Rede von
Dr.
Franz Josef
Strauß
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf meine Ausführungen zur dritten Lesung mit einer ganz einfachen Frage einleiten: Warum eigentlich die dramatische Aufführung einer Sondersitzung des Bundestages?
Was hat sich, seit das Parlament in Urlaub gegangen ist, an der Konjunktursituation geändert? Konnte man nicht rechtzeitig das Richtige tun, und muß man hier in dieser Weise verfahren, um eines zu beweisen, verehrter Herr Bundeskanzler: daß dieser Staat noch nie so schlecht regiert worden ist wie in den letzten acht Monaten?
Ich darf zur Debatte von gestern noch einige Anmerkungen machen. Sie haben gestern bestritten, Herr Bundeskanzler, daß man vor den Landtagswahlen vom 14. Juni Steuersenkungen versprochen habe. Sie haben eine beabsichtigte Frage des Kollegen Stücklen nicht zugelassen. Was war denn in der Regierungserklärung zu lesen? Was ist denn in den darauf folgenden Monaten laufend versprochen worden? Was ist denn im Finanzausschuß am 6. Juni passiert? Da hat der Kollege Pohle den Antrag gestellt, dieses Gesetz über die Verdoppelung des Arbeitnehmerfreibetrages und den stufenweisen Abbau der Ergänzungsabgabe wegen seiner konjunkturpolitischen Unmöglichkeit zurückzustellen und im Herbst noch einmal darüber nachzudenken. Da sind wir doch mit 17 : 16 Stimmen niedergestimmt worden.
Mit 17 : 16 Stimmen niedergestimmt worden. Aber das waren eben acht Tage vor den Wahlen vom 14. Juni. Am 19. Juni ist dieser Gesetzentwurf doch infolge des Antrags der Bundesregierung auf die Tagesordnung gesetzt worden. Und am 19. Juni hat der dafür an sich — so darf ich sagen — nur in Mini-Kompetenz zuständige Bundeswirtschaftsminister den Antrag gestellt, diesen Gesetzentwurf aus genau den gleichen Gründen, die Pohle im Finanzausschuß genannt hat, abzusetzen und die Beratung bis zum Herbst zu verschieben.
Wie können Sie, Herr Bundeskanzler, Glaubwürdigkeit beanspruchen, wenn Sie sagen: Wir haben doch
vor den Wahlen nie Steuersenkungen versprochen!
Wir sind doch auch in diesem Wahlkampf gewesen. Wir haben doch auch die Zwischenrufe gehört. Wir haben doch auch Diskussionen bestritten, und wir haben uns vorwerfen lassen müssen, daß die Regierung dem Arbeitnehmer das berechtigte Geschenk — soziale Symmetrie — des Arbeitnehmerfreibetrags geben wolle und die böse CDU/CSU ihm das offensichtlich nicht gönne. Wochenlang ist man damit durchs Land gezogen, und wochenlang haben wir uns das anhören müssen. Kaum waren die Wahlen vorbei, haben Sie etwas getan, was für Ihr Pflichtbewußtsein spricht, nämlich ganz groben Unfug unterlassen.
Ein weiteres, Herr Bundeskanzler. Sie haben gestern davon gesprochen, daß es in der Nationalökonomie keine naturwissenschaftlichen Gesetze gebe. Die Erkenntnis ist richtig. Herr Kollege Schiller hat zwar mehrere Male ein Kolloquium — wie hieß es damals? — privatissime et gratis angeboten. Ich darf ihm heute Nachhilfeunterricht „publicissime et gratis" erteilen.
Wir haben doch nie mit der blinden Besessenheit von Promille-Gläubigen immer tierumgerechnet mit Zahl, Komma, erste Stelle hinter dem Komma, zweite Stelle auch noch sehr zuverlässig, erst mit der dritten Stelle beginnt die Kraft der Prognostik schwächer zu werden. Es hat doch nie etwas gestimmt, es war doch immer alles falsch, was gesagt worden ist. Man hat 1967 zu optimistisch geschätzt, 1968, 1969, 1970 zu pessimistisch geschätzt. Aber in einem waren wir uns immer sicherer als die Bundesregierung, nämlich im Trend. Noch in der alten Koalition hat man geglaubt, die Konjunktur sei ein schwaches Kind, das gehegt und gepflegt, gehätschelt und gepäppelt werden müßte,
in Wirklichkeit war es schon ein ganz kräftiger Bengel, der das Kinderbett allmählich zerschlagen hat.
Ich könnte darüber noch einige Aussagen machen,
aber besser nicht mehr, weil ich ja nicht politische Archäologie treiben will.
Natürlich gibt es hier keine naturwissenschaftlichen Gesetze, Herr Bundeskanzler. Aber es gibt Gesetze der wirtschaftlichen Vernunft, die von dieser Bundesregierung gröblich mißachtet worden sind.
Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat uns gestern den Ernst der konjunkturellen Lage deutlich zu machen versucht. Sicher war das sehr interessant. Er hat den anhaltenden Nachfrageüberhang in der Wirtschaft, die Lohnkostensteigerungen, die von der Bundesbank als gefährliche Lohnexplosion bezeichnet worden sind, erwähnt. Er hat auch die bekannten Zahlen über die alarmierende Preisentwicklung ohne Beispiel in den letzten 20 Jahren angeführt. Haben denn wir nicht seit Monaten darauf hingewiesen?
3482 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 63. Sitzung. Bonn, Sonnabend, den 11. Juli 1970
Strauß
Ich möchte es einmal sehr deutlich sagen. Die Frage, ob diese Maßnahmen richtig oder falsch sind, stellt sich deshalb nicht, weil es im wirtschaftlichen Ablauf einen Zeitpunkt gibt, bei dem jede Maßnahme richtig und falsch zugleich ist, weil sie nicht mehr greift, weil sie das Unheil nicht mehr zu ändern vermag. Wir haben einen — wenn Sie mir den Vergleich erlauben — aerodynamischen Zustand erreicht, in dem die Wirtschaft ins Trudeln geraten ist und die Betätigung der Ruder nicht mehr den Erfolg herbeiführt, der bei rechtzeitigem Eingreifen todsicher gewesen wäre.
Wir haben damals bei der Regierung keinen rechten Eindruck erweckt, als wir verlangten, zu handeln, und unsere Mithilfe — siehe die Reden des Kollegen Barzel — anboten, so frühzeitig anboten, daß es noch rechtzeitig gewesen wäre. Leider ist das nicht geschehen. Jetzt ist das Parlament in Urlaub gegangen. Nach 14 Tagen kommt die große Erleuchtung. Herr Kollege Schiller, ich möchte es humorvoll sagen — ich habe das letzte Mal die berühmte Geschichte von Ludwig Thoma zitiert —: Offensichtlich ist jetzt der Dienstmann mit der göttlichen Erleuchtung bei der Bundesregierung angekommen.