Rede von
Dr.
Anke
Riedel-Martiny
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte das fortsetzen, was Herr Dr. Vohrer hier eben begonnen hat, und einige Aspekte verfolgen, die in der Debatte bisher noch keine Rolle gespielt haben. Ich möchte mich vor allen Dingen mit dem Sektor der Verbraucherpolitik und mit dem Weltagrarhandel befassen, was auf den ersten Blick nicht sehr viel miteinander zu tun hat, und zu einem zweiten Blick werden wir wohl heute nicht die Zeit haben; aber sei's drum.
Mit Genugtuung kann man dem Agrarbericht entnehmen, daß bei den Nahrungsmitteln im vergangenen Jahr im EWG-Bereich zugunsten der Verbraucher Maßnahmen gegen Preissteigerungen ergriffen worden sind. Es steht zu lesen, daß Lagerbestände von Fleisch aufgelöst wurden, Einfuhrerleichterungen für Schafe und für Lammfleisch in Kraft traten und Zollsenkungen für Kälber und Rinder beschlossen wurden. Auch ist die Rede von der Ausgabe verbilligter Butter an Sozialhilfeempfänger und außerdem von der Erlaubnis, Butterschmalz herzustellen oder Lagerbutter verbilligt abzugeben. Das alles haben Sie sicherlich gelesen. Ich meine trotzdem, daß man im Interesse der Verbraucher fragen sollte, ob die Verbilligung der Butter den Verbraucher, selbst wenn sie ihm kurzfristig nützt, langfristig nicht doch etwas teuer zu stehen kommt angesichts des Milchüberschusses im EWG-Bereich, der ja doch eine ganze Menge Geld kostet.
Ein wenig kritisch kann den Beobachter unter dem Aspekt der Preisstabilität in diesem Zusammenhang auch die Tatsache stimmen, daß er im Bericht über Ernährung, Landwirtschaft und Forsten vom 4. Quartal 1972 lesen muß, die Versorgung mit Tomatenkonzentraten werde zunehmend schwieriger, weil infolge der Schutzmaßnahmen der Europäischen Gemeinschaft keine ausreichenden Einfuhrlizenzen erteilt werden konnten, obwohl Italien und sogenannte Garantieländer wie Griechenland nicht mehr lieferfähig waren. Die Preise bei Tomatenkonzentraten — „Tomatenmark" für den Laien — sind demzufolge um bis zu 60'0/o gestiegen. Hieraus kann man wohl als Verbrauchervertreter den Anspruch ableiten, daß die Schutzmaßnahmen in Einzelfällen insbesondere unter dem Aspekt der Preisstabilität noch kritischer überprüft werden.
Der Agrarbericht betont das Wachsen des Gesundheitsbewußtseins der Bevölkerung. Dem ist zuzustimmen — auch dann, wenn sich dieses gewachsene Gesundheitsbewußtsein meistens an Punkten äußert, wo in der Versorgung mit gesunden Nahrungsmitteln Mängel sichtbar sind.
In diesem Zusammenhang kommt der anstehenden Reform des Lebensmittelrechts große Bedeutung zu. Hier wird insbesondere darauf zu achten sein, daß Chemikalien, selbst wenn sie nur den Verdacht auf Gesundheitsschädlichkeit zulassen, zur Haltbarmachung von Lebensmitteln nicht verwendet werden dürfen.
Auch muß eine wirkungsvolle Kontrolle der Lebensmittel gesichert werden. Die Öffentlichkeit sollte sich ausdrücklich ermuntert fühlen, ihr elementares Recht auf gesunde Ernährung zum Ausdruck zu bringen, ganz gleich, ob sich dieses Recht nun im Anspruch auf weniger fettreiche Milch oder in der Ablehnung von Marktplätzen am Rande bleiverseuchter Hauptstraßen Bahn bricht.
Was die gleichmäßige Versorgung der Bevölkerung mit qualitativ hochwertigen und preisgünstigen Lebensmitteln angeht, so muß, meine ich, verstärkte Aufmerksamkeit dem ländlichen Raum gewidmet werden. Hier könnte man einige Zwischenrufe aufgreifen, mit denen Herr Stücklen versucht hat, die Aussprache zu beeinflussen.
Ich meine nämlich, daß es völlig verkehrt ist, die Versorgung im ländlichen Raum hier auszuklammern; denn hier fehlt, was in verdichteten Gebieten die Regel ist: ein vielfältiges Angebot durch mehrere konkurrierende Geschäfte. Allzu leicht geht man bei der Betrachtung des ländlichen Raums hinsichtlich seiner Versorgung mit Lebensmitteln von der irrigen Annahme aus, hier habe jeder noch sein Gärtchen mit Frischgemüse und Obstbäumen, seine Kuh für die Milch sowie einige Hühner und mäste alljährlich aus den Küchenabfällen das im Winter zu schlachtende deutsche weiße Edelschwein.
Dies ist aber längst nicht in dem angenommenen Maße der Fall, so daß weite Bevölkerungsteile auf dem Lande nachweislich nicht hinreichend mit frischem Obst und frischem Gemüse versorgt sind.
Auch die Versorgung mit Tiefkühlkost und vorbereiteter Nahrung läßt hier vielfach zu wünschen übrig. Ein einziges Geschäft am Ort verkauft häufig zwischen Schuhbändern, Glühbirnen und Schulturnhosen auch Nahrungsmittel,
darunter am Montag sehr häufig die von Freitag verbliebenen Restbestände an Salat und Weintrauben.
Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Bedeutung von Wochenmärkten und ambulanten Händlern für Obst, Gemüse und Molkereiprodukte unterstreichen.
Deutscher Bundestag-7. Wahlperiode— 17. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Februar 1973 759
Frau Dr. Riedel-Martiny
Der Agrarbericht weist ferner auf mangelnde Aufgeschlossenheit der sozial schwachen Schichten für die haus- und ernährungswirtschaftliche Beratung hin. Hier muß bedacht werden, daß zwischen sozialer Schicht und Bildungsniveau ja wohl unbestreitbare Zusammenhänge bestehen. Wer eine nur wenig qualifizierte Ausbildung hat, verdient nicht nur wenig, sondern erweist sich auch in seinem Verhalten als Verbraucher weder als besonders kritisch noch als ausgesprochen findig, d. h. er pflegt durch ungünstigen Einkauf die geringe Menge seiner Einkünfte weit stärker anzuzapfen, als dies der sogenannte Gebildete mit seinem Mehr an Geld zu tun pflegt. Darauf sollten auch die Versorgung im ländlichen Raum und außerdem die Aufklärungsarbeit in diesen Regionen und für sozial schwache Schichten eingestellt sein.
Ich vermisse im Agrarbericht Angaben über eine Erfolgskontrolle bei Maßnahmen der Verbraucheraufklärung. Die Aktion „Vorrat ist ein kluger Rat" wird ohne Zweifel öffentlichkeitswirksam durchgeführt. Dennoch wüßte man gern, wie viele Frauen und Männer aus welcher Altersgruppe und aus welcher sozialen Schicht sich an dieser Aktion beteiligen.
Eine ähnliche Erfolgskontrolle wäre hinsichtlich der gezielten ernährungskundlichen Arbeit angebracht, die vom Bund erheblich unterstützt wird. Z. B. weist der Agrarbericht eindeutig aus, daß immer mehr Menschen mittags in Kantinen essen. Angaben über eine ernährungskundliche Kontrolle des Kantinenessens im gesamten Bundesgebiet fehlen aber, desgleichen Hinweise darauf, inwieweit sich in der Bevölkerung die Erkenntnis durchgesetzt hat, daß man den häufigen Mängeln des Kantinenessens durch überlegte Ausgleichsernährung zu Hause begegnen muß.
Diese ernährungskundlichen Schwerpunktprogramme — zum einen Verpflegung in Ganztagsschulen, zum anderen der Großversuch zur Ernährungsaufklärung im Medienverbund — verdienen anerkannt zu werden. Diese Anerkennung soll aber gleichzeitig, meine ich, dazu herausfordern, das Untersuchungsprogramm auf diesem Gebiet zu erweitern.
Ein anerkennendes Wort in diesem Zusammenhang auch zu den wöchentlichen Preiserhebungen bei Nahrungsmitteln. Hier sollten künftig allerdings auch die ländlichen Gebiete miterfaßt werden, und nicht nur die Mittel- und Großstädte, um die Angaben nicht einseitig werden zu lassen.
Ich halte es für begrüßenswert, daß die Verbraucher bei der Vorbereitung von Gesetzgebungsvorhaben gehört werden sollen, wenn diese ihre Interessen berühren. Allerdings macht mich ein wenig stutzig, daß der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft in der Fragestunde der vergangenen Woche auf meine diesbezügliche Frage eine sehr allgemein gehaltene Antwort gab.
Die Verbraucherverbände verfolgen ein legitimes Interesse, wenn sie bei der Bundesregierung auch künftig darauf drängen, zu Gesetzesvorhaben gehört zu werden, in denen Verbraucherinteressen angesprochen werden.
Insgesamt muß man dem Agrarbericht bescheinigen, daß er ein redliches Bemühen um Ausgleich zwischen den Interessen der Erzeuger und der Verbraucher zeigt. Da dieser Konflikt aber niemals ganz zu lösen sein wird und die Erzeugerseite außerdem über eine sehr aktive Interessenvertretung verfügt, wird mancher kritische Einwand der Verbraucherorganisationen gegenüber dem hier vorliegenden Bericht verständlicher. Es herrscht ganz ohne Zweifel ein Nachholbedarf an öffentlicher Aufmerksamkeit auf seiten der Verbraucher.
Ein ähnlich latenter Interessenkonflikt liegt im Agrarhandel zwischen entwickelten Ländern und Entwicklungsländern vor; davon war heute noch gar nicht die Rede. Es ist zu begrüßen, daß der Bericht zu diesem Problem klar Stellung bezieht. Die Verantwortung der Europäischen Gemeinschaft besteht nämlich in der Tat zunehmend in der Aufgabe — ich zitiere hier mit der gütigen Erlaubnis des Präsidiums —, „zu einer tragfähigen, internationalen Lösung der Weltagrarprobleme sowie zur Lösung der sich aus ihrer Erweiterung ergebenden speziellen Probleme beizutragen."
Daß die Bundesregierung sich definitiv dazu bekennt, durch den Abbau von Handelshemmnissen ihren Beitrag zur Vergrößerung des Weltagrarhandels zu leisten — dies auch bei sogenannten konkurrierenden Produkten —, kann ihr nicht hoch genug angerechnet werden.
Es ist zu hoffen, daß der Wille, sich bei Agrarexporten in Entwicklungsländer stärker als bisher auf die Bedürfnisse der Importländer einzustellen und auf der anderen Seite den Entwicklungsländern einen verstärkten Zugang zu den Märkten der entwickelten Länder, also auch der EWG, zu öffnen, bei den Partnerländern innerhalb der Europäischen Gemeinschaft stärker als bisher durchdringt.
Die Bemerkung unter Ziffer 187 des Berichtes, daß das nicht erreichte Wachstum des Bruttosozialprodukts der Entwicklungsländer auf dem Agrarsektor durch ein stärkeres Wachstum auf dem gewerblichen Sektor um noch mehr als 8 % ausgeglichen werden könnte, erscheint allerdings nicht besonders realistisch.
Die geschilderten Ziele der internationalen, nationalen und gemeinschaftlichen Agrar- und Handelspolitik, die der Bericht im einzelnen nennt, verdienen Zustimmung und Anerkennung. Insbesondere ist ein Hinweis darauf angebracht, wie positiv sich die Bundesregierung gegenüber der von der FAO eingeleiteten sogenannten Anpassungsstudie einstellt.
Ich darf hierzu eine frühere Äußerung von Minister
Ertl heranziehen: „Die Gemeinschaft muß bereit
760 Deutscher Bundestag-7. Wahlperiode— 17. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Februar 1973
Frau Dr. Riedel-Martiny
sein, agrarpolitische Entscheidungen auch unter weltpolitischen Gesichtspunkten zu treffen."
Ich meine, auch in Anerkennung der großen Hilfen, die über die Agrarhilfe und die Nahrungsmittelhilfe der Bundesrepublik und die durch die Europäische Gemeinschaft insgesamt gegeben werden, darf es damit nicht sein Bewenden haben, wenn man die Zielprojektion ernst nimmt, derzufolge die Entwicklungsländer befähigt werden sollen, ihren Nahrungsmittelbedarf aus eigener Kraft — sei es aus gesteigerter Erzeugung, sei es durch kommerzielle Einfuhren — selbst zu decken.
Eines jedoch ist bei der notwendigen Anpassung der Agrarstruktur entwickelter Staaten an die Bedürfnisse der Entwicklungsländer unabdingbar: daß nämlich diese Anpassung nicht ausschließlich von den in der deutschen oder europäischen Landwirtschaft beschäftigten Landwirten geleistet werden darf, sondern von der Wirtschaft in ihrer Gesamtheit, und hier bleibt noch viel Raum für die parlamentarische Diskussion der kommenden Jahre.