Rede von
Engelbert
Sander
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte zunächst die Absicht, in meinem Diskussionsbeitrag ein wenig näher auf den Diskussionsbeitrag von Herrn Kiechle einzugehen. Das hat sich jetzt erübrigt; der Bundeswirtschaftsminister hat in einer überzeugenden Weise dazu Stellung genommen, und ich bin insoweit dieser Aufgabe enthoben.
Wenn ich trotzdem noch ein Wort zu der Polemik von Herrn Kiechle über die Eigentumsfrage sagen darf,
dann dieses, daß sich eine Auseinandersetzung über das Thema „Eigentum" in diesem Hause über Tage führen ließe und daß es möglich wäre, genauso lange Äußerungen der verschiedenen Gruppen und Einrichtungen unserer Gesellschaft zu dieser Frage zu zitieren.
Ich darf Herrn Kiechle empfehlen, sich mit dem Memorandum, das hier mehrfach zitiert worden ist, einmal näher zu beschäftigen, insbesondere auch mit dem Vorwort, in dem es u. a. heißt:
Ein weiteres Treibenlassen der Entwicklung würde zu Verhältnissen führen, die radikale Maßnahmen rechtfertigen würden.
Ich meine, das sagt alles, und dem ist sicherlich nichts hinzuzufügen.
Meine Damen und Herren, diese Debatte dient der Aussprache über den Agrarbericht der Bundesregierung. Es steht also zur Diskussion, was die Bundesregierung im vergangenen Jahr auf dem Gebiete der Agrarpolitik geleistet hat. Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang einige kurze Bemerkungen zur Agrarstrukturpolitik.
Es gehört zur Binsenwahrheit jeder Agrardebatte, daß eine positive Entwicklung für die Landwirtschaft auf Dauer nur möglich ist, wenn zuvor u. a. die Agrarstruktur dieser Landwirtschaft durchgreifend verbessert wird Dieser Zusammenhang ist immer gesehen worden. Die Verbesserung der Agrarstruktur war, ist und bleibt damit ein Schwerpunkt jeder Agrarpolitik.
Den heutigen Stellenwert dieses Schwerpunktes können Sie an den für die Landwirtschaft bedeutsamen Gesetzen über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" und über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" mit den dazu bereits erlassenen Rahmenplänen erkennen. Der Rahmenplan „Agrarstruktur und Küstenschutz" sieht eine Ausgabe in Höhe von 1,2 Milliarden DM für das Jahr 1973 vor. Daran mögen Sie erkennen, daß die Agrarstrukturpolitik nicht stehengeblieben, sondern weiterentwickelt worden ist, und daß auch für die Zukunft die Absicht besteht, eine ganze Menge dafür zu tun. Trotzdem — lassen Sie mich das hinzufügen — bedarf sie auch in der Zukunft noch einer konsequenten Fortsetzung. Darauf komme ich ein wenig kritisch — ich will es gleich vorweg sagen — noch zurück.
Lassen Sie mich ganz kurz auf die Vergangenheit eingehen. Der Strukturwandel, der sich in der Landwirtschaft vollzogen hat und immer noch vollzieht, ist einer der größten in unserer Volkswirtschaft. Seit 1949 sind rund 800 000 landwirtschaftliche Betriebe aufgegeben worden; das sind über 40 %.
Seit 1960, in etwas mehr als zehn Jahren, sind 477 600 Betriebe aufgelöst worden, — eine beachtliche Zahl. Der Rückgang an Erwerbstätigen in der Landwirtschaft betrug seit 1949 über 3 Millionen. Die Zahl der Vollarbeitskräfte ist, um eine andere Zahl zu nennen, seit 1960 jährlich um etwa 80 000 — das sind 4,5 % — zurückgegangen. Dieser Trend wird sich fortsetzen. Für das Jahr 1980 wird die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe insgesamt auf 800 000 geschätzt. Heute haben wir nach dem Agrar-
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Sander
bericht noch 1,14 Millionen Betriebe, wovon 39 % oder 445 000 Vollerwerbsbetriebe, 16 °/o oder 185 000 Zuerwerbsbetriebe und 45 % o oder 510 000 Nebenerwerbsbetriebe sind. Die Beschäftigtenstruktur — heute zählen wir noch rund 1,34 Millionen Vollarbeitskräfte — wird sich entsprechend dieser Entwicklung zwangsläufig mit nach unten entwickeln.
Wir können heute feststellen, daß sich dieser enorme Wandel ohne wesentliche Erschütterungen unseres Wirtschafts- und Sozialgefüges vollzogen hat. Daran haben die Vollbeschäftigungspolitik und die Agrarsozialpolitik ihren besonderen Anteil. Weiter können wir feststellen, daß das Volumen der bewirtschafteten Fläche nur in einem ganz geringen Umfang zurückgegangen ist. Gleichzeitig hat dieser Vorgang zu einer Verbesserung der Agrarstruktur geführt. Wir stellen nämlich fest, daß die Durchschnittsgröße je Betrieb, die 1949 noch 6,95 ha betrug, heute 11,16 ha beträgt. Das ist eine Steigerung um rund 60 °/o, die sicherlich auch zu den Einkommensverbesserungen des letzten Jahres beigetragen hat.
Eine andere Frage ist, ob diese Steigerung der Durchschnittsgrößen unserer Betriebe im großen und ganzen ausreicht, um alle Anforderungen, die sich aus der Notwendigkeit einer kostengünstigen Produktion ergeben, zu erfüllen. Diese Frage, meine Damen und Herren, möchte ich persönlich offen verneinen. Auch in Zukunft müssen wir bestrebt sein, die Flächengrößen der Mehrzahl unserer Betriebe zu erweitern, und dabei sollten wir auch prüfen, welche zusätzlichen Möglichkeiten der Agrarstrukturverbesserung sich für uns aus den Strukturrichtlinien des Ministerrats der EWG ergeben, die dieser am 17. April 1972 erlassen hat und die ja noch in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Meine Vorredner haben diese Richtlinien negativ beurteilt. Wir sollten versuchen, aus ihnen das Beste für uns zu machen.
Meine Damen und Herren, wir wissen, daß es auf Grund der Initiativen des Bundes und der Länder einen breiten Fächer agrarstruktureller Maßnahmen gibt. Sie alle aufführen zu wollen, würde zu weit führen. Aussiedlung, Ansiedlung, Flurbereinigung und Einzelbetriebliches Förderungsprogramm mögen als Stichworte genügen. Aber ungeachtet all dieser Möglichkeiten werden wir meines Erachtens schon sehr bald gezwungen sein, ein noch geschlosseneres Konzept unserer agrarpolitischen und agrarstrukturpolitischen Zielsetzungen und Maßnahmen zu entwickeln. Es werden sich Fragen stellen, auf die wir eine Antwort finden müssen, wenn wir auf Dauer zu guten und haltbaren Lösungen kommen wollen.
Wir werden z. B. nicht an der Frage vorbeikommen, ob unsere Landwirtschaft auch im Rahmen einer erweiterten EWG noch ihre bisherige Erzeugungsstruktur beibehalten kann und soll und ob sie den Nahrungsmittelbedarf unserer Bevölkerung noch in derselben Weise und in dem bisherigen Um-
fang sicherstellen soll. Damit stellt sich zugleich auch die Frage des Agrarexports.
Wir werden auch die Beantwortung folgender Frage nicht ausklammern können: Wie werden sich voraussichtlich, auf längere Sicht gesehen, Art und Menge des Nahrungsmittelverbrauchs in der Bundesrepublik verändern? Mit anderen Worten: Wie kann eine Veränderung der Verbrauchergewohnheiten mit den Möglichkeiten der heimischen Produktion in Übereinstimmung gebracht werden? Sie wissen — um nur ein kleines Beispiel anzuführen -: immer mehr Menschen essen Margarine statt Butter.
Ich meine, daß, wenn wir auf diese Fragen Antworten haben, auch die Konturen einer langfristigen Agrarstrukturpolitik sichtbar werden.
Eine andere Frage wäre dann die: Wieviel Menschen, wieviel Flächen und dergleichen werden eines Tages endgültig nötig sein, um die zuvor als notwendig erkannte Agrarproduktion zu erstellen? Dazu gehört dann automatisch die Frage nach der optimalen Produktions- und Betriebsstruktur. Oder — um konkreter zu werden —: Können und sollen hauptsächlich Nebenerwerbsbetriebe oder können und sollen vorwiegend Vollerwerbsbetriebe die Aufgabe der Ernährungssicherung übernehmen? Denn, meine Damen und Herren, daß es beide Betriebsformen auf Dauer in genügender Zahl nebeneinander geben wird, wage ich zu bezweifeln.
Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang eine kritische Bemerkung zur Zukunft der Nebenerwerbslandwirtschaft, die im Gegensatz zu dem steht, was einige meiner Vorredner hier ausgeführt haben. Hier und da wird die Nebenerwerbslandwirtschaft als die Betriebsform der Zukunft gepriesen. Schätzungen im Agrarbericht gehen davon aus, daß es im Jahre 1980 nur noch 250 000 Vollerwerbsbetriebe, daneben aber 420 000 Nebenerwerbsbetriebe geben wird. Ich persönlich teile die Meinung von der Richtigkeit dieser Schätzung nicht.
Selbst in einer im Agrarbericht angesprochenen Studie geht ein großer Teil von befragten Nebenerwerbslandwirten davon aus, daß ihre Kinder eines Tages nicht Nebenerwerbslandwirte sein werden.
Die Gründe für diese Mutmaßung sind vielfältig. Es kann und muß also damit gerechnet werden, daß die Zahl der Nebenerwerbsbetriebe schon in wenigen Jahren beträchtlich zurückgeht und damit zugleich ein großer Teil der heute noch bewirtschafteten Flächen aus der Produktion genommen wird.
Damit kann ich dann zu der Feststellung überleiten, daß zur Verbesserung der Agrarstruktur Flächen benötigt werden. Diese Flächen werden uns meines Erachtens schon in wenigen Jahren ausreichend zur Verfügung stehen. Es wird dann aber, so, wie das heute schon der Fall ist, große rechtliche und finanzielle Schwierigkeiten geben, aufnahmewillige Betriebe mit diesen Flächen aufzustocken. Auf keinen Fall darf dann bei uns eine Entwicklung wie die eintreten, die unser Kollege Martin Schmidt
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hier mit den Vorgängen in Dänemark geschildert hat. Wir müssen bereits jetzt beginnen, ein Instrumentarium zu entwickeln, mit dessen Hilfe wir diese Aufgabe lösen können. Sie wissen, wir haben bereits Einrichtungen dieser Art. Aber sie reichen nicht aus. Ich meine — um auch das noch einmal aufzugreifen —, wir sollten uns sehr ernsthaft mit der Frage der Einrichtung regionaler Bodenfonds befassen. Auch andere Modellvorstellungen können hier in die Erwägung einbezogen werden.
Wenn wir die Frage der Bodenfonds behandeln, dann darf das Problem der Sozialbrache nicht ausgeklammert werden. Mein Kollege Martin Schmidt hat dazu schon einiges gesagt. Die Frage der Sozialbrache hängt sehr eng mit den Fragen des Umwelt- und Naturschutzes zusammen. Nach dem Agrarbericht wird die Sozialbrache bis 1980 um 245 000 auf rund 500 000 ha zunehmen. Ich meine, auch die Sozialbrachen müssen sinnvoll genutzt werden. Ihre Umwandlung in Erholungsflächen, soweit wie möglich, halte ich für eine außerordentlich wichtige Aufgabe. Das vergrößerte Angebot an Freizeit muß sinnvoll genutzt werden. Die Schaffung größerer Erholungsflächen durch die Abrundung der Sozialbrachen, notfalls sogar mit bewirtschafteten Flachen, ist zugleich ein besonderer Beitrag zur Pflege und Verschönerung unserer Landschaft. Sie dient andererseits der Verbesserung der Struktur des ländlichen Raumes.
Zum Schluß einen Satz: Vorausschauende und damit steuernde Agrarpolitik ist nur möglich, wenn Regierung und Parlament bei den täglich zu treffenden Entscheidungen die künftige Entwicklung einigermaßen zuverlässig mit einbeziehen können. Nur so können Fehlplanungen vermieden werden. Ich meine, wer eine bessere Agrarstruktur will — und wir wollen sie —, der muß wissen, wie sie aussehen soll und mit welchen Mitteln sie erreichbar ist.