindest darüber brauchte es keine Meinungsverschiedenheiten in diesem Hause zu geben — die Aufgaben einer atlantischen Kooperation ausgesprochen komplex. Sie schließen Handelsprobleme ebenso ein wie die Arbeit für ein neues Weltwährungssystem. In diesem Zusammenhang ist nicht ohne Grund von einem großen architektonischen Entwurf die Rede gewesen, weil man damit etwas anvisierte, was die Vielzahl, die Vielfalt der Beziehungen zwischen Westeuropa und der anderen Seite des Atlantik zum Inhalt hatte. Es wäre gut, wenn uns — „uns" heißt immer „uns mit anderen" — ein solcher großer architektonischer Entwurf gelänge. Präsident Nixon hat — das begrüße ich sehr — den amerikanischen Willen zu konstruktiven Lösungen deutlich gemacht. An unserer Bereitschaft zu sachlichen und großzügigen Antworten auf die Grundfragen und die Detailfragen kann es keinen Zweifel geben.
    Wir betrachten - lassen Sie mich das hier noch einmal sagen; wie schon eingangs, betone 'ich: dies ist Unterstreichung, es ist zwangsläufig auch Wiederholung — die Zuverlässigkeit der europäischamerikanischen Partnerschaft, Herr Kollege Barzel, als Basis unserer Friedenspolitik. Dieser Satz steht, und an ihm gibt es nichts zu deuteln.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Kein Mitglied meiner Regierung hat ihn jemals in Frage gestellt. Daran ändern auch Tatarennachrichten nichts, auf die ich gleich zu sprechen komme. Daran ändern übrigens — Herr Kollege Strauß ist nicht da — auch manche Giftküchen in Washington nichts, die ich auch dann Giftküchen nenne, wenn in ihnen mit Journalistenausweisen ausgestattete Personen sitzen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU.)

    — Ich meine jene, die noch in den letzten Tagen wissentlich falsche Dinge berichtet und sie als Nachrichten ausgegeben haben. Herr Strauß kennt einen davon ziemlich genau.

    (Abg. Katzer: Wer war das denn?)

    Meine Damen und Herren, wer hat denn im übrigen Vorschläge

    (Abg. Katzer: Wer war das denn? Das muß man doch einmal hören!)

    über die europäisch-atlantische Kooperation gemacht?

    (Abg. Katzer: Das können wir doch nicht einfach so hinnehmen!)

    Wer hat denn dieses Thema auf der westeuropäischen Gipfelkonferenz im Dezember 1969 auf den Tisch gelegt? Wer anders als der, der hier zu Ihnen spricht, hat 1970 und 1971 dieses Thema in Washington — —

    (Zuruf der Abg. Frau Berger [Berlin].)




    Bundeskanzler Brandt
    — Nun bezweifeln Sie das doch nicht auch! Ich muß mir das doch wohl nicht erst von den Amerikanern bestätigen lassen. Es wäre für Sie doch ein Armutszeugnis,

    (Beifall bei den Regierungsparteien)

    wenn ich es mir von denen bestätigen lassen müßte, weil Ihre Verbohrtheit dahin geht, daß Sie es nicht einmal mehr zur Kenntnis nehmen wollen, Frau Kollegin, wenn man, ich sage ja gar nicht: etwas Besonderes tut, sondern seine Pflicht tut, nämlich den Partnern in der Welt gegenüber das vertritt, was man dem Bundestag und den Wählern angekündigt hat; und das werde ich weiterhin tun.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Rawe: Daß Sie nichts Besonderes tun, ist ja allgemein bekannt!)

    Ich erinnere an 1970, 1971 in Washington, 1972 im Vorfeld des Bundestagswahlkampfes, der uns nicht abgehalten hat, der Wiederkehr der denkwürdigen Rede George Marshalls zu gedenken, aber mit politischer Begründung. Kollege Birrenbach fuhr für die Opposition mit. Es war keineswegs nur eine einseitige Veranstaltung, sondern mit Recht eine solche, die die Gesamtheit der politischen Kräfte dieses Hauses ausdrückte.
    Ich denke an die sogenannte Gipfelkonferenz in Paris im Monat vor der Bundestagswahl 1972. Schauen Sie doch bitte nach, was veröffentlich ist. Wenn es noch nicht geschehen ist, dann fragen Sie doch bitte im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages nach, wer welche Vorschläge zu welchem Teilkomplex der europäisch-amerikanischen Allianz in Paris auf den Tisch gelegt hat!

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Wenn Sie mögen, dann fragen Sie bitte dort und im Finanz- oder im Wirtschaftsausschuß, wie der Kollege Helmut Schmidt die europäische Währungsfrage im einzelnen angegangen ist und immer wieder versucht hat, in ständigem Benehmen mit dem Bundeswirtschaftsminister und dem Bundeskanzler die nahtlose Abstimmung mit den Amerikanern zustande zu bringen, allerdings ohne den Amerikanern nach dem Mund zu reden, meine Damen und Herren;

    (Beifall bei den Regierungsparteien)

    denn damit ist in einer solchen Frage auch nichts gewonnen. Wenn um Interessen gerungen wird, dann muß man auch den Amerikanern sagen, was aus europäischer Sicht möglich und was nicht möglich ist. Wenn wir vor einer neuen GATT-Runde stehen, dann nützt es eben nichts und man dient nicht den Interessen des eigenen Landes, wenn man dabei nur sagt: Ihr müßt die amerikanischen Forderungen erfüllen. Dann muß man den Amerikanern vielmehr sagen: Liebe Freunde, ihr habt das vorige Mal das ASP, das American Selling-Price System, für das sich z. B. eure Delegation stark gemacht hatte, hinterher durch euren Kongreß nicht bestätigt bekommen; das kreiden wir eurer Administration in Washington zwar nicht an, aber wir müssen miteinander ein System aushandeln — d. h. dann wohl durch rechtzeitige Einbeziehung des dortigen Kongresses und anderer Stellen in den europäischen
    Ländern bei ratifizierungsbedürftigen Vorgängen —, bei dem alle Beteiligten wissen, daß das, was wir am Schluß einer neuen GATT-Runde vereinbaren, auch durchgeführt werden kann und durchgeführt wird. — Ich habe das nur als Beispiel genannt.
    Hier ist doch überhaupt kein Zweifel, meine Damen und Herren: Wenn es nach unserer Regierung gegangen wäre — hier sage ich ganz bewußt: auch nach dem Bundeskanzler, dem Außenminister und nicht zuletzt dem Bundesfinanzminister —, dann hätten wir im Laufe einiger Wochen zu Beginn dieses Jahres, was die Bildung der Währungs- und Wirtschaftsunion in Westeuropa angeht, einen Sprung nach vorn gemacht; wir waren ziemlich nahe daran, auch was die Hauptpartner angeht. Dann haben objektive Gründe in einem wichtigen Land der erweiterten Gemeinschaft diesen Sprung nicht möglich gemacht. Trotzdem sind wir ein Stück vorangekommen.
    Wenn man sich jetzt einmal mehr im Detail, als wir es hier im Plenum tun könnten, vorstellt, wie man den Zwanziger-Klub und den Zehner-Klub auf solche Handels- und Währungspartner herunterdividiert, die, jetzt sagen wir es frei nach Orwell, gleich sind wie alle anderen, aber doch gleicher als alle anderen, und wie man dies alles zusammenzufügen versucht hat, dann kann man hier nicht mit derartigen Vorwürfen kommen, wie sie erhoben worden sind.
    Ich kann im übrigen meinem Vorredner, dem Kollegen Graf Lambsdorff, sagen, daß wir seine Aufforderung und die seiner politischen Freunde sehr wohl verstanden haben und dankbar sind, daß uns dies als Anregung und als Wunsch mit auf den Weg gegeben wird, was den Dialog mit den Vereinigten Staaten angeht.
    Im übrigen, wenn Sie die Zwischenbemerkung erlauben, meine Damen und Herren: Herr Strauß gestern, Herr Kollege Barzel heute haben, wie es auch zuvor in einigen Zeitungen der Fall war, für viele von uns schwer verständliche Andeutungen gemacht, die sich auf den Kollegen Egon Bahr beziehen; schwer verständlich deshalb, weil keiner der beiden, weder Herr Strauß noch Herr Barzel, nehme ich an, bisher den vollen Wortlaut dessen gelesen haben oder doch? —, worauf sich ihre Äußerungen beziehen; ich noch nicht, weil es mir trotz aller Bemühungen mit Hilfe unserer Botschaft noch nicht gelungen ist, das Vorweg-Exemplar mit dem vollen Text zu bekommen.

    (Abg. Wehner: Hört! Hört!)

    Ich habe erst Auszüge. Aber ich könnte mich schon gestützt auf diese Auszüge äußern und will dann einmal folgendes sagen.
    Erstens zur Methodik. Auf die hat Herr Kollege Wehner gestern in einem Zwischenruf hingewiesen, und ich möchte das von dieser Stelle aus gern aufgreifen, auch aus Kollegialität gegenüber einem Mitarbeiter, einem Kabinettskollegen, der im Krankenhaus ist. Wenn ein Professor vier Jahre Zeit braucht, um die Aufzeichnungen über ein damals geführtes Gespräch zu veröffentlichen — nebenbei gesagt, ohne sie dem noch mal zu zeigen,

    (Abg. Wehner: Hört! Hört!)




    Bundeskanzler Brandt
    mit dem das Gespräch geführt worden ist —, wenn einer vier Jahre später Notizen über ein Gespräch veröffentlicht, dann hätten Sie auch vier Wochen Zeit gehabt, bis Egon Bahr wieder gesund ist und sich selber dazu äußern kann.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Was sind im übrigen in jenen Jahren alles für Stufenpläne entwickelt worden, nicht nur in Gesprächen wie mit dem Professor Hahn, den ich nicht kenne; ich glaube, der Herr Carstens kennt ihn näher, auch aus seinem Aufenthalt hier in Bonn in den letzten Wochen, und auch die Adenauer-Stiftung kennt ihn, glaube ich, besser als ich aus seinem Aufenthalt in den letzten Wochen in Bonn.

    (Lachen bei den Regierungsparteien.)

    Aber anders als in dem Fall des Gesprächs im Januar 1969 mit dem damaligen Leiter des Planungsstabes des Auswärtigen Amts könnte doch nun auch jemand auf den Gedanken kommen, veröffentlichte Pläne zu nehmen, z. B. einen solchen, den Herr Barzel nicht zur überschäumenden Freude seiner Parteifreunde in New York an einem 17 Juni vorgetragen hat oder hat vortragen wollen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. Abg. Wehner: Hier hat er es verteilen lassen!)

    Jedenfalls stand der Text uns allen zur Verfügung, und wir hielten dies für das Ergebnis der Sorge eines Mannes darum, wie wir uns, wenn es irgend geht, zu einer Lösung der nationalen Frage im Sinne der staatlichen Einheit voranarbeiten könnten.

    (Abg. Katzer: Genau das war es!)

    - Genau das war es, und das war es bei manchen
    anderen im Laufe dieser Jahre.
    Nur, wenn Herr Strauß in einem solchen oder ähnlichen Zusammenhang von der Gemeinsamkeit der demokratischen Kräfte spricht, —

    (Abg. Frau Berger [Berlin] : Warum darf er das denn nicht?)

    meine Damen und Herren, ist denn plötzlich das mit dem „roten Faschismus" nicht mehr wahr? War das alles nur so für den Wähler gesagt? Ich habe das mit dem „roten Faschismus" noch im Ohr

    (Abg. Wehner: In Regensburg!)

    und daß wir nationale Interessen verkauften. Herr Strauß kann doch nicht Gemeinsamkeit mit Leuten wollen, die nationale Interessen verkaufen.

    (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Rawe: Sie haben doch selber gesagt, die Kommunisten sollen gehen! Also müssen sie doch heute vorhanden sein!)

    Hier gibt es eine Verfassung. Auf deren Boden stehen wir; hoffentlich alle miteinander.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Hoffentlich!)

    Wir sind darauf vereidigt. Ich hoffe, auch Sie nehmen sie ernst genug. Eine darüber hinausgehende
    Gemeinsamkeit wäre — auf den Redner des gestrigen Tages bezogen — unehrlich, weil ihr die Grundlage fehlte.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Frau Berger [Berlin]: Das ist finsterer Wahlkampf!)

    Herr Kollege Barzel fragt jetzt, ob andere Ordnungs- und andere Wertvorstellungen uns trennten.

    (Abg. Rawe: Da haben Ihre Freunde Beifall geklatscht! Das müssen Sie genau registrieren!)

    — Aber das ist doch anders, Herr Kollege.

    (Abg. Rawe: Nein, das war nicht anders! Das können Sie im Protokoll nachlesen!)

    — Herr Kollege, wer die Frage stellt, tut doch so, als ob es kein Godesberger Programm der SPD gäbe. Jetzt spreche ich nur für diese Seite des Hauses, nicht für die Kollegen von der FDP mit. Die haben ihr eigenes Freiburger — und sonstiges — Programm.

    (Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.)

    Unser gemeinsames Programm ist die Regierungserklärung.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Zu diesem gemeinsamen Programm der Regierungserklärung stehen wir als zwei unabhängige Parteien. Weder versucht die eine, die andere nachzuahmen, noch die andere die eine. Sie werden noch sehen, daß das die Kraft unseres Bündnisses in dieser unserer Bundesrepublik ausmacht.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Aber das Godesberger Programm vom Herbst 1959 enthält doch natürlich auf wesentlichen Gebieten, Herr Kollege Barzel, andere Wert- und Ordnungsvorstellungen, als Ihre Partei und Sie sie vertreten.

    (Beifall bei der SPD.)

    Das ist doch nichts Geheimes. Dazu haben wir doch ein Grundsatzprogramm. Aber auch wenn wir das nicht hätten: Wir wären ja schon zufrieden, wenn Sie mit uns stärker, als das in den letzten Jahren der Fall war, wetteifern wollten, das Grundgesetz, für das wir gemeinsam einstehen, nun auch wirklich mit Leben zu erfüllen, es z. B. dort, wo es um die Sozialpflichtigkeit geht, und dort, wo es um die Pflicht geht, den demokratischen und sozialen Bundesstaat zu verwirklichen, nicht auf dem Papier stehen zu lassen, sondern lebendige Wirklichkeit daraus zu machen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Was bisher von der CDU/CSU als Polarisierung angeprangert wurde, ist — nach der Rede von Herrn Barzel heute früh zu beurteilen — ausdrücklich gewollt. Aber es handelte sich — wenn ich das heute früh nun richtig verstanden habe — nicht um eine Polarisierung im Sinne des früher häufig zitierten und von Kommentatoren häufig in Anspruch genommenen Freund-Feind-Denkens — das wollte man uns wohl nur früher manchmal vormachen —, sondern jetzt geht es ganz einfach — ob Sie das gern hören oder nicht — um eine Verschärfung des politischen Bewußtseins in unserer Bevölkerung, bei den



    Bundeskanzler Brandt
    Frauen und Männern in dieser unserer Bundesrepublik Deutschland. Die Menschen sind wach geworden, viele hellwach.

    (Abg. Rawe: Da könnten Sie recht haben! Die werten Ihre Inflationsmentalität sicher richtig!)

    Es ist aufschlußreich, daß die CDU/CSU auf Grund dessen plötzlich ein Denken in anderen Ordnungen entdecken will. Es geht um etwas anderes: Breitere Schichten als zuvor entwickeln dieses wachere Bewußtsein, und die Union entdeckt dieses politische Bewußtsein und sieht sich schon in eine andere Ordnungswelt versetzt. Nein, die Ordnungswelt, die Ihnen unbehaglich ist, Herr Kollege Barzel, ist für meine Freunde und mich die Welt des sozialen und demokratischen Rechtsstaates Bundesrepublik Deutschland.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Diesen Staat will das Grundgesetz, den läßt es nicht nur zu. Deshalb geben Sie bitte Signal, wenn Sie auf Ihrer Entdeckungsreise dort angekommen sind, wo die Mehrheit unserer Bürger längst steht, Herr Kollege Barzel!

    (Heiterkeit bei der SPD. — Zuruf von der CDU/CSU: Er tut so, als wenn er 80 % hätte! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU.)

    Nun hat Herr Barzel mit fast üblicher staatsmännischer Besorgnis gemeint, der Bundeskanzler tue nichts, jedenfalls nichts Entscheidendes, gegen — wie es auch schon außerhalb des Hauses hieß — die folgenschwere Entwicklung eines Antiamerikanismus. In diesem Zusammenhang ist auch Herr von Wechmar, der Leiter des Presse- und Informationsamtes, zitiert worden. Ich zitiere ihn. Man könnte noch ein paar andere Dinge zurechtrücken; das wird vielleicht noch geschehen. Bei mir würde das jetzt zu weit führen. Wo es um Herrn von Wechmar und um dieses Thema geht, da heißt es in seinem Gespräch mit dem Süddeutschen Rundfunk vom 31. März — also von vor wenigen Tagen —, als von einer doppelten Sorge die Rede war, wörtlich:
    Wenn ich sage, in doppeltem Sinne: dem Bundeskanzler liegt selbstverständlich ein freundschaftliches, enges und solides Verhältnis zwischen den beiden Staaten USA und Bundesrepublik am Herzen, zum anderen aber beobachtet er wie ich mit zunehmender Sorge — dies hat einen anderen Grund —, daß sich die Öffentlichkeit in diesem Lande

    (Abg. Rawe: Nicht die Öffentlichkeit, Ihre Parteifreunde!)

    wie in den Vereinigten Staaten offenbar ohne einen sehr konkreten Anlaß hineinredet in eine Psychose des Antiamerikanismus. Ich bin sicher, daß das, was sich jetzt als Antiamerikanismus manifestiert,
    — ich bitte, sich den Ausdruck zu merken; er ist in diesem Zusammenhang zutreffend —
    uns in einigen Monaten auch wieder verlassen haben wird.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Wandern die Jusos aus? — Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)

    — Ach, wissen Sie, was ich hier schon an Antiamerikanismus erlebt habe in einer Zeit, zumal vor zehn Jahren, als die CSU und CDU eine amerikanische Regierung — es war die Regierung Kennedy — bekämpft haben, als glaubten sie, sie wüßten besser, was den Interessen Amerikas dient als die dort gewählte Regierung!?

    (Abg. Rawe: Schon wieder ein neuer Popanz! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU.)

    — Das ist kein Popanz. Sie können das nachlesen. Da ist ein Ihnen allen bekannter amerikanischer General vom Petersberg zu mir heruntergekommen und hat gesagt:

    (Abg. Rawe: Bringen Sie erst einmal die Sache mit Ihren Jusos in Ordnung! — Abg. Dr. Jenninger: Der „Kanzler der Alliierten" ! — Fortgesetzte weitere Zurufe von der CDU/CSU.)

    Jetzt werde ich hier von Ihrer Regierung betrachtet und behandelt, als würde ich die deutschen Interessen mit anderen zusammen, mit den Russen, beiseite kehren. — Seien Sie einmal ein bißchen vorsichtig, gerade auch Herr Strauß und andere!

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Strauß: Was haben Sie nach dem Mauerbau erklärt? Ausgerechnet Sie!)

    Aber es sind in der Tat auch in diesen Monaten und in diesen Wochen Meinungen geäußert worden, die ich unverzüglich kommentiert und korrigiert habe. Solche Meinungen haben auf die Bundesregierung so wenig Einfluß wie das Gespenst des Antiamerikanismus, das die Opposition produzieren möchte;

    (Abg. Dr. Jenniger: Das produzieren andere!)

    nicht zu Ihrem Nutzen, meine Damen und Herren, sondern vielmehr zum Schaden der Allianz! Ich notiere hier kühl einen Mangel an Verantwortungsbewußtsein.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Rawe: Meinen Sie den Oberbürgermeister von Frankfurt und die Jusos? Dann liegen Sie richtig! — Abg. Strauß: Bei den Linksradikalen Ihrer Partei, ja! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)

    Lokale Spannungen, die wir hier und da beobachtet haben, erklären sich zum Teil aus den üblichen Konflikten zwischen militärischen Notwendigkeiten und weithin berechtigten Wünschen der Bevölkerung. Das ist kein amerikanisch-deutsches Problem.

    (Beifall bei der SPD.)

    Solche Probleme gibt es in Ländern, in denen überhaupt nur einheimische Truppen sind. Solche Probleme gibt es zu Hause bei den Amerikanern, gibt es in einem neutralen Land wie Schweden. Sie er-



    Bundeskanzler Brandt
    geben sich zumal in einer umweltbewußteren Umgebung zwischen der Bevölkerung und denen, die sich für Übungsplätze, für Flugplätze und so etwas zu interessieren haben. Deshalb sollte man hier die Dinge nicht schlimmer machen, als sie sind.
    Ich höre hier Zurufe, die sich auf den bevorstehenden Parteitag der SPD beziehen. Da will ich Ihnen einmal etwas sagen: Der wird Sie sehr enttäuschen.

    (Abg. Strauß: Sie auch!)

    Es wird Ihnen nämlich eine SPD zeigen, die nach harter innerer Diskussion um weiteres Vertrauen der Menschen in diesem Land zu ringen versteht. Das wird der Parteitag Ihnen zeigen.

    (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der CDU/CSU.)

    Nun sagen Sie etwas über Anträge, und das wird dann mit unter das Rubrum Antiamerikanismus gebracht. Sie sagen, es gebe dort sogar Anträge, die sich auf Stationierungskosten beziehen, was ja an sich schon ein Quatsch-Ausdruck ist.

    (Zuruf des Abg. Dr. Jenninger)

    Damit meinen die Betreffenden die Offset-Regelungen, die ja viele der Mitbürger nicht recht verstehen; da haben wir uns alle miteinander nicht mit Ruhm bekleckert, die früheren Regierungen nicht, auch die jetzige nicht, was das Verständlichmachen dieses Vorgangs, den man Offset-Regelungen nennt, angeht; er ist auch nicht so leicht zu erklären. Nur will ich Ihnen einmal sagen: Die Ortsvereine, die in dem Antragsheft, auf das sich Herr Wehner vorhin bezog, zum Thema Stationierungskosten gleich Offset etwas geändert haben wollen, vertreten 0,2 Promille der Ortsvereine der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Damit können wir noch allemal bestehen, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der CDU/CSU.)

    — Das hatte jetzt keinen Doppelbezug, sondern die „Promille" waren einfach ein statistischer Bezug, wie er mir in diesem Zusammenhang richtig eingeführt schien.

    (Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU.)

    Im übrigen belehrt Sie ein Blick auf die objektiven Ziffern des Haushalts

    (Abg. Dr. Wörner meldet sich zu einer Zwischenfrage)

    — ich möchte jetzt fortfahren —, daß diese Bundesregierung die Fragen der Sicherheit ernst nimmt. Der deutsche Beitrag ist nach internationalen Vergleichen trotz eines Engpasses wegen der Veränderung der Dienstzeit höher als der unserer europäischen Partner im Bündnis.

    (Abg. Rawe: Aber um 6,4% geringer geworden!)

    Der amerikanische Präsident, Nixon, hat in seiner jüngsten Fernseherklärung die Fragen der Anwesenheit amerikanischer Truppen auf wohlabgewogene und nüchterne Weise in einen klaren
    Zusammenhang gestellt mit den vorbereitenden Gesprächen über eine gegenseitige und ausgewogene Reduzierung von Trupppen. Dort gehören diese Fragen in der Tat hin. Sie, meine verehrten Damen und Herren, mögen vielleicht, wenn Sie Nixons Äußerungen nachlesen konnten, notiert haben, daß er, der Präsident der USA, sich dabei jeder Emotionalität enthalten hat. So sollten wir es, zumindest was dieses Thema angeht, auch hier halten.
    Für einseitige Vorleistungen gibt es — hier greife ich das Wort des Bundesfinanzministers von vorgestern auf — nicht den geringsten Anlaß. An der Notwendigkeit amerikanischer Präsenz auf diesem Kontinent und in diesem Land gibt es keinen Zweifel. Es braucht wohl keine Bestätigung, meine Damen und Herren, daß über europäische Sicherheit und Zusammenarbeit sinnvoll nur verhandelt werden kann, wenn die Vereinigten Staaten am Konferenztisch so anwesend sind, wie es ihnen zukommt und wie wir es wünschen müssen. In Helsinki ist dies täglich sichtbar.
    Die Vorbereitung für die Gespräche zur Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa unter den neun Mitgliedsnationen der Europäischen Gemeinschaft war von eindrucksvoller Qualität. Auch hier ist die Gemeinschaft gegenwärtig in völlig natürlicher und harmonisierter Zusammenarbeit mit den Institutionen der NATO. Das Wort von der Solidarität in der Gemeinschaft und im Atlantischen Bündnis übertreibt nicht.
    Ich unterstreiche mit betonter Zuspitzung auch dies noch einmal: Normalisierung und gute Nachbarschaft, die das Ziel unserer West-Ost-Politik sind, haben wir immer verstanden als sich aufbauend auf dem, was wir mit unseren Partnern im Westen gemeinsam schaffen, und in dies eingebettet. Und die Praktiker der auswärtigen Politik sehen, wie die bilateralen Aspekte unserer Ost-West-Beziehungen immer mehr durch die multilateralen Aspekte dieser Politik überschattet werden.
    Dem Besuch aus Moskau, den ich einleitend erwähnte, sehen wir mit aufmerksamer und, was mich selbst angeht, guter Erwartung entgegen, denn wir werten ihn als einen Beweis der erstrebten Normalisierung unserer Beziehungen zur Sowjetunion.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Diese Normalisierung, auf die Sowjetunion, Polen und die anderen Partner des Warschauer Paktes bezogen, bedingte die Solidarität des Bündnisses. Man sollte sich daran erinnern, daß die Politik der Entspannung aus der Atlantischen Allianz selbst herausgewachsen ist, nämlich durch den Beschluß von Reykjavik vom Juni 1968.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Unsere Friedenspolitik, deren erste wichtige Stationen die Verträge von Moskau und Warschau waren, fügte sich nahtlos in die Friedensdiplomatie des amerikanischen Präsidenten ein, die der Welt beim Gipfelgespräch in Moskau, nämlich bei dem Gespräch Nixon-Breschnew oder Breschnew-Nixon



    Bundeskanzler Brandt
    — in welcher Reihenfolge immer man die Namen setzen will , sichtbar wurde.
    Gleichzeitig intensivierten wir unsere Anstrengungen, die europäische Union zu bauen, nicht nur, Herr Kollege Barzel, von ihr zu sprechen. Aber der Weg ist mühsam. Wir mußten doch anfangen — und das ist nicht ein Vorwurf an Ihre Adresse, sondern ein Vorwurf an voraufgegangene sehr magere Jahre der europäischen Zusammenarbeit und Einigung an einem recht ungünstigen Ausgangspunkt. Der Weg ist also mühsam — darüber gab es wohl niemals eine Illusion —, aber wir wissen, daß sich die Mühe lohnt. Die Zielsetzungen sind konkret. Wir streben zur Wirtschafts- und Währungsunion, zur politischen Union und, meine Damen und Herren, zur europäischen Sozialunion.

    (Beifall bei der SPD.)

    Das letzte große Programm, das ich mit dem Namen „europäische Sozialunion" umreiße, ist nun nach Plänen, die von dieser Bundesregierung ausgearbeitet worden sind, auf den Weg gebracht worden. Ich unterstreiche, daß sich auch bei den Währungsverhandlungen der hinter uns liegenden Monate und Wochen unsere Gemeinschaft nicht spalten., nicht auseinanderdividieren ließ, obwohl unsere Maßnahmen nicht völlig harmonisiert werden konnten. Dabei ist entscheidend, daß die deutsch-französische Solidarität eine neue Bewährungsprobe zu bestehen vermochte und daß wir mit dem britischen Partner schon in der ersten Zeit der britischen Mitgliedschaft auch sehr eng haben zusammenrücken können, obwohl für den Kenner war verständlich, welches großes Land ich vorhin meinte, als ich von Hindernissen sprach — bestimmte objektive Schwierigkeiten einen noch rascheren Fortschritt jetzt nicht möglich machten.
    Der Übergang von der ersten zur zweiten Stufe der WWU, der Wirtschafts- und Währungsunion, wird zu Beginn des kommenden Jahres vollzogen. Dazu werden die Vorschläge der Kommission bald vorliegen. Für den Fortgang dieses Prozesses ist es wichtig, daß die Unterschiede in der Währungspolitik innerhalb der Gemeinschaft möglichst rasch überwunden werden.
    Der Fonds für währungspolitische Zusammenarbeit konnte, wie Sie wissen, erst mit einwöchiger Verspätung in Gang gebracht werden; das ist wohl eine erträgliche Säumnis.
    Ich möchte von dieser Stelle aus, wo ich zu diesem Thema spreche, gern. die Gelegenheit nutzen, dem neuen Präsidenten der Europäischen Kommission, Herrn Ortoli, der uns in der vergangenen Woche besucht hat, die guten Wünsche der Bundesregierung für seine und der Europäischen Kommission Arbeit auszusprechen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Auch die europäischen Fortschritte und die Entspannung bedingten einander. Wenn man sich mit großer Anstrengung blind stellt, dann mag man daran vorbeisehen, daß sich die Erfolge beim Aufbau der Europäischen Gemeinschaft und die Konsolidierung unserer Entspannungspolitik nach Osten entsprechen. So ist es gedacht, und so begreifen es unsere Nachbarn, die eben nicht blind sind.
    Der Weg der Entspannung ist mühselig, und zwischen den beiden deutschen Staaten hat das eine besondere Mühsal. Ich erinnere hier in dieser Intervention ein letztes Mal an die Debatte über die Regierungserklärung im Januar dieses Jahres. Ich nannte es eines unserer entscheidenden Ziele, die Ratifizierung und Erfüllung des Grundvertrages zustande zu bringen, unter der konsequenten Forderung — wie ich hinzufügte: egal, wie lange es braucht, bis diese Forderung erfüllt ist —, daß auch an der Grenze zur DDR täglicher Frieden einkehren wird und ein Höchstmaß an Freizügigkeit herüber und hinüber erreicht werden kann.
    Wir haben nun, Herr Kollege Barzel — um auch auf diesen Teil Ihrer Bemerkungen noch zu sprechen zu kommen —, noch vor Ratifizierung des Grundvertrages, was man dabei immer bedenken muß, einiges erreicht. Gewiß, es ist kein Höchstmaß an Normalisierung, gewiß, es ist nicht schon das für die jetzige Phase erwünschte Maß an Normalisierung. Doch wir, die Regierung, neigen auch in diesem Bereich unserer Politik ganz gewiß nicht zu Illusionen. Wir machen uns, was die Komplikation der Probleme zwischen den beiden deutschen Staaten angeht, nichts vor; aber wir lassen uns auch nichts vormachen.
    Ich muß es zurückweisen, daß die sachliche Materialzusammenstellung, die Herr Kollege Franke von seinem Ministerium hat vornehmen lassen und Ihnen dann nach Abstimmung mit den anderen Ressorts unterbreitet hat — auch wenn sie dem einen oder anderen wegen ihrer nüchternen Sachlichkeit nicht passen mag --, als unehrlicher Bericht abqualifiziert wird; das ist nicht in Ordnung.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Rawe: Diese Bemerkung ändert nichts daran, daß es so ist!)

    Wir haben seit 1970 in jedem Jahr Materialien unterbreitet und diesmal ganz bewußt solche, die uns helfen können, im Zusammenhang mit der zweiten Lesung des sogenannten Grundvertrags einmal, wie Sie es sonst nennen — und wir manchmal auch —, eine Bestandsaufnahme zu machen: Wie steht es eigentlich? Wie weit sind wir noch auseinander oder erst recht auseinander, auf welchen Gebieten beginnt aber doch etwas, sich zum Besseren, zum Leichteren zu wenden? Da kann man so leicht sagen, das sei alles nichts. Wenn im Dezember 1972 341 000 Menschen von hier drüben waren, ist das mehr als nichts, meine Damen und Herren!

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    In den ersten Monaten des Jahres nach den Feiertagen gehen die Zahlen immer zurück, aber im Januar waren es dann doch 135 000, im Februar 146 000; die Zahlen für März habe ich noch nicht. Bei den Einreisen aus der DDR in die Bundesrepublik — ich lasse die Berliner Zahlen aus, die ja besonders eindrucksvoll sind — waren es zwischen Mitte



    Bundeskanzler Brandt
    Oktober und Ende Februar als Teil dieser Politik ohne Ratifizierung des zitierten Vertrages 141 000 Besucher, davon 30 000 in dringenden Familienangelegenheiten,

    (Beifall bei der SPD)

    d. h. auf Grund eines Tatbestandes, auf den man sich zuvor nicht berufen durfte. Das ist alles viel zuwenig, aber für jeden dieser 30 000, die zu einer schwerkranken Mutter reisen konnten

    (Oh-Rufe von der CDU/CSU. — Beifall bei den Regierungsparteien)

    oder die zu einer Beerdigung reisen konnten oder die auf der sympathischeren, fröhlicheren Lebensskala zu einer Kindstaufe, zu einer Hochzeit kommen konnten, für alle die ist dies wertvoll, und wir freuen uns mit ihnen darüber.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zuruf des Abg. Rawe.)

    In jedem einzelnen Fall hat sich der Wunsch erfüllt, wenn auch noch lange nicht in genügend Fällen, Menschen zueinanderzubringen, Bindungen zwischen Familien und Freunden zu festigen, Kontakte zu finden. Insofern bestätigt jeder solche zusätzliche konkrete Fall eine konkrete Politik für Menschen und für die Menschlichkeit als Inhalt unserer Politik.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ich glaubte eigentlich nicht, daß ein Mitglied dieses Hauses kaltschnäuzig genug sein könnte, zu meinen, dies alles bedeute nichts.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zuruf von der CDU/CSU.)

    Ansprüche anzumelden ist leicht, aber die Wege zu finden, sie Wirklichkeit werden zu lassen, das verlangt mehr als den teutonischen Nihilismus einer Alles-oder-nichts-Gesinnung,

    (Beifall bei den Regierungsparteien)

    das verlangt eine nationale Tugend, in der wir uns vielleicht miteinander noch mehr üben müssen. Ich meine die Tugend der Geduld, meine Damen und Herren!

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Rawe: Die sollten Sie beim Verhandeln geübt haben, das hätte Ihnen gut angestanden!)

    Die Opposition wird von zwei Parteien gestellt, die sich in besonderer Weise in der Tradition der christlichen Kirchen wähnen.

    (Zurufe von der CDU/CSU.)

    In dieser Tradition sind geschichtliche Prozesse zu Recht immer in der Analogie zu Erziehungsprozessen gesehen worden. Da war zu Recht immer die Rede vom langen Atem, von der Festigkeit im Grundsatz und der Geduld und Flexibilität, was das Verfahren angeht. Von diesem Geist und dem zugrundeliegenden Menschenbild zeugt zu meiner Freude, was der Informationsdienst des Katholischen Arbeitskreises für zeitgeschichtliche Fragen in diesen Tagen zum Grundvertrag ausgeführt hat.
    Ich kann es nur dem Studium der verehrten Kollegen der CDU CSU-Fraktion anempfehlen.

    (Abg. Dr. Mertes [Gerolstein] : Darin gibt es verschiedene Meinungen! — Gegenruf des Abg. Wehner.)

    Auch ein wenig bescheidener Mut gehört freilich zu dem, worum wir uns bemühen, nämlich Mut, Enttäuschungen über zu hoch geschraubte Erwartungen durchzustehen, Mut, den Mangel an Souveränität auf der anderen Seite mit Beharrlichkeit und Festigkeit zu überwinden, Mut, einer Aufgabe der Menschlichkeit ohne Demagogie zu genügen.
    Unser Auftrag ist es, meine Damen und Herren, die nationale Substanz zu bewahren, und die Bundesregierung wird diesem Auftrag mit unbeirrter Geduld und mit der nötigen Härte dienen.

    (Anhaltender starker Beifall bei den Regierungsparteien.)