Rede von
Dr.
R. Martin
Schmidt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die dicken „schwarz-grünen" Tränen der Opposition sind diesmal ausgeblieben. Das war auch nicht anders zu erwarten, nachdem ja die Opposition Bundesminister Ertl bei seiner Einbringungsrede sehr viel Beifall gespendet hat.
Meine Damen und Herren, unsere Einschätzungen des vergangenen Jahres über das hier zu behandelnde Wirtschaftsjahr sind bestätigt worden, und Ihre im vorigen Jahr vorgetragene Katastrophentheorie hat sich nicht bestätigt.
Auch hat sich Ihr Versuch nicht gelohnt, die Menschen auf dem Lande krank zu beten. Das haben Sie ja auch in der Wahlnacht vom 19. November zu spüren bekommen.
— Herr Kollege Bewerunge, dies ist an Ihre ganze Fraktion, nicht an Sie persönlich gerichtet. Sie haben im vergangenen Jahre zu sehr überdreht, und wir wußten: überdrehen lohnt sich nicht. Man muß schon von Tatbeständen ausgehen und dann die Lage beurteilen.
Meine Damen und Herren, ich habe Verständnis dafür, für Sie in der Opposition, daß Sie dieses Ergebnis, das sich doch immerhin sehen lassen kann, dem Wettergott zugute schreiben. Auch wir wollen nicht abstreiten, daß dafür auch Umstände in Betracht kommen, auf die wir keinen Einfluß hatten. Wir sind mit Ihnen auch der Meinung — und wer könnte etwas dagegen sagen? —, daß der Fleiß der Bauern dazu beigetragen hat. Wer
wollte hier je behaupten, daß die Bauern keine fleißigen Leute gewesen seien?
Aber ich glaube, zwei Faktoren sind bei der Beurteilung dieses Ergebnisses zu kurz gekommen, und zwar erstens, daß die Politik der Bundesregierung für eine hohe Verbraucherkaufkraft gesorgt hat, ohne die es nicht möglich gewesen wäre, bessere Erlöse zu erzielen — aus der Rezessionszeit der Jahre 1966 und 1967 wissen wir, was Kaufkraft bedeutet —,
und zweitens, daß sich die Bundesregierung in Brüssel selbst bei Überschußprodukten erfolgreich um Preiskorrekturen bemüht und Verluste auf Grund der Ereignisse im währungspolitischen Bereich verhindert hat.
Meine Damen und Herren, wir sind über das Ergebnis des Agrarberichtes sehr befriedigt. Wir sind auch mit der Einbringungsrede des Ernährungsministers einverstanden, und wir begrüßen insbesondere auch den Teil Agrarpolitik in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers. Dieses Ergebnis wird uns nicht zu einer Euphorie verleiten. Denn wir wissen ganz genau, daß es in einigen Jahren wieder einmal ganz anders sein kann. Das haben Sie am Anfang der sechziger Jahre selber gespürt. Deswegen sollten Sie nicht so reden, als ob es ein mieses Jahr wie 1970/71 nicht auch schon früher gegeben hätte.
Und draußen im Land? Die Bauern sind im allgemeinen zufrieden. In den Dörfern ist kein Rumoren mehr. Wir haben das mit Befriedigung festgestellt. Selbst der Bauernverband konnte nicht umhin, dies ein wenig anzuerkennen, obwohl er in der Art des Zensierens teilweise danebengegriffen hat.
In dem Agrarbericht werden auch eine Fülle von Problemen angesprochen, die nach wie vor bestehen und um die wir uns kümmern müssen. Vieles ist dabei richtig dargestellt. Aber wenn wir die ganzen Probleme mal ein bißchen sortieren, wird es schon schwierig, weil wir nämlich feststellen müssen, daß ein Teil dieser Probleme auf unserer Ebene hier im Bundestag gar nicht zu lösen ist. Vielmehr liegt einiges auch in der EWG.
Ich darf daran erinnern, daß Bundesminister Ertl in seiner Rede am vergangenen Freitag auch die Problematik in der EWG richtig angesprochen hat. Man kann mit der gegenwärtigen Politik in der EWG nicht zufrieden sein. Sie befriedigt nicht. Immer, wenn es schwierig wird, wird der Schrei nach Konzeptionen laut. Da gibt es Gutachten und Denkmodelle. Auch Herr Ertl hat sie angesprochen.
Ich meine, wir können diese Gutachten und Denkmodelle nicht einfach beiseite schieben. Wir haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, und wenn sie noch so grausam sind, sie hier in unserem Hause zu diskutieren. Ich werde mir erlauben, dem Ausschuß vorzuschlagen, darüber zu verhandeln, damit man einmal sieht, was alles in den Köpfen dabei herumspukt, was vernünftig ist und was nicht ver-
Deutscher Bundestag-7. Wahlperiode— 17. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Februar 1973 733
Dr. Schmidt
nünftig ist. Ich bin mit Ihnen der Meinung, daß es eine Heilslehre für die Probleme der Landwirtschaft und des flachen Landes nicht gibt. Ich bin dafür, daß man mit großem Realismus an die Dinge herangeht.
Meine Damen und Herren, ich bin mir selbstverständlich bewußt, daß es im Augenblick — ich unterstreiche das — in der EWG-Agrarpolitik eine Fülle aktueller und schwieriger Einzelprobleme gibt, die uns in diesen Wochen noch beschäftigen müssen: erstens die Entwicklung im Währungsbereich, zweitens die sich immer deutlicher abzeichnende, nicht von ungefähr kommende Katastrophe auf dem Milchmarkt und drittens die GATT-Verhandlungen, die vor der Tür stehen und deren Bedeutung von Tag zu Tag wächst, auch für die Agrarpolitik. Ich hielte es nicht für richtig, daß wir das im Augenblick erörtern, auch nicht, daß wir die Regierung animieren, darüber Aussagen zu machen. Das ist hier nicht der Platz; wir sollten uns vielmehr im Ernährungsausschuß die Dinge einmal vortragen lassen, damit wir in der politischen Wertung nicht ganz danebenliegen.
Lassen Sie mich noch einen weiteren Hinweis geben. Der Herr Bundeskanzler hat in der Regierungserklärung davon gesprochen, daß sich die Bundesregierung in der EWG um bessere Wettbewerbsbedingungen für unsere Landwirte bemühen wird. Damit erkennt diese Bundesregierung zum erstenmal von allen Regierungen überhaupt an, daß die deutsche Landwirtschaft im Wettbewerb schlechter gestellt ist.
Das EWG-System, das wir heute haben, kann schon deswegen nicht funktionieren, weil nur die Marktordnungsinstrumente, die Preisgrenzen für den Außenhandel und die Interventionsbedingungen harmonisiert worden sind. Alles übrige ist den Einzelstaaten überlassen. Mir scheint es auf die Dauer zu unerträglichen Verhältnissen zu führen, wenn es beispielsweise den nationalen Stellen weiter überlassen bleibt, Einkommenspolitik mit Sozialsubventionen und Steuerpolitik zu betreiben — denken Sie nur an die Differenzierung der Mehrwertsteuer von 0 bis 8 °/o in der Bundesrepublik —, unter dem Vorwand von Strukturverbesserungen neue Produktionskapazitäten an falschen Standorten zu errichten, den Export dieser Erzeugnisse durch subventionierte Eisenbahntarife zu fördern und die im innergemeinschaftlichen Warenverkehr beseitigten Zölle und Kontingente durch Steuern, parafiskalische Abgaben, neue Rechtsvorschriften und Verwaltungspraktiken zu ersetzen.
Nachdem sich die EWG-Kommission trotz eindeutiger Vorschriften im Vertrag von Rom als unfähig erwiesen hat, mit diesen Praktiken aufzuräumen, muß und wird sich die Bundesregierung verstärkt darum kümmern. Das hat sie in ihrer Regierungserklärung zugesagt. Wir werden die Regierung bei diesem Bemühen natürlich auf das Beste unterstützen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, es war verständlich, daß Bundesminister Ertl am letzten Freitag die Frage der europäischen Preisprobleme ausgeklammert hat. Die Grundformulierung im Agrarbericht, sich „im Hinblick auf die allgemeine Einkommens- und Kostenentwicklung und im Rahmen der gesamtwirtschaftlichen Erfordernisse für eine Verbesserung des Agrarpreisniveaus durch gezielte Preisanhebungen" einzusetzen, ist, so meine ich, ausgewogen und richtig. Die Bauernverbände haben uns gestern ihre Preisforderungen in die Fächer gelegt. Von der EWG-Kommission ist durchgesickert, welche Absichten sie auf dem Gebiet der Preisentwicklung verfolgt. Ich möchte der Bundesregierung und allen anderen empfehlen, angesichts der Bemühungen um Stabilität und auch im Hinblick auf die schweren GATT-Verhandlungen Verstand und Vernunft dabei walten zu lassen und, wenn es möglich ist, über den Kirchturm des Jahres 1973/74 zu schauen. Damit werden wir dem Ganzen am besten dienen.
Bevor ich das EWG-Thema verlasse, gestatte ich mir noch ein paar Bemerkungen ganz allgemeiner Art. Wenn man diese Entwicklung in der EWG verfolgt, kommt man nicht umhin, erhebliche Kritik daran zu üben, daß im Laufe der letzten zehn Jahre mehr als 15 000 Verordnungen allein auf dem Agrargebiet erlassen worden sind — ohne die vielen Richtlinien Bekanntmachungen und Entscheidungen —, und das bei nur zehn Artikeln eines Vertrages, der 248 Artikel umfaßt.
Wir haben gerade gestern im Ernährungsausschuß wieder einmal ein Beispiel gehabt. Da stand eine Verordnung des Rates über die Koordinierung der Agrarforschung zur Beratung. Meine Damen und Herren, es ist uns in 20 Jahren in der Bundesrepublik nicht gelungen, die Agrarforschung zu koordinieren. Was soll nun erst in der EWG werden, wo wir es nicht nur mit sechs, sondern mit neun Ländern zu tun haben? Bitte entschuldigen Sie von vornherein meine letzte Bemerkung hierzu: In dem ganzen Konzert dieser Verordnungen und Marktordnungen fehlt nur noch eine für kleine Tierchen, die den Menschen ab und zu einmal an gewissen Körperteilen Juckreiz verursachen. Dann wäre das Ganze komplett.