Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Kollegen der Koalitionsfraktionen haben über die finanziellen Belastungen durch die flexible Altersgrenze gesprochen. Es gibt eine Reihe von Argumenten, die auch am 20. und 21. September in diesem Hohen Hause eine Rolle gespielt haben. Hier ist wiederum, wie am 20. und 21. September, mit falschen Zahlen gearbeitet worden. Während der Kollege Schmidt hier eben von einer Differenz von 24 Milliarden DM sprach, lehnen wir einfach das Zurkenntnisnehmen dieser Inanspruchnahme ab, weil es für die Annahme des Herrn Kollegen Schmidt überhaupt keinen Beweis gibt. Meine Damen und Herren, wir gehen von einer Inanspruchnahme durch die 63- und 64jährigen von 0,7 v. H. aus. Das bedeutet bis 1986 eine Belastung von 61 Milliarden DM. Die Regierung geht davon aus, daß das 76,4 Milliarden DM kostet. Wieso Sie und woher Sie auf eine Differenz von 24 Milliarden gekommen sind, ist mir völlig rätselhaft.
Dann sprechen Sie von einer soliden finanziellen Sicherung. Ich glaube, ich brauche Ihnen die Geschichte Ihrer Schätzungen der bis 1986 eintretenden Überschüsse in der Rentenversicherung nicht noch einmal vorzutragen.
60 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 19. Dezember 1972
Franke
Ich darf dabei auf das verweisen, was ich am 20. September hier zu dieser Frage gesagt habe: Sie schätzten einmal 132 Milliarden DM; unsere Kollegen schätzten, es gäbe einen Überschuß von 205 Milliarden DM. Die Kollegen von der Regierungsbank haben von einem Milliardenrausch des Katzer gesprochen, und dann mußten sie anschließend vor aller Öffentlichkeit zugeben, daß die Schätzungen der Opposition, nämlich 205 Milliarden DM, damals richtig waren. Sie gingen sogar noch so weit, mit einer Regierungsvorlage, die uns am 4. September im Ausschuß vorgelegt worden ist, die Einnahmenüberschüsse bis zum Jahre 1986 auf 221 Milliarden DM zu schätzen. Wenn Sie hier von einer finanziell unsoliden Haltung sprechen, muß man diese Ihre dreimal fehlgegangenen Einschätzungen als völlig unsolide und unseriös bezeichnen.
Der Kollege Schellenberg stützt sich auf einen Brief, den er von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte aus Berlin erhalten hat. Danach gehen die Herren, die dort schätzen, davon aus, daß nach den bisher vorgelegten Anträgen mit einer Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersgrenze von 90 und mehr Prozent zu rechnen sei. Jedem Kenner der Verhältnisse ist klar, daß man nach zwei Monaten natürlich noch keinen repräsentativen Überblick über die Inanspruchnahme haben kann. Aber wenn hier eine höhere Inanspruchnahme durch die Angestellten erfolgt, liegt das auf der Hand, weil die Angestellten in der Regel eine höhere Rente erhalten, als die Durchschnittsrenten — bei 38 Versicherungsjahren 550 DM pro Monat bei den Arbeitern — ausmachen. Ich bin genauso in der Lage, Ihnen eine Erhebung der Landesversicherungsanstalt Rheinland-Pfalz hier vorzulegen, wonach von 15 000 63- und 64jährigen bis Ende November 1000 einen Antrag gestellt haben, vorzeitiges Altersruhegeld zu beziehen. Wenn ich es ablehne, die Zahlen von Herrn Kollegen Schellenberg hier als repräsentativ anzusehen, können Sie natürlich mit gleichem Recht sagen: Auch deine Zahlen sind nicht repräsentativ. Aber selbst wenn sich die genannte Zahl — 1000 von 15 000 in zwei Monaten — auf 6000, 7000, 8000 erhöht, bedeutet das nur eine Annäherung an unsere Schätzung der Inanspruchnahme der flexiblen Altersgrenze von 60 oder 70 N. Damit fallen alle Ihre Argumente, die Sie hier heute morgen gebracht haben, zusammen. Ich will gar nicht davon sprechen, daß die Fachleute sagen, daß ohnehin, langfristig gesehen, bei einer entsprechenden und nicht so falschen Aufklärung, wie sie von Ihnen betrieben wird, nur mit einer Inanspruchnahme von 30 bis 40 % zu rechnen sei. Ich wiederhole noch einmal das Argument des Kollegen Dr. Götz — ich habe es auch am 20. September hier gesagt —: In Schweden gibt es bei einem gleichen Modell eine Inanspruchnahme von 5 bis 10 %, und dort gibt es eine Beobachtung über mehrere Jahrzehnte.
Ein anderes Argument muß ich einfach noch einmal wiederholen. Sie wollen dem älteren Bürger gar keine Entscheidungsfreiheit lassen. Sie wollen den älteren Bürger gängeln, und Sie wollen ihm irgendwo am grünen Tisch vorschreiben, er sei gesund oder er sei nicht gesund. Mir ist klar: die Sozialdemokratie muß zu einer solchen Überzeugung kommen; das entspricht ihrem — wenn Sie so wollen — sozialistischem Weltbild. Was ich nicht verstehe, ist, daß die Freie Demokratische Partei sich diesem Bürokratismus anschließt.
Das ist mir vor allem auch deshalb unverständlich, weil der Kollege Mischnick — ich will ihn jetzt einmal loben, sonst tue ich das nicht, Herr Kollege Mischnick — während der Beratungen, als wir die 0,4 % Prämie pro Monat für diejenigen, die über das 63. Lebensjahr hinaus weiterarbeiten wollen und die Rente nicht in Anspruch nehmen, vorgesehen haben, eine „degressive" Steigerung der Prämie vorgeschlagen hat. Das heißt, im Grundsatz haben Sie sich unseren Argumenten angeschlossen, daß derjenige, der bis zum 65. oder 67. Lebensjahr weiterarbeiten will, dafür auch eine Prämie haben soll. Jetzt schließen Sie sich dem sozialistischen Weltbild der Koalitionsfraktion der SPD an, und ich kann mir nicht ersparen, Ihnen das hier deutlich unter die Weste zu reiben. Sozialistisch ist das
— das hat mir soeben ein Kollege zugerufen —, aber sozial ist das, was Sie hier treffen, auf gar keinen Fall.
— Herr Kollege Wehner, ich habe mir vorgenommen, bei Ihren Zwischenrufen viel Nachsicht zu üben. Ich möchte Ihre Gesundheit nicht noch mehr strapazieren,
als sie ohnehin schon aus Ihren eigenen Reihen strapaziert wird.
690 DM pro Monat darf also jemand, der 63 Jahre alt geworden ist und Rente bezieht, künftig verdienen. Können Sie mir einmal sagen, meine Damen und Herren, woher Sie insbesondere in den strukturell vernachlässigten oder schwachen Gebieten, aber auch in den industriellen Ballungsräumen Teilzeitarbeitsplätze bekommen, auf denen diejenigen, die Rente beziehen, für 690 DM monatlich arbeiten können? Solche Teilzeitarbeitsplätze gibt es in den ohnehin schon benachteiligten strukturgefährdeten Gebieten der Bundesrepublik nicht. Durch diese Ihre Regelung schädigen Sie die ohnehin schon sozial schlecht Gestellten außerdem noch.
Meine Damen und Herren, die Weiterarbeit derjenigen, die knapp 35 Versicherungsjahre hinter sich gebracht haben und eine Rente beziehen, die in der Gegend von 500 DM liegt, hat für die Familien eine große Bedeutung, in denen der Mann stirbt und die Witwe mit 60 % der Rente zurückbleibt. Das heißt, die Inanspruchnahme wird unter Berücksichtigung der künftigen Witwenrente geringer sein. Die Witwenrente also solche wird durch die Prämie höher. Damit wird hier auch ein sozialer Beitrag geleistet.
Schließlich darf ich das Argument, daß der Herr Kollege Härzschel hier gebracht hat, noch einmal aufgreifen. Sie machen sich Gedanken und Sorgen
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um den 63jährigen; der soll aus gesundheitlichen und humanitären Gründen nicht weiterarbeiten. Aber ab 65 ist Ihnen das völlig egal; da ist also die Gesundheit wiederhergestellt, und dann kann er weiterarbeiten.
Hier liegt, meine Damen und Herren, ein Bruch in Ihrer Überlegung. Ihre Überlegungen sind unsozial, und daher lehnen wir diese Ihre Forderung der Abschaffung der Prämie ab.