Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir haben diese Große Anfrage seinerzeit gestellt, um zu erfahren, wie die Bundesregierung ihrerseits die Lage der mittelständischen Wirtschaft beurteilt und welche Erkenntnisse sie aus diesem Lagebericht zu ziehen beabsichtigt. Ich meine, daß es nötig ist, zu Anfang etwas klarzustellen, um Mißdeutungen auszuschließen. Die mittelständische Wirtschaft ist ein bedeutender Teil der Gesamtwirtschaft, dem 60 O/o der in Lohn und Brot stehenden Menschen ihre berufliche Existenz verdanken. Dieser Teil ist wie jeder andere Teil der deutschen Wirtschaft dem Strukturwandel unterworfen. Er hat sich in diesem Strukturwandel bewährt. Er hat bei der Anpassung an den Strukturwandel keine staatliche Hilfe bekommen, sondern aus eigener Kraft diese Leistung vollbracht. Hier sind also die Selbsterhaltungskräfte der Wirtschaft noch voll funktionsfähig.
Ich möchte unterstreichen, daß es uns zu keiner Zeit darauf ankam, etwa einer Politik das Wort zu reden, die von Subsidien oder von einem Protektionismus ausgeht. Wir meinen, daß die Marktwirtschaft die optimale Form für den Verbraucher und für den Erzeuger ist.
Wir haben die Große Anfrage auch eingebracht, weil sich die wirtschaftliche Lage im Bereich der mittelständischen Wirtschaft in der letzten Zeit in besorgniserregender Weise verändert hat. Alle Warnungen, die wir hier bei den vielfältigen wirtschaftspolitischen Erörterungen ausgesprochen haben, werden jetzt durch den Sachverständigenrat bestätigt. Jetzt befinden wir uns in diesem Teufelskreis oder in dieser, wie der Sachverständigenrat sagt, Dilem-
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masituation, weil man uns keine Aufmerksamkeit schenkte.
In ihrer Antwort auf die Große Anfrage geht die Bundesregierung auf die wesentlichen Fragen nicht ein. Ich werde gleich im einzelnen ausführen, daß sich die wirtschaftliche Lage in sehr besorgniserregender Weise entwickelt hat. Aber das ist nicht das einzige, was zur Sorge Anlaß gibt. Hinzu kommen jene Belastungen der mittelständischen Wirtschaft, über die im Augenblick in aller Breite diskutiert wird; hinzu kommt das Wirken jener Kräfte, die eine andere soziale Struktur unserer Gesellschaft w ünschen. Anlaß zur Besorgnis gibt z. B. die Entwicklung in der Sozialdemokratischen Partei. Die wirtschaftsfeindlichen Kräfte in unserem Lande finden Auftrieb, wenn jene Steuerpläne verfolgt werden, die unter Führung des Kollegen Eppler entwickelt worden sind, der eine Kuh melken möchte, von der wir wissen, daß sie zunächst einmal Gefahr läuft, an Auszehrung dahinzusiechen. In der Fachpresse ist darauf hingewiesen worden, daß sich der Bundeskanzler den radikalen Beschlüssen auf dem Parteitag der SPD nicht widersetzen konnte. Man schrieb, das sei der Brückenzoll zur Egalité, der wie das schräge Messer einer Guillotine über den Häuptern gerade der Bezieher mittlerer Einkommen schwebe.
Um klarzumachen, wie die Lage beurteilt wird, möchte ich einige führende Persönlichkeiten aus dem Bereich der mittelständischen Wirtschaft zitieren.
Der Generalsekretär des Zentalverbandes des Deutschen Handwerks, Herr Kübler, hat gesagt, Mißtrauen, Unsicherheit und Resignation seien heute in seinem Bereich das Charakteristikum,
und zwar nicht nur wegen der schlechten Ertragslage, sondern auch wegen der Fülle von Plänen, die stets im Raum der Utopie schwebten, die aber jetzt durch eine besondere Form der Kanalisierung offenbar auch zum Parlament Zugang gefunden hätten.
Der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer, Fertsch- Röver— der nicht unserer Partei angehört —, hat gesagt, Unruhe und Unsicherheit seien die Zeichen, unter denen die Wirtschaft jetzt deutlicher als vorher leben müsse.
Ein letztes Zitat. Herr Conzen, der Präsident der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels, hat beschwörend gefragt, ob man denn bereit sei, die Prognose des Bundeswirtschaftsministers, bis 1985 würden 25 % der Unternehmer im mittelständischen Bereich ausscheiden, mit Lethargie und Fatalismus hinzunehmen. Conzen hat folgende beängstigende Fakten herausgestellt: leergefegter Arbeitsmarkt, Lohn- und Kostenexplosion, Währungsdurcheinander, Inflationsrate, dazu mangelnder, ja abnehmender Leistungswille, Verteufelung des ethischen Wertes der Arbeit.
Meine verehrten Damen und Herren, Sie werden verstehen, daß uns auf diesem Hintergrund die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage zu selbstgefällig erscheint; denn die Bundesregierung verschweigt die Auswirkung ihrer konjunkturellen Wechselbäder auf die Wirtschaft. Die Bundesregierung unterstellt zwar — sie befindet sich darin mit uns in Übereinstimmung , daß die beste Voraussetzung für die Leistungsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen eine stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik ist. Sie hätte nur hinzufügen müssen: das ist uns aber nicht gelungen.
Wir müssen zunächst einmal beklagen, daß, weil es diese stabilitätsorientierte Politik nicht gegeben hat und die Bundesregierung nicht den Mut hatte, das Gesetz zur Förderung von Stabilität und Wachstum anzuwenden, die Bundesbank wieder der einzige Hüter der Stabilität war. Aber welches Ergebnis hatte das für die mittelständische Wirtschaft? Durch die Hochzinspolitik sind erneut Wettbewerbsverzerrungen eingetreten;
denn der mittelständische Unternehmer konnte sich nicht auf dem EURO-Markt bedienen, dahin ist der große gegangen. Am Rande sei allerdings erwähnt, daß die Verschuldung im Ausland, zum Teil eine kurzfristige Verschuldung, der deutschen Wirtschaft von insgesamt 30 Milliarden DM uns bedenklich stimmt. Ich meine, man sollte im Hinblick auf die Verflechtung zwischen der mittelständischen Wirtschaft und der Gesamtwirtschaft verstehen, daß dieses auch den Mittelstand mit Sorge erfüllt.
Die Bundesregierung geht in ihrer Antwort nicht auf das Problem der Investitionsfinanzierung ein. In besorgniserregendem Maße hat sich der Geldwert verschlechtert. Das bedeutet, daß heute die Abschreibungen nicht mehr ausreichen, um die Investitionen zu verdienen;
d. h. es müssen neue Wege für die Investitionsfinanzierung gesucht werden. Hierüber spricht die Bundesregierung nicht. Wir haben dazu einige Vorschläge zu machen.
Wir hatten gehofft, daß die Bundesregierung auf die prekäre Ertragslage einginge; sie hat es nicht getan. Wir haben gefragt: wie wirkt sich die Lohnfortzahlung für die Arbeiter im Krankheitsfalle aus und wie wirkt sich die Mehrbelastung nach dem Zweiten Krankenversicherungsänderungsgesetz aus? Wir haben diese Frage nicht gestellt, um diese Maßnahmen etwa rückgängig zu machen. Das möchte ich hier ganz klar und deutlich unterstreichen. Aber wir wollten festgestellt sehen, wie groß die Leistungsfähigkeit der mittelständischen Wirtschaft im sozialpolitischen Bereich ist und wo die Grenze der Belastbarkeit liegt — ein Thema, das bei der Steuerreform erörtert werden muß.
Die Bundesregierung hat gemeint, man könne nicht auf eine effektive Verminderung der Unternehmenserträge schließen. Ich frage mich, ob die Bundesregierung nicht zur Kenntnis genommen hat, daß die Ertragsteuern ständig zurückgehen.
Aber nun zu der Frage der Belastung im besonderen. Die Bundesregierung führt aus, daß die Ge-
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samtbelastung durch die Einführung der Lohnfortzahlung 6 Milliarden DM betrage; nach den Steuern liegt sie nach Meinung der Regierung bei 3,5 %. Diese Zahlen treffen nicht zu. Nach einer Rechnung, die von einem anerkannten Institut auf der gleichen Grundlage erstattet worden ist, wissen wir, daß die Belastung der Betriebe bei 8,2 Milliarden DM lag, d. h. einer Belastung der Bruttolohnsumme von 5,6 %. Wenn Sie das gleiche Schema wie die Bundesregierung anwenden und die Steuern in Abzug bringen, kommen Sie immerhin noch auf eine Belastung, die wesentlich höher ist als die, welche die Bundesregierung angegeben hat.
Besonders leicht hat es sich die Bundesregierung bei ihrer Antwort auf unsere Frage nach der Kostenexplosion und der Gewinnkompression gemacht. Die Bundesregierung sagt: Von einer negativen Ertragsentwicklung kann nicht gesprochen werden. Das kann man nur sagen, wenn man sich seit einigen Monaten in der Lektüre der Tageszeitungen zurückgehalten hat; denn allein schon dort hätte man ein anderes Bild erhalten können. Im übrigen sagt die Bundesregierung — und ich finde das geradezu köstlich —, die Ertragslage der mittelständischen Unternehmer hätte sich gleich gut entwickelt wie die der Großunternehmen. Dazu kann man nur sagen, das ist ein ganz schlechter Trost; dann müßte man sagen „gleich schlecht", denn zu sagen „gleich gut" ist wohl ein Hohn.
Wie sieht es nun in Wirklichkeit aus? Ich beziehe mich jetzt auf die Quellen des Industrieinstituts und anschließend auf die Angaben, die der Einzelhandel macht. Berücksichtigt man den kalkulatorischen Unternehmerlohn, dann sind im Jahre 1970 die Unternehmensgewinne zurückgegangen, und zwar um 6,5 %. Dagegen stiegen im Jahre 1970 die Lohnstückkosten in der Industrie um 14 %, gesamtwirtschaftlich um 11 %. Diese allgemeinen Aussagen decken sich aber nicht mit der besonders schlechten Ertragslage beispielsweise im Einzelhandel. Der Facheinzelhandel, der bekanntlich immer noch sehr gut im Rennen liegt, hat heute, gemessen an den Umsätzen beispielsweise des Jahres 1962, einen erheblichen Rückgang des Reingewinns zu verzeichnen. Seinerzeit betrug die Ertragsquote noch um 7,3 % des Umsatzes, im Jahre 1970 etwas über 6 1)/10. Dabei ist darauf hinzuweisen, daß das Vergleichsjahr ein Rezessionsjahr war. Wenn man nun aber die Verzinsung des Eigenkapitals und den Unternehmerlohn mit berücksichtigt — und das muß man ja tun —, dann kommt man nach Auffassung des Einzelhandels zu einem betriebswirtschaftlichen Ergebnis im Einzelhandel, das unter 1 % liegt. Das zeigt die Dilemmasituation in der wir uns befinden. Die mittelständische Wirtschaft — wir haben es gesagt — ist anpassungsfähig. Sie hat schwere Zeiten überlebt, und ich nehme an, sie wird durch ihre Anpassungsfähigkeit die derzeitige Wirtschaftspolitik ebenfalls überleben. Sie hat den Strukturwandel aus eigener Kraft bewältigt, und sie ist heute in sehr starkem Maße als Zulieferer für die Großwirtschaft tätig. Hier zeigt sich die enge Verflechtung der Wirtschaft, und daraus resultiert, daß man die einzelnen Bereiche nicht auseinanderhalten kann.
Ich darf einige Beispiele geben. Nach den neuesten Erhebungen, die Professor Albach von der Universität Köln angestellt hat, ist die Zahl der Zulieferer bei Mercedes-Benz aus dem Bereich des Mittelstandes von 14 000 im Jahre 1954 auf 17 000 im Jahre 1970 gestiegen, bei BASF sind es 10 000, bei Mannesmann
14 000, bei Siemens 30 000. Das zeigt, daß der Mittelstand immer wieder neue Wege sucht, um sich zu behaupten, daß er — das muß man sagen auch in der technischen Entwicklung eine hervorragende Rolle spielt. Wir wissen aus Berichten aus den Vereinigten Staaten, daß im Bereich der Innovation die meisten Ideen aus dem Bereich der mittelständischen Wirtschaft kommen, und auch die Europäische Kommission hat festgestellt, daß gerade in bezug auf die Innovation im Bereich der Industrie die mittelständische Wirtschaft von besonderer Bedeutung ist.
Die Bundesregierung hat nun gesagt, dieser gesamte Bereich sei von einer Ertragsschmälerung in keiner Weise betroffen. Ich möchte dem entgegenhalten, daß selbst der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes vor einiger Zeit im ZDF erklärt hat, daß die Gewinne eingeschränkt worden sind, und die Bundesbank — das sollte uns zu denken geben — hat folgendes deutlich gemacht: Hält die Tendenz zur Gewinnminderung aber länger an und verschärft sie sich sogar, dann wird die Investitionsneigung der Unternehmer stärker und nachhaltiger beeinträchtigt, und das muß zwangsläufig Folgen für die Beschäftigungslage haben. Das ist unsere große Sorge.
Wir haben in der Antwort der Bundesregierung auf unsere Frage Nr. 4 hören müssen, daß es keine Verminderung der Unternehmenserträge durch Belastungen aus der sozialen Gesetzgebung gebe. In Punkt 8 sagt allerdings die Regierung, daß es eine zeitweilige Gewinnminderung geben könnte. Aber was sie nun empfiehlt, das, muß ich sagen, grenzt an Zynismus angesichts der Ertragslage in der Wirtschaft. Die Regierung empfiehlt, nötigenfalls auf Reserven zurückzugreifen.
Sie sagt, erst dann würde sich herausstellen, ob existenzgefährdende Substanzverluste eingetreten seien.
Meine Damen und Herren, wie steht es denn mit den Rücklagen, mit den Reserven, von denen die Regierung spricht? Wir haben durch die Wissenschaftliche Abteilung des Bundestages, der Dank dafür gebührt, einmal feststellen lassen, wie hoch die Rücklagenquote ist. Man ist zu dem Ergebnis gekommen, daß sie bei den Großgesellschaften etwa
15 % der Bilanzsumme beträgt. Das ist nicht üppig, aber immerhin. Bei den Personengesellschaften beträgt diese Quote jedoch weniger als 2 %, und bei den Einzelkaufleuten ist sie noch geringer. Wie man angesichts dieser Situation den Unternehmern empfehlen kann, sie mögen auf ihre Reserven zurückgreifen, ist unverständlich. Man kann seine
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Substanz nicht verzehren müssen, nur weil die Konjunkturpolitik der Regierung nicht stimmt.
Wir haben fernerhin festzustellen, daß als Ergebnis dieser konjunkturpolitischen Wechselbäder dieser Regierung nicht nur die Ertragslage sich verschlechtert hat, sondern daß auch die Zahlungsschwierigkeiten zunehmen und daß vielen bereits der Atem ausgegangen ist. Im Jahre 1970 war ein Anstieg der Konkurse um nahezu 9 % zu verzeichnen. Die Zahlungseinstellungen im Dienstleistungsgewerbe und im Handel sind überdurchschnittlich groß. Die Zahl der Konkurse im Einzelhandel hat sich bedauerlicherweise um 18 % erhöht. Wenn Sie die neuesten Ergebnisse der Entwicklung im Jahre 1971 betrachten, die das Statistische Bundesamt nachgeliefert hat, stellen Sie fest, daß sich die Konkursstatistik noch wesentlich verschlechtert hat.
Als Grund für diese negative Entwicklung gibt das Statistische Bundesamt die erheblich verschlechterte Ertrags- und Liquiditätslage der Unternehmen an und, damit zusammenhängend, harten Wettbewerbsdruck auf allen Märkten, hohes Zinsniveau, sinkende Rendite, steigende Löhne. Hier beginnt ein Ausleseprozeß, der nicht mehr mit dem Marktgeschehen zu rechtfertigen ist, sondern der zu einem unwiederbringlichen Substanzverlust führt. Als wir bei unserem Mittelstandskongreß darauf hinwiesen, hat die Regierung das als Polemik abgetan.
Aber die Wirtschaft leidet nicht nur unter dem Sinken der Erträge. Wir haben festzustellen, daß das Nachwuchsproblem — darauf wird hier im einzelnen noch eingegangen — immer gravierender wird. Auch dies ist nach meiner Auffassung das Ergebnis einer systematischen Verketzerung der gewerblichen Ausbildung. Wir wollen den Ausbau der Universitätsausbildung und ihre Förderung. Aber das bedeutet doch nicht, daß man im gewerblichen Bereich die Ausbildung vernachlässigen kann.
Denn wohin kommen wir, wenn im mittleren Bereich niemand mehr da ist, wenn z. B. niemand mehr unsere Dächer deckt? Wenn man einmal die zukunftsorientierten Handwerke heraussucht, Bauschlosser, Maurer, Dachdecker, Straßenbauer — also alles Sparten, die auch in einer dynamischen Gesellschaft eine Aufgabe wahrzunehmen haben —, und feststellt, daß dort die Leerquoten bei den ausgewiesenen Lehrstellen zwischen 60 und 75 % liegen, fragt man sich: Wer soll hier in der Zukunft eigentlich noch das Rückgrat der deutschen Wirtschaft bilden, wenn dieser Mittelbau, der uns gerade in eine günstige Situation gebracht hat, heute systematisch ausgezehrt wird?
— Die Verketzerung? Nein, die gibt es schon lange von Ihrer Seite.
Was uns besonders besorgt, weil wir Mittelstandspolitik immer als eine Politik der Produktivitätssteigerung betrachtet haben, ist der besorgniserregende Rückgang der Produktivität in Deutschland. Er hat im Jahr 1970 den niedrigsten Stand seit 1956 erreicht; er beträgt nur noch 2 %. Wir sind das Schlußlicht in der Produktivitätssteigerung geworden. Das stimmt uns bedenklich.
In diesem Zusammenhang müssen wir deutlich machen, daß die Bundesregierung nichts getan hat, um die Produktivität zu steigern und anzuregen. Im Gegenteil, sie hat eine Blockade für den Produktivitätsfortschritt verhängt. Die Haushaltsansätze, die der Steigerung der Produktivität dienen — Entwicklung der Forschung, Innovation, ja sogar die Gewerbesteuer —, wurden durch den Haushaltsführungserlaß vom 5. März zunächst erheblich reduziert. Erst unter dem massiven Druck der Opposition und der öffentlichen Meinung hat man hier dann eine andere Politik eingeschlagen. Es ist bedauerlich, daß die Bundesregierung immer dann den Rotstift anzusetzen bereit ist, wenn es um zukunftsorientierte Maßnahmen geht.
Meine Damen und Herren, wenn gefragt wird, was die Bundesregierung für die Mittelstandspolitik unternimmt, dann kann man hier den Bundeskanzler zitieren. Er hat vor dem Zentralverband des Deutschen Handwerks mitgeteilt, daß in diesem Jahr 1 Milliarde DM für zinsverbilligte Kredite ausgegeben wird. Das ist in der Tat sensationell. Dabei muß man nur sagen, daß es eine Maßnahme ist, die es eigentlich immer gegeben hat. Die Hälfte trägt die Bundesanstalt für Wiederaufbau. 360 Millionen DM kommen aus dem ERP-Vermögen. 140 Millionen DM tragen die Länder. Den Rest trägt die Bundseregierung; und diese wollte davon noch einen Teil einbehalten.
Im übrigen hat der Herr Bundeskanzler — ich kann das verstehen; er muß ja auch deutlich machen, daß sein Herz für den Mittelstand schlägt — auch gemeint, daß zur Förderung der beruflichen Ausbildung jährlich 1 Milliarde DM ausgegeben werden. Damit hat er völlig recht. Aber die Bundesregierung hat damit nichts zu tun; denn das Geld kommt von der Bundesanstalt aus Nürnberg.
Ich habe auf die schrumpfenden Gewinne hingewiesen. Ich habe darauf hingewiesen, daß in den Unternehmen angesichts der Steuerpläne, die ich hier skizziert habe, die Resignation wächst und daß eine Verbesserung der Eigenkapitalbildung angesichts der Ertragsentwicklung nicht möglich ist, so daß man mit Sorge in die Zukunft sehen muß. Hinzu kommt, daß für Nettoinvestitionen — auch das muß einmal gesagt werden — noch im Jahre 1967 von 100 DM 33 DM auf dem Kreditweg beschafft werden mußten. Heute beläuft sich dieser Betrag auf 59 DM.
Angesichts dieser Situation ist der Expansionsspielraum in diesem Bereich der Wirtschaft natürlich außerordentlich eng gezogen. Wir wissen schon seit langer Zeit, daß sich die Eigenkapitalquote verschlechtert hat. Aber es gibt keine Reaktion seitens der Regierung.
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Der Eigenkapitalanteil in der Wirtschaft geht ständig zurück. Unsere internationalen Wettbewerber befinden sich hier in einem Vorteil. Wir können sagen, daß wir deshalb im Schnitt wesentlich schlechter gestellt sind, weil das Eigenkapital in anderen Staaten — Holland, England usw. — das Anlagevermögen immerhin noch um 20 % überschreitet. Bei uns haben wir einen Verschuldungsgrad von etwa 60 % festzustellen. Die Bundesregierung hat keinerlei Auskünfte darüber gegeben, was sie zu tun gedenkt, um die Investitionsmöglichkeiten zu verbessern.
Unsere Wirtschaft ist überwiegend mittelständisch strukturiert. Das hat nicht nur eine Bedeutung für die im Wettbewerb befindlichen mittelständischen Unternehmen, sondern es spielt für die Volkswirtschaft insgesamt eine Rolle. Wenn in Großbritannien, den Vereinigten Staaten, Frankreich immer wieder strukturelle Schwierigkeiten für eine negative wirtschaftliche Entwicklung wesentlich ausschlaggebend sind, dann liegt das nicht primär daran, daß die betreffenden Regierungen nicht über nötiges Instrumentarium verfügten, sondern an der mangelnden Preisbeweglichkeit, an der mangelnden Mobilität der Arbeitskräfte, also an jenen spezifischen Funktionen, die bei uns die mittelständische Wirtschaft wahrzunehmen in der Lage ist.
Meine Damen und Herren, entscheidend für die Wiederherstellung des Vertrauens — und ich glaube, daß wir uns in einer Vertrauenskrise befinden — ist eine stetige, eine stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik der Regierung. Deshalb müssen klare Entscheidungen mit folgenden Schwerpunkten getroffen werden:
Erstens. Bei einer Steuerreform müssen die Prinzipien der Leistungsgerechtigkeit beachtet werden, d. h. die Besteuerung muß an der Leistungsfähigkeit und der Wettbewerbsneutralität ausgerichtet sein.
Zweitens. Bei der Novellierung der Mehrwertsteuer ist zumindest die Kleinbetriebsregelung systemgerecht umzugestalten und in ihrer Größenordnung den geänderten Verhältnissen anzupassen.
Mehr kann man angesichts dieser vertrackten Finanzlage, in die uns die Regierung gebracht hat, in bezug auf eine Mehrwertsteuerreform nicht erwarten.
Drittens. Durch geeignete steuerliche Maßnahmen — und dazu werden wir einen Gesetzentwurf einbringen — muß die unzureichende Eigenkapitalbildung der mittelständischen Wirtschaft verbessert werden, damit die Leistungsfähigkeit dieses wichtigen Bereiches ausgebaut und gestärkt wird.
Viertens. Die Gewerbesteuerreform darf nicht ad calendas graecas verschoben werden.
Fünftens. Die Bildungspolitik muß der beruflichen Aus- und Fortbildung endlich die nötige Priorität einräumen.
Sechstens. Die Gewerbeförderung muß als zukunftsorientiertes Instrumentarium bedarfsgerecht ausgebaut werden.
Siebtens. Die Bundesregierung muß von ihrer Ankündigung, Strukturpolitik aus einem Guß zu betreiben, endlich einmal nicht nur reden, sondern sie verwirklichen.
Abschließend darf ich folgendes sagen. Für uns sind die mittelständische Wirtschaft und die leitenden Angestellten die Avantgarde des Fortschritts. Die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte hat die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft ständig weiter gestärkt, aber auch die Ansprüche an Staat und Gesellschaft ungewöhnlich steigen lassen. Leider gibt es Vorstellungen vom Fortschritt, die dahin gehen, daß sich dieser automatisch entwickeln könne und daß man ohne eigene Leistung an ihm partizipieren könne. Die Leistungsunwilligkeit nimmt in Deutschland leider zu.
Deshalb ist es erforderlich, alle Anstrengungen zu unternehmen, um die Leistung wieder zu fördern, denn sie sichert wirtschaftlichen Fortschritt und ist die Basis des sozialen Rechtsstaates. Leistungsprinzip, Leistungsgesellschaft und Leistungsgedanke werden in Frage gestellt. Zwar möchte niemand auf die Früchte der Leistungsgesellschaft verzichten. Es besteht die Gefahr, daß sich unsere Leistungsgesellschaft zu einer Anspruchsgesellschaft entwickelt. Hier liegt nach meiner Auffassung die Hauptgefahr für den sozialen Rechtsstaat, der sicherlich Mängel hat, der aber immerhin noch die optimale und humanste Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist.
In dieser Gesellschaftsordnung ist die mittelständische Wirtschaft ein wichtiger Faktor. Und gerade weil mehr Ansprüche an den Staat gestellt werden, muß die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft gesteigert werden. Dazu brauchen wir wieder eine gesunde Basis für eine langfristige, optimale Entwicklung. Das heißt, das Hauptziel muß die Wiederherstellung einer gesunden wirtschaftlichen Basis sein. Das wäre der beste Beitrag für eine zukunftsorientierte Mittelstandspolitik.